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Grinin: Wie ein Ministerialbeamter sich nach Liebe und Abenteuer sehnte - und beides bekam
Grinin: Wie ein Ministerialbeamter sich nach Liebe und Abenteuer sehnte - und beides bekam
Grinin: Wie ein Ministerialbeamter sich nach Liebe und Abenteuer sehnte - und beides bekam
eBook287 Seiten3 Stunden

Grinin: Wie ein Ministerialbeamter sich nach Liebe und Abenteuer sehnte - und beides bekam

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Über dieses E-Book

Robert Runge ist Beamter im Bundesministerium der Finanzen. Er arbeitet so viel, daß wenig Zeit fürs Privatleben bleibt. Robert leidet zwar nicht darunter, aber eigentlich will er nicht ewig Single sein, und echte Abenteuer bietet selbst der abwechslungsreichste Ministerialdienst nicht.

Robert lernt Claudia kennen, die Persönliche Referentin des Umweltministers, und plötzlich begegnet ihm alles auf einmal: Liebe und Abenteuer, Tod und Gefahr. Ein Minister wird ermordet, die düstere Vergangenheit des Kalten Krieges steht wieder auf, Geheimdienste schlagen zu, und Robert muss retten, was er liebt - und die Welt vor einer furchtbaren Bedrohung schützen.

"Grinin" ist Vieles zugleich: Bürosatire und Kulturkritik an den herrschenden Verhältnissen, bundespolitische Utopie und Röntgenbild der Berliner Republik, Liebesgeschichte und faktenreicher Rückblick auf ein besonders scheußliches Kapitel des Rüstungswettlaufs mit der Sowjetunion, ein Genremix irgendwo zwischen Danny Kaye's "Die Lachbombe" und Alfred Hitchcock's "Der zerrissene Vorhang".
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum2. Apr. 2014
ISBN9783844291179
Grinin: Wie ein Ministerialbeamter sich nach Liebe und Abenteuer sehnte - und beides bekam

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    Buchvorschau

    Grinin - Jürgen Walnshoff

    Cover.jpg

    Grinin

    Wie ein Ministerialbeamter sich nach Liebe und Abenteuer sehnte - und beides bekam

    Roman

    von Jürgen Walnshoff

    Imprint


    Grinin

    Roman von Jürgen Walnshoff

    Copyright: © 2014 Jürgen Walnshoff

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de


    eBook Konvertierung: Marte Kiessling, www.martemarte.de

    ISBN 978-3-8442-9117-9

    1. Kapitel

    Der Dienst

    Sonntag, 2. September, nachts

    Robert drückte den Apatschen runter. Von über dem Höhenanzeiger lächelte ihm ein Traum von Pilotenfrauenbild zu. Auftrag: einen Spähtrupp einsammeln, der für die Terrorabwehr aufgeklärt hatte. Sie näherten sich Tala-Wa Barfak, ab jetzt hieß es vorsichtig sein. Die Aufständischen hatten aus der Gegend eine Wundertüte gemacht. Überall in dem Felsenmeer da unten konnten sie mit einem schweren MG lauern, und Panzerfäuste hatten sie auch genug.

    Er flog die Kampfmaschine, seinen AH 64 ‚Apache‘. Daniel, hinter ihm, flog den Transporter, aber dafür hatte er eine super aussehende Copilotin. Robert klickte Manual Fire an und schaltete damit die Bedienung der Bordwaffen auf sich selbst um. Sein Bordschütze war bloß zur Trimmung gut. Der sah nichts, fand nichts, traf nichts. Lieber selber die Ziele anwählen und bekämpfen, solange die Elektronik funktionierte, auch wenn nur der Bordschütze eine anständige Zielkamera hatte.

    Lo and behold!, da begann es: Aus zwei, drei Kilometern Entfernung räkelte sich ihnen eine grüne Leuchtspurkette entgegen. Da war wohl einer trigger-happy oder Meisterschütze – genau wußte man es immer erst hinterher. Die Leuchtspur schien direkt zwischen Roberts Augen gezielt. Er wußte, das war eine optische Täuschung, aber es wurde Zeit für ein paar Hiphop-Flugmanöver. Er rief über Funk Daniel zu: „Danny, Du links, ich rechts!, schoß vorsorglich eine Runde Magnesiumfackeln und Aluminiumdüppel ab und ließ den Heli wegkippen. Der Bordschütze, der vor ihm und tiefer saß, begann mit unmenschlicher Geschwindigkeit den Kopf immer wieder nach links und nach rechts zu wenden, als geriete er in Panik. „Mein Bordschütze kotzt gleich! Daniel lachte.

    Das Lock-On begann zu piepsen, auf dem Headup-Display wurde mit Raute und Kreis ein Ziel markiert. Robert ließ eine Hellfire los und schaute ihr begeistert nach, auf ihrer eleganten Abwärtskurve. Er griff mit links nach dem Glas und setzte es an, stieß dabei in der Aufregung an sein Bügelmikrofon und goß einen Schwall Weizenbier in die Tastatur. Da würde es nun dunsten und kleben, wenn nicht gar die Tastatur ruinieren, die gute, hintergrundbeleuchtete.

    „Waaah, sapristi!" Daniels Black Hawk war von einer Panzerfaustgranate getroffen worden und sackte wild kreiselnd abwärts.

    „Shit, habe Bier in die Tasten gegossen, machen wir Schluß!"

    „OK, ist eh spät, halt‘ sie unter die Wasserleitung und laß sie trocknen, die sind robust, das wird schon wieder. Tschückes!"

    Es war kurz nach Mitternacht. Sie hatten mehr als drei Stunden verzockt, ein bißchen Nervenkitzel halt, ein wenig Abenteuer-Ersatz in der verwalteten Welt, gegen den niemand etwas einzuwenden hatte, schon gar nicht Frau oder Freundin, denn sie waren beide unbeweibt (was weder Ursache noch Folge der Daddelei war, wie sie einander gelegentlich versicherten). »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Als ein Spiel versuchte Robert auch seine Arbeit im Ministerium zu nehmen.

    Montag, 3. September, morgens

    Da mußte er jetzt wieder hin, denn dieses Spiel endete voraussichtlich erst in 25 Jahren, an der Pensionsgrenze. Der schöne Spätsommermorgen entschädigte ein wenig dafür. Robert radelte durch den Tiergarten, vorbei am Zoo, vorbei an dem riesigen Vogelkäfig, an dem es immer so nach Fisch stank, vorbei am Lamagehege und über den Landwehrkanal Richtung Spanische Botschaft, Großer Stern und Brandenburger Tor. Der Tiergarten war noch menschenleer so früh am Tag. Wo weniger Sonne hinkam, wo es kühler und dunkler war, da roch es schon nach welkem, feuchtem Laub. Bald Herbst, wieder rieselte ihm ein Jahr durch die Finger, über fast jede Stunde hätte er Rechenschaft ablegen können anhand seines Dienstkalenders, und doch waren die Tage und Wochen verflogen wie Spreu. Am Ende des Monats würde sein Resturlaub aus dem vergangenen Jahr verfallen, und selbst wenn er vom diesjährigen Urlaub noch ein paar Tage nahm um Weihnachten und Neujahr herum, selbst dann würde er wieder den größten Teil des Urlaubsanspruchs ins nächste Jahr mitschleppen und im kommenden September einmal mehr in den Schornstein schreiben. Schön blöd.

    Robert war nun gleich da. Er lächelte dem Mann von der Bundespolizei zu, der am Tor Wache hielt, schloß das Rad im Innenhof an und sprang die paar Treppen zu seinem Büro hinauf - lieber nicht den Paternoster nehmen, da traf er zu oft Leute, die ihm die Laune trüben konnten mit Bemerkungen wie: „Ach Herr Runge, Sie haben aber viel geändert an unserem Entwurf, und dabei hatte doch schon mein Referatsleiter so viel neu formuliert... oder „Guten Morgen, Herr Doktor Runge, wir haben Sie gestern Abend vermißt bei dem Museumsbesuch, den der Personalrat organisiert hat. Sie sind doch als Redenschreiber bestimmt auch interessiert an deutscher Geschichte - es war so ein netter Abend!

    Dabei war er eigentlich gar nicht Redenschreiber, das hatte sich bloß so ergeben im Lauf der Zeit. Offiziell war Robert zuständig für „Grundsatzfragen und Planung. So stand es in seinem Kästchen auf dem Organigramm des Ministeriums, so hatte er selber es ausgedacht, und im Geschäftsverteilungsplan waren die drei Worte hintersetzt mit einer Menge Text, der zwischen vage („Themenkoordinierung) und hyperkonkret („Glückwunschbriefe) oszillierte. Es lief darauf hinaus, daß er in jede Sache hineingrätschen durfte, wenn er wollte, und grätschen mußte, wenn der Minister es für nötig hielt. Robert wollte selten („willig immer, freiwillig nie!), sein Minister wollte praktisch bei jeder Gelegenheit.

    Der Herr Bundesminister der Finanzen Dr. Wilhelm Haberer, Spitzname Uhu, weil er wie einer aussah mit seinem herzförmigen Gesicht, dem etwas zu langen schwarzgrauen Haarschopf, der klobigen Brille mit Gläsern wie Flaschenböden und den buschigen Augenbrauen, war im Bundeskabinett ein Proporzgeschöpf, ein studierter Musikwissenschaftler und Bonvivant, der anfangs nicht viel von Finanzpolitik verstanden hatte, der aber als Vorsitzender der kleinsten der die Regierungskoalition tragenden vier Parteien etwas Ordentliches hatte werden müssen, also klassisches Ressort, nicht irgendein Mickey-Maus-Ministerium oder eine Subventionsbude à la Forschung und Technologie. Haberer war in Ordnung, hatte allerdings den Tick, seine Sache ordentlich machen zu wollen, und also war er einerseits als Politiker massiv in allen Kernzuständigkeiten des Hauses unterwegs und litt er andererseits darunter als Mensch, weshalb er das dienstliche Pensum um seine kulturellen Steckenpferde aus Musikleben und Literaturbetrieb ergänzte. Als wäre das nicht genug, mußte er außerdem als Parteivorsitzender in den Koalitionsrunden anwesend und auf Ballhöhe sein, wo jedes erdenkliche politische Thema behandelt wurde, was entsprechende Arbeitsaufträge an die Fachabteilungen (und gern direkt an Robert) nach sich zog. Kurz: Haberer war teils aus Pflicht, teils aus Neigung flächendeckend präsent, schien unter der Woche ohne Schlaf auszukommen und war auf beeindruckende Weise anstrengend.

    Heute war er wieder einmal nicht da, denn es herrschte Wahlkampf. Es war die Zeit, da sich in weiten Teilen des Hauses ein wohliges Gefühl von Unterforderung ausbreitete. Bundestagssitzungen gab es vor der Wahl voraussichtlich keine mehr, die lästigen parlamentarischen Anfragen waren abgearbeitet, die Gesetzgebungsarbeit ruhte, die Regierung konnte allen Umfragen nach gewißlich mit Wiederwahl rechnen, und Haberer wirkte alles andere als amtsmüde und würde wahrscheinlich im BMF weitermachen. Das fanden vermutlich selbst viele Mitglieder der Betriebskampfgruppen (so wurden die diversen Konventikel der Parteimitglieder im Ministerium genannt) der Oppositionsparteien schön, denn so würde der lästige Aufwand entfallen, einen neuen Minister und sein Umfeld einzuarbeiten oder womöglich gar die Haushalts- und Finanz-Utopien einer andersfarbigen Bundesregierung aus dem Ideenhimmel auf den Boden der Tatsachen zu holen.

    Fast das ganze Haus ruhte ein wenig aus. Nur einige Arbeitseinheiten konnten kaum zurückschalten. Die Europa-Abteilung zum Beispiel fuhr nahezu Voll-Last, obwohl Brüssel auf die Parlamentspause und den Wahlkampf in einem so großen Mitgliedstaat ein wenig Rücksicht nahm. Die Rechtsabteilung würgte unverdrossen an den europäischen Vertragsverletzungsverfahren gegen den Bund herum und an den hunderten Gerichtsverfahren im Inland, die dem Sinn des deutschen Steuerrechts auf die Spur zu kommen versuchten. Und auch Robert hatte gut zu tun.

    Denn der Minister hielt in Wahlkampfzeiten mehr Reden denn je, und obwohl die Kampagne vom Parteiapparat gemanagt wurde und in der Parteizentrale Redenschreiber für diese Art von Punch-and-Judy-Show saßen, fuhr Haberer doch jeden Entwurf immer bei Robert vorbei, und er tat recht daran, denn erstens gab es in jeder Wahlkampfrede einen halbamtlichen, die Dienstgeschäfte betreffenden Finanzteil, der stimmen mußte, und zweitens hatte der Herr Bundesminister vermutlich einen gewissen Anspruch darauf, daß er nicht als Parteipolitiker völlig anders klang als in seiner amtlichen Rolle, soweit sich das alles überhaupt so klar trennen ließ.

    Immerhin mußte Robert ihn nicht begleiten, wie zu den vielen Gipfeln und Räten und Konferenzen, auf denen ein Bundesfinanzminister seinen Dienstgeschäften nachgeht. Anfangs war die Reiserei spannend gewesen, schließlich ging es in alle Welt, und es gab manchmal nette Andenken wie zum Beispiel bei einer Konferenz in Jackson Hole, Wyoming, einen maßgefertigten Cowboyhut und handgemachte Cowboystiefel (alles pflichtgemäß dem Personalreferat als Geschenk gemeldet und durch eine persönliche Spende an das Rote Kreuz abgegolten, nur getragen hatte Robert das Zeug dann nie). Obendrein wuchs sich das Tagegeld der Reisekostenerstattung zu einer Art zweiter Ministerialzulage aus. Aber schon bald fühlte sich alles an, als wären sie in eine Zeitschleife geraten: immer dieselben Maschinen der Flugbereitschaft, immer die gleichen Fahrzeugkolonnen und Konferenzsäle und Hotelzimmer und Delegationsbüros, immer die gleichen Nasen in den Delegationen der anderen. Daß da dank Demokratie doch ziemlich viel Fluktuation herrschte, das merkte man nicht gleich, und später vergaß man es wieder, weil der Typus immer derselbe blieb: Anzugmenschen beiderlei Geschlechts, von denen die einen überschwenglich herzlich taten, das waren die Diplomaten, und die anderen Zahlen spuckten, das waren die Finanzer. Im übrigen wenig Abwechslung - hier und da eine fesche Dolmetscherin als Augentrost, manchmal ein Hotelzimmer mit Macken: Einmal, in Südkorea, hatten einige aus der Delegation das Licht in ihren Zimmern nicht ausgekriegt, und andere hatten es gar nicht erst angekriegt; ein verdeckter Intelligenztest vielleicht und jedenfalls ein wenig Gesprächsstoff für den Rückflug.

    Robert durfte also daheim bleiben, in seinem geräumigen, modern eingerichteten Büro mit dem Ölgemälde „Lietzensee" von Akira Nakao und mit Blick auf die Erna-Berger-Straße, wer immer jene Erna gewesen sein mochte. Er redigierte, was seine beiden Referenten und seine Referentin und was der Rest des Hauses zur Veröffentlichung entwarfen, er schrieb einiges auf Vorrat, das dank Dezimalsystem in einigen Monaten gebraucht werden würde, weil runde und halbrunde Gedenk- und Feiertage anstanden, er telefonierte ein- bis zweimal täglich mit Haberer, und er warf seine Abendeinladungen nicht weg, wie sonst immer, sondern suchte sich heraus, was vielversprechend klang.

    Robert war eigentlich kein Auf-Abendeinladungen-Geher. Er fand die Fixkosten zu hoch: bräsige Ansprachen, in den Abend hinein verlängerte Dienstgespräche mit bei solchen Gelegenheiten zahlreich anwesenden Kollegen aus allen Ressorts, Gerangel um ein paar Würstchen und ein schlecht gezapftes Bier. Sein spezielles Abstinenzlertum machte ihn zur Ausnahme, denn wer nicht kleine Kinder hatte oder pflegebedürftige Eltern in Berlin, der ging hin, wenn er es auf eine Einladungsliste geschafft hatte; manche, weil sie Betriebsnudeln waren, andere, weil sie wenig mit sich anzufangen wußten, und wieder andere, weil sie instinktiv oder aus kalter Berechnung netzwerkten, wie das so schön hieß, und zu dem Behufe ihre Körper in möglichst viele Menschenansammlungen trugen. Für solche Leute mußte Robert ein furchtbarer Verschwender sein, eine glatte Fehlbesetzung - qua Funktion im Hause und qua luftigem Standort seines Referatskästchens hoch oben im Organigramm war er ein Muß für jeden Lobby-Verband und jede Landesvertretung, für jede Botschaft und jedes Unternehmen, wenn es ans Listenmachen ging und mehr Gästemasse benötigt wurde als bei wirklich exklusiven Events. Und dann als Eingeladener so wenig Gebrauch davon zu machen! Natürlich fiel seine Abwesenheit niemandem auf, denn wer ihn abends nie sah an den üblichen Wasserlöchern und sich überhaupt Gedanken darüber machte, der vermutete Robert garantiert entweder unter der Schreibtischlampe oder bei einer höherwertigen Veranstaltung.

    Für heute Abend war einladungstechnisch leider fast nichts im Angebot, nur ein Parlamentarischer Abend beim Wehrbeauftragten, hot damn! Zu dem hatte sich anscheinend noch nicht herumgesprochen, daß der Bundestag so gut wie nicht mehr in der Stadt war. Andererseits: „Für Ihr leibliches Wohl ist gesorgt", versprach in schönster Referentenprosa die Einladung, und auf ihrer Rückseite prangten ein Brauerei-Logo und das einer Bio-Fleischerei. Außerdem lag der Veranstaltungsort praktisch auf dem Nachhauseweg, also warum nicht? Apropos Referentenprosa: Angemeldet hätte man sich gehabt haben müssen, um an der Trinkung des Bieres ordnungsgemäß teilzunehmen. Aber so viel wußte selbst Robert: Die Tür weisen würde man ihm nicht.

    Montag, 3. September, nachmittags

    Vor den Wehrbeauftragten hatten die Götter eine hausinterne Besprechung gesetzt: Abstimmung eines Berichtes zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, der an die Europäische Kommission und an das Europäische Parlament gehen sollte und natürlich auch an Bundestag und Bundesrat. Eigentlich waren solche Länderberichte der Mitgliedstaaten Dutzendware und Fleißarbeiten, selbst auf der europäischen Ebene interessierten sich dafür nur wenige. In Deutschland war das momentan anders: Im Wahlkampf eignete sich ein schöner Bericht mit dezentem Selbstlob vorzüglich für eine kleine Pressekonferenz des Ministers über das finanzpolitisch Erreichte. Allerdings mußte Robert ein Auge darauf haben, daß es auch wirklich ein schöner Bericht wurde - die von Koalitionspartnern geleiteten Ressorts würden ihre Schnäbel an dem Entwurf zu wetzen versuchen, schon um ihre eigene Bedeutung zu dokumentieren in Angelegenheiten, von denen sie nichts verstanden; und den eigenen Leuten war oft nur schwer klarzumachen, weshalb sie Deutschland in Euro-Neusprech über den grünen Klee loben mußten, statt bei einem realistischen „befriedigend" bleiben und ein paar anderen Mitgliedstaaten die verdienten schlechteren Zensuren geben zu dürfen.

    Diese Kollegen waren auf sympathische, aber hinderliche Weise ehrlich: Sie wußten, daß die Bundesregierung nicht wirklich energisch sparte und konsolidierte, schon gar nicht in einem wichtigen Wahljahr oder vor einem wichtigen Wahljahr, mit anderen Worten: immer nicht. Und sie wußten, daß manche EU-Mitgliedstaaten wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch fidele Baracken waren, in denen alle anschreiben ließen und am Ende fröhlich krähten: „Sagt den Deutschen, sie sollen Geld bringen, wir wollen zahlen!" Beides wurmte die Aufrechten, aber schreiben durften sie es nicht, und wenn sie es doch taten, kam es nicht durch die Ressortabstimmung. Also, warum nicht gleich darauf verzichten? Oder brauchten sie die wahrheitsgetreue Version, zur Gewissensberuhigung oder zur Bestätigung ihrer Intelligenz?

    Die Sitzung leitete Malke, das war schon mal gut. Ministerialdirektor Dr. Dr. Malke hatte Jura und Wirtschaftswissenschaften studiert, weil er damals kindlich neugierig war und sich nicht ausgelastet fühlte. Er hatte in beiden Fächern promoviert und pflegte sich, wenn er gute Laune hatte, mit „Dr. Dr. Oskar Oskar Malke vorzustellen. Und seine gute Laune wurde von Woche zu Woche stabiler, denn er ging bald in Pension. Den Wunsch des Ministers, noch „ein, zwei Jährchen dranzuhängen, hatte Malke mit wohlgesetzten Worten abgelehnt: höflich, bedauernd, alle Gegenargumente abschneidend, final. Malke wollte sich seinem Garten widmen und seinen Enkeln, die Reihenfolge enthielt eine Wertung. Er wußte, im Ministerium werde es genausogut auch ohne ihn gehen: Jede und jeder waren ersetzbar, und wurden sie ersetzt, so waren sie schnell vergessen. Die Zeiten waren nicht mehr danach, im Steuersystem, im Haushaltswesen oder in der Finanzpolitik Bleibendes zu stiften und historisch zu werden à la Schäffer oder Tietmeyer. Es wurde längst nicht mehr navigiert, es war bloß noch ein Sturz durch die Niagarafälle im zugenagelten Fass - wenig Steuerbarkeit, Ende bestenfalls offen. Malke fand angenehm, daß es für seine Pension aller Wahrscheinlichkeit nach noch reichen würde, jedenfalls wenn er nicht versuchte, die Sterbetafel (die von den Versicherungsunternehmen kalkulierte Tabelle der durchschnittlichen Lebenserwartung) allzusehr zu überbieten. Irgendwann würden der demographische Wandel - ein Rentenberechtigter pro Erwerbstätigem - und die Chinesen - zehn besser ausgebildete, fleißigere und anspruchslosere Konkurrenten pro Erwerbstätigem - das deutsche Wirtschafts- und Rentensystem demolieren. Auch deshalb lernten seine Enkel längst Mandarin. Alles Robert erzählt auf dem Heimflug von einer Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds, in aufgeräumter Stimmung und unter dem Beistand des Cognacs aus der Bordbar...

    Malke verlor keine Zeit. Welche Abschnitte fehlten noch? Welche waren im Haus streitig? Welche Nachfristen waren realistisch, um zu liefern und unstreitig zu stellen? Wer schrieb den Sprechzettel für den Regierungssprecher? Und schließlich: Die Einleitung werde in ihrer jetzigen Form weder das Auswärtige Amt noch das Bundesministerium für Wirtschaft mittragen. Die beiden Absätze oben auf Seite 4 der Einleitung seien zu kritisch einigen südlichen Mitgliedstaaten gegenüber. Solche Werturteile überlasse die Bundesregierung besser der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament. Kaul meldete sich zu Wort: „Ich habe für diese Stelle schon eine neue Passage vorbereitet. Brav. Kaul, von teigigem Aussehen, zu Cord-Jacketts und Alliterationen neigend, um die vierzig Jahre alt und gelegentlich mild nach Ketchup duftend, war hausbekanntermaßen politisch von der Feldpostnummer, die in dieser Legislaturperiode über den Pforten des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für Wirtschaft stand. Er las feierlich einen fast undurchdringlichen Verhau von Text vor, aus dem nur die Bewertung hervorleuchtete, die Bundesregierung begrüße die in allen Mitgliedstaaten erzielten Fortschritte („den Wandel wirksam weiterentwickelt) bei der finanziellen Konsolidierung und der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit. Das war ja nun das andere Extrem und genauso unakzeptabel. Robert verdrehte die Augen, Malke sah es und lächelte fein: „Herr Kollege, ich fürchte, Ihr Textvorschlag löst das Problem nicht. Wir sollten uns mit Werturteilen über andere Mitgliedstaaten generell zurückhalten. Das schließt auch positive Werturteile ein, und damit aus." Hätte gereicht, um den Vorschlag totzumachen. Aber Kaul hatte den Knopf gedrückt, und richtig, Depenhorst wurde gezündet. Robert lehnte sich zurück wie jemand, der eine Opera Buffa ins CD-Fach eingelegt hat, auf Play drückt und weiß: Noch ein, zwei Sekunden Stille, dann geht‘s so richtig los.

    Depenhorst war eigentlich Ungar, das heißt sein Vater war Ungar gewesen, ehe er sich vor dem Gulaschkommunismus in Sicherheit gebracht hatte, ein stolzer Ungar mit einem Namen, den Deutsche weder aussprechen noch buchstabieren konnten. Darum hatte er den Namen der westfälischen Schönheit angenommen, die er sich mit seinem Honvéd-Husaren-Charme eroberte, und nun hieß also Depenhorst junior Depenhorst, sah aber aus wie ein Honvéd-Husar, dunkler Teint, Oberlippenbart und rote Weste inklusive, und hatte Paprika im Blut. Er begann vor Aufregung unter dem Tisch mit den Füßen zu trappeln und sagte nicht ohne Schärfe: „Ich weiß wirklich nicht, warum wir die Wahrheit scheuen sollten. Immerhin sind wir dem Parlament und den Steuerzahlern Rechenschaft schuldig. Von Konsolidierung und besserer Wettbewerbsfähigkeit kann in den Problemstaaten keine Rede sein. Die Strukturreformen kommen überhaupt nicht voran. Selbst was beschlossen wird, bleibt ungetan. Da herrscht eine andere Rechts- und Verwaltungskultur. Das muß auf den Tisch!"

    „Herr Dr. Depenhorst, auf dem Tisch ist es ja nun schon, aber wie gesagt, das machen die Kollegen aus dem AA und aus dem BMWi nicht mit. Das kriegen wir nicht einmal bis in die Staatssekretärsrunde, dafür verkämpft sich unsere Hausleitung nicht, weil es aussichtslos ist."

    Wieder Kaul: „Ich habe meinen Text ein wenig überarbeitet, ich glaube, das könnte nun die Lösung sein." Sprach‘s, und verlas praktisch denselben Verhau, nur die Farbe des Lobes für die Konsolidierungsfortschritte war von Euphoria Rubin auf Euphoria Orange gedimmt. Dafür war jetzt Depenhorst im Gesicht rubinrot, aber nicht vor Euphorie.

    Ehe er etwas sagen konnte: „Wir kommen so nicht weiter, meine Herren. Herr Runge, könnten Sie in Ihrem Referat einen Vorschlag erarbeiten?" Das war erneut der richtige Zug, um aus dieser Sitzung schnell herauszukommen, und todsicher wußte Malke, daß Robert das wußte und außerdem wußte, daß Malke wußte, daß Robert das alles wußte; jedenfalls sahen sie sich in die Augen und lächelten anerkennend. Robert würde die politisch unsagbaren Sätze streichen und die Einleitung mit Versatzstücken aus dem Berichtsteil und mit etwas eigener Lyrik verlängern, möglichst viel umstellen und durchschütteln

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