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Martins Frühling: Als der Krieg zu Ende ging
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eBook261 Seiten3 Stunden

Martins Frühling: Als der Krieg zu Ende ging

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Über dieses E-Book

München im März 1945: Tag und Nacht heulen die Sirenen, feindliche Flieger lassen Bomben auf die Stadt regnen. Inmitten des Kriegsinfernos versuchen Christa und ihr zehnjähriger Sohn Martin so gut es geht zurechtzukommen. Für ihn ist der Krieg trotz aller Gefahren auch ein großes Abenteuer. Doch allmählich beginnt er, seine Brutalität zu begreifen. Als Martin erfährt, dass seine Mutter ihn angelogen und eine heimliche Affäre mit einem französischen Kriegsgefangenen hat, läuft er davon …
Auf eine eindringliche, aber einfühlsame Weise erzählt der Roman von Stärke und Gebrechlichkeit, von menschlichem Mitgefühl und hinterhältiger Grausamkeit, von Hoffnung und Verzweiflung - und von einem Jungen, der inmitten von alldem erwachsen wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberAllitera Verlag
Erscheinungsdatum11. Mai 2015
ISBN9783869067162
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    Buchvorschau

    Martins Frühling - Josef Ebner

    I

    Graf Cagliostro hätte gewusst, was zu tun war. Er hätte an seinem Zauberring gedreht und schon wäre er weg gewesen. Weg aus diesem Luftschutzkeller, weg vom schrillen Pfeifen der Bomben, von den berstenden Explosionen ringsum, die das Haus erbeben und den Putz von den Wänden bröseln ließen. Weg vor allem von der Todesangst, von der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit. Christa Klausen dachte oft an ihn, während sie im trüben Licht der nackten Glühbirnen unten im Keller auf das Ende des Angriffs wartete, unter all den anderen Hausbewohnern, die mit grauen Gesichtern um sie herum auf den Bänken und Stühlen saßen und manchmal leise miteinander sprachen, so als könne zu lautes Reden die Bomben anlocken. Aber leider hatte sie keinen Zauberring, um all das hinter sich zu lassen, um aus dieser Welt, aus dieser Zeit zu entfliehen.

    Graf Cagliostro war Baron Münchhausens Freund und Gegenspieler in dem Farbfilm, den Christa schon dreimal gesehen hatte, und in dem Hans Albers die Titelrolle spielte. Wie der Schauspieler hieß, der den Zaubergrafen verkörperte, hatte sie schon wieder vergessen. Aber das war ja auch nicht so wichtig. Alle anderen Frauen schwärmten für »den blonden Hans«, nur Christa hatte sich in den dunkelhaarigen, so gar nicht arisch aussehenden Cagliostro verguckt. Vielleicht war sie ja nicht ganz normal. In ihrer Fantasie ließ sie ihn sogar manchmal den Platz vom Baron Münchhausen einnehmen, das eröffnete ganz neue Handlungsmöglichkeiten. Allerdings war da in letzter Zeit etwas passiert, das auch Cagliostro in den Hintergrund treten ließ. In Christas Fantasie sah er nun mehr und mehr aus wie Yves.

    Wieder gab es eine Detonation ganz in der Nähe, das schwere Haus, das auf dem Keller lastete, schüttelte sich und knackte, feiner Staub drang aus den Wänden, und dann erlosch das Licht. Eine Frau schrie auf, es waren sowieso fast nur Frauen im Keller, man hörte angestrengtes Atmen, das schnell dumpfer wurde, denn jeder presste das feuchte Tuch, das er für solche Fälle bereithielt, gegen Nase und Mund. Es waren auch mehrere mit Wasser gefüllte Eimer im Raum verteilt. Und vier volle Sandsäcke lagen neben der Tür, eine Handspritze, eine Axt und was sonst noch vorgeschrieben war.

    Christa spürte, dass auch Martin neben ihr zusammengezuckt war. Sie legte den Arm um ihn und zog ihn an sich. Er fühlte sich verkrampft an, aber er sagte nichts. Wahrscheinlich hatte er die Lippen fest zusammengepresst, das tat er immer, wenn er sich unter Druck gesetzt fühlte, sein Mund wurde dann zu einem schmalen Strich. Er tat Christa unendlich leid, sie selbst hatte ja noch eine einigermaßen normale Kindheit gehabt, aber der arme Kerl, den sie da an sich drückte, wuchs unter Bedingungen auf, die sie ihrem schlimmsten Feind nicht hätte zumuten wollen.

    »Na siehst du«, sagte sie, »wieder daneben. Sie schaffen es einfach nicht, unser Haus zu treffen.«

    Martin gab keine Antwort und setzte sich aufrecht hin, dadurch deutlich machend, dass sie ihren Arm von seiner Schulter nehmen solle. Er hatte sich verändert in letzter Zeit, fand sie, er war zurückhaltender geworden, vor allem, wenn sie versuchte zärtlich zu sein. Mehr und mehr schien er sich vor ihr zu verschließen, und das beunruhigte sie.

    Licht flackerte auf, es war Hans Reschke, der Luftschutzwart, der zwei für solche Fälle bereitgehaltene Petroleumlampen entzündete. Im unruhigen gelben Schein sah sie feine Schweißperlen auf seiner Stirn. Weil er vorhin, beim Alarm, noch in seiner dicken grauen Lodenjacke bis hinauf in den fünften Stock gerannt war, um sicherzugehen, dass auch alle Bewohner in den Keller gingen? Oder aus Angst? Man konnte ja an den Führer und den Endsieg glauben und trotzdem Angst haben, die Bomben und die Luftminen scherten sich nicht um persönliche Überzeugungen. Denn Reschke glaubte an den Endsieg. Unerschütterlich. Zumindest tat er so.

    »Der Führer weiß, was er tut«, hatte er erst vor ein paar Tagen versichert, als jemand eine vorsichtige kritische Bemerkung machte. »Der Führer hat das alles mit einkalkuliert, die Wende steht kurz bevor.« Und er hatte drohend hinzugefügt: »Dann werden alle die zur Rechenschaft gezogen, die an ihm gezweifelt haben.«

    Dabei griffen seit dem letzten Frühjahr nicht mehr nur die Briten an, die in der Regel nachts kamen, jetzt erschienen tagsüber die amerikanischen Bomberpulks mit ihren Flying Fortresses und Liberators am Himmel. Vor genau einem Jahr, im März 1943, hatten zum ersten Mal auch am Tag die Sirenen geheult, und seitdem dauerte die tägliche Angst vierundzwanzig Stunden. Ein ganzes Jahr ging das nun schon so, und keiner wusste, wann es aufhören würde. Nicht mehr lange, dachten und hofften die meisten, aber das dachten und hofften sie schon seit Langem. Das Heulen der Sirenen war Teil des täglichen Lebens, so wie die Durchhalteparolen im Radio, die brennenden Häuser und das Schlangestehen vor den wenigen noch nicht zerbombten Läden, um mit den gerade aufgerufenen Lebensmittelmarken etwas Essbares zu ergattern. Zum normalen Leben gehörte auch, dass man fast komplett angekleidet schlief, um beim nächsten Alarm gleich wieder in den Keller rennen zu können, und sich kaum noch wusch, weil es nur stundenweise Wasser gab, manchmal auch nur aus Tankwagen oder am Hydranten, und überhaupt anderes wichtiger war. »Die Amerikaner sollen nur kommen«, hatte Frau Kronawitter vom dritten Stock einmal gesagt, »die stinken wir zur Stadt hinaus.«

    Hans Reschke … Vielleicht bildete sie sich das ja nur ein, aber es kam ihr vor, als beäugte er sie in letzter Zeit besonders misstrauisch. Ob er Yves gesehen hatte, vor drei Tagen? Es war ja auch ziemlich ungewöhnlich, wenn einem ein französischer Kriegsgefangener gegen Abend einen kleinen Sack Kartoffeln in die Wohnung bringt. Er hatte sich in der Großmarkthalle verspätet, war mit dem dreirädrigen Goliath-Lieferwagen auf dem Rückweg zur Gärtnerei gewesen und hatte kurz bei ihr gehalten. Er war nicht lange geblieben, nur ein paar Minuten, auch Martin war da gewesen, und Christa hatte ihm nachher eingeschärft, niemandem etwas von diesem Besuch zu erzählen, Yves würde sonst große Schwierigkeiten bekommen. Martin verstand das, er kannte Yves, hatte ihn schon mal in der Gärtnerei gesehen und sogar ein wenig mit ihm geredet. Wenn Christa ihren zehnjährigen Jungen so ansah, wusste sie nicht, wovor sie mehr Angst hatte: dass er dahinter kam, was passiert war – oder Hans Reschke.

    »Ich habe dir etwas mitgebracht«, hatte Yves zu Martin gesagt und dann unter den Kartoffeln etwas hervorgeholt, etwas Kleines, in braunes Packpapier gewickelt. Das Papier war fettig, ein starker Geruch ging davon aus, Yves öffnete das Päckchen …

    »Geräucherter Speck!«, rief Christa. »Wo haben Sie denn den her?« Am liebsten hätte sie ihm einen Tritt gegen das Schienbein verpasst. Brachte der Kerl auch noch sowas hier an. Wenn Martin das nun weitererzählte …

    »Großes Geheimnis«, lächelte Yves. »Kann nicht verraten.«

    »Darf ich gleich probieren?«, fragte Martin.

    Christa schnitt eine Scheibe ab, wollte ihm ein Stück Brot dazu geben, doch Martin nahm sie ihr einfach aus der Hand und biss hinein. »Brauch kein Brot«, sagte er, »wir haben eh nicht mehr viel davon.«

    Sie hatte Yves zur Tür gebracht, während Martin sich eine weitere Scheibe vom Speck abschnitt. Unter der Tür wollte Yves ihr einen Kuss geben, doch sie stieß ihn zurück. »Mach sowas nie mehr!«, zischte sie. »Ich will dich hier nicht mehr sehen.«

    Er hatte mit den Schultern gezuckt, ein wenig gegrinst – wieder einmal stellte sie eine Ähnlichkeit mit dem Grafen Cagliostro fest – und war die Treppe hinuntergelaufen.

    Und jetzt saß sie wieder mal im Luftschutzkeller und wartete darauf, dass die Sirenen das Ende des Angriffs verkündeten. Martin hatte sein Märchenbuch aus seinem kleinen Koffer geholt, blätterte darin und sah sich die eingeklebten Bilder an, die er schon hundertmal gesehen hatte. Wie das von Rapunzel, die ihren langen geflochtenen strohgelben Zopf aus dem Fenster im Turm hängt, damit die böse Hexe daran zu ihr hinaufklettern kann und später dann der schöne Prinz. Oder das vom Tod, wie er den Spielhansel mitnehmen will, damit er den Leuten kein Geld mehr abgewinnt. Aber selbst der Tod wird von ihm übers Ohr gehauen. Ganz besonders schien ihm das düstere Bild vom Rattenkönig Birlibi zu gefallen, wie er dick und feist in der goldenen Kutsche sitzt, neben ihm, zärtlich an ihn geschmiegt, seine ebenso dicke und feiste Gemahlin, beide mit Kronen auf den Rattenköpfen, und wie sie so, von Wölfen gezogen, durch den nächtlichen, mondbeschienenen Wald jagen. Richtig unheimlich sahen auch die beiden großen Katzen mit ihren leuchtenden Augen aus, die als Lakaien hinten auf der Kutsche standen und brennende Fackeln in den Pfoten hielten. Einmal hatte Christa Martin gefragt, was ihm denn so gefiele an diesem Bild, aber er hatte nur brummig »Weiß nicht« geantwortet. Er war verschlossener geworden in den letzten Monaten, fand Christa, weniger kindlich. War ja auch kein Wunder bei dem, was sie hier Tag und Nacht erlebten.

    Er bewahrte sein Märchenbuch in einem kleinen Koffer auf, einem Koffer aus brauner Presspappe mit verstärkten Ecken, der fertig gepackt neben seinem Bett stand und den er immer mit in den Keller nahm. Außer dem Buch waren noch ein Sitzkissen darin und eine kleine Decke gegen die Kälte, eine Volksgasmaske, eine Feldflasche mit Wasser, die jeden Tag frisch gefüllt wurde, ein Päckchen Kekse und ein kleiner Bär. Der war aus braunem Plüschstoff zusammengenäht, er hatte schwarze Augen aus Jackenknöpfen und war mit Stoffschnipseln gefüllt. Er war an vielen Stellen geflickt und sah schon ziemlich schrumpelig aus. Früher, so erinnerte sich Christa Klausen, bis etwa vor einem halben Jahr, hatte Martin den Bären im Luftschutzkeller immer herausgeholt und neben sich gelegt und ihn manchmal auch festgehalten. Aber jetzt ließ er ihn im Koffer. »Da kann ihm nichts passieren«, hatte er einmal gesagt und ein bisschen verlegen gegrinst.

    Nicht nur Martin hatte einen Koffer neben sich stehen. Jeder hier im Keller hatte einen dabei, gefüllt mit Kleidung, wichtigen Papieren, einer Taschenlampe, der Volksgasmaske und was man sonst noch so braucht, wenn eine Bombe das Haus trifft. Sofern man überhaupt noch etwas braucht. All das war sogar vorgeschrieben. Nur der alte Henning vom Parterre kam immer mit einem großen, ausgebleichten Rucksack hereingeschlurft, eine Decke über dem Arm. Er holte ein Handtuch aus dem Rucksack und band es sich um den Kopf, um die Explosionen nicht zu hören. Das klappte sehr gut, denn er war auch noch schwerhörig. Dann breitete er die Decke doppelt gefaltet auf einer der Liegen in der Ecke aus, legte sich darauf, schob den Rucksack unter den Kopf und schloss die Augen. Reschke hatte schon ein paar Mal versucht, es ihm abzugewöhnen, aber er ließ sich nichts sagen. Von Reschke, den er nicht ausstehen konnte, schon gar nicht. Während des Angriffs fragte Henning dann immer wieder: »Ist es schon vorbei?«

    Martin war das einzige Kind im Keller. Es gab noch vier andere im Haus; zwei, die älter waren als zehn, hatte man mit der KLV, der Kinderlandverschickung, aufs Land gebracht. Und die beiden anderen waren zusammen mit ihren Müttern irgendwohin evakuiert worden.

    Voriges Jahr im September, als alle Volksschulen geschlossen wurden, war auch Martin mit seiner Klasse weggebracht worden, in einen kleinen Ort im Chiemgau. Er war gerade zehn geworden, wollte nicht von seiner Mutter weg und sie hatte lange auf ihn einreden müssen, bis er widerstrebend zugestimmt hatte. Auch Christa war diese erste längere Trennung von ihrem Sohn sehr schwer gefallen. Zusammen mit den anderen Müttern war sie am Bahnhof gewesen, als der Zug abfuhr, sie hatte lächelnd gewinkt, aber kaum war er außer Sichtweite, hätte sie am liebsten losgeheult. Den meisten anderen erging es ebenso, ein paar waren sich sogar schluchzend in die Arme gefallen.

    Martin war gerade mal eine Woche weg, da kam schon die erste unangenehme Überraschung: ein Schreiben, das ihr ihre Kriegsdienstverpflichtung bekannt gab. Denn nun, da sie nicht mehr für ein Kind sorgen musste, war sie nicht mehr davon befreit und musste ihren Anteil zum Endsieg beitragen. Der Kriegseinsatz der Frau dient dem Kampfeinsatz des Mannes, wie es in der Propaganda hieß. Sie hatte sich im Verkehrsministerium, in der Transportkommandantur, zu melden.

    Sie wurde Fernschreiberin. Sie schrieb chiffrierte Texte, empfing chiffrierte Texte, die sie weiterleitete, saß zusammen mit einem Dutzend anderer Frauen in einem vom Rattern der Fernschreiber erfüllten Raum. Das einzige, was sie daran als positiv empfand, war, dass es sie ablenkte. Tagsüber dachte sie nur selten an Martin, ebenso selten wie an Robert, ihren Mann. Seit Monaten schon war er in Russland vermisst.

    Ihrem Sohn konnte sie wenigstens schreiben, und sie bekam auch Briefe von ihm. Sie waren ziemlich traurig, auch wenn sie merkte, dass er sich Mühe gab, sich nicht zu sehr zu beklagen. Man hatte den Müttern eingeschärft, die Kinder in den ersten Wochen nicht zu besuchen, das würde ihr Heimweh nur noch verstärken – aber nach drei Wochen setzte sich Christa doch in den Zug und fuhr zu Martin.

    Sie entdeckte, dass das Aufsichtspersonal an der Schule, wo man die Kinder im Turnsaal einquartiert hatte, nicht nur aus Lehrern bestand. Auch ein paar schon ältere Hitlerjungen waren zu sehen. Man holte Martin, er sah sehr müde aus. Es kam ihr vor, als wäre er sogar zu müde, um sich über ihre Ankunft zu freuen, aber er ergriff ihre Hand und wollte sie nicht mehr loslassen. Christa ging mit ihm hinaus auf die Straße, wo niemand sie hören konnte, und da erzählte er, dass man die Kinder nicht nur unterrichtete, sondern dass sie auch Wehrübungen machen mussten, draußen im Gelände, man gab ihnen sogar Gewehre, die allerdings nicht geladen waren.

    »Die sind so schwer, Mama, ich kann das Ding kaum hochheben «, sagte Martin.

    Christa überlegte nicht lange. Sie ging zum Schulleiter und teilte ihm mit, sie werde ihren Sohn nun mit nach München nehmen. Das sei immer noch ihr Kind und sie allein würde bestimmen, was mit ihm geschehe.

    »Nicht ganz, Frau Klausen«, bekam sie zu hören. »Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft hat da auch noch mitzureden, das wissen Sie ganz genau.«

    »Mag sein. Ich nehme jedenfalls Martin jetzt mit nach München. Ich lasse nicht zu, dass man ihn hier zum Soldaten macht.«

    Man ließ sie gehen, nicht ohne ihr Konsequenzen anzudrohen. Und so kam Martin wieder nach München und in den Luftschutzkeller. Christa meldete bei der Transportkommandantur, dass sie nun doch wieder für ein Kind zu sorgen habe, aber man machte die Dienstverpflichtung nicht mehr rückgängig, gewährte ihr lediglich halbtäglichen Schichtdienst. Vom Nachtdienst war sie von nun an befreit.

    Seitdem fragte sie sich oft, ob sie recht gehabt hatte, ihren Sohn wieder nach München zu holen, ihn täglich der Todesgefahr auszusetzen. Wäre es denn so schlimm gewesen, ihn Wehrübungen machen und mit Naziparolen füttern zu lassen; wenigstens wäre seine Chance zu überleben um ein Vielfaches größer gewesen. Natürlich wollte er bei ihr sein, aber war es wirklich besser für ihn? Hatte nicht vielmehr Egoismus ihr Handeln bestimmt, der Wunsch, ihren Sohn immer bei sich zu haben? Wahrscheinlich hatte auch der Gedanke eine Rolle gespielt, Martin davor zu bewahren, allein zurückzubleiben, wenn sie selbst bei einem Angriff den Tod fand. Wenn schon, dann sollten sie beide sterben. Aber auch das war im Grunde unlogisch, denn sie arbeitete ja halbtags, war also nicht immer bei ihm. Und was war mit Robert, seinem in Russland vermissten Vater? Vielleicht kam er ja doch zurück, und dann hatte sie ihm, sozusagen, seinen Sohn weggenommen. Für immer. Und wenn Robert nicht zurückkam?

    Scheißkrieg! Scheißnazis! Scheißbomben!

    Zu Tante Kathi nach Niederbayern könnte sie ihn schicken, da hatte es Martin immer sehr gefallen. Die Tante war eine Schwester ihrer Mutter und lebte in einem kleinen Häuschen außerhalb des Dorfes mit zwei Katzen, zwei Ziegen, einem Dutzend Hühnern und ein paar Kaninchen. Aber auch dann wäre Martin dort allein. Sie bekam keinen Urlaub in der Transportkommandantur, seit Monaten schon war generelle Urlaubssperre angeordnet. Sie wollte Martin einfach nicht weglassen, sie wollte nicht ohne ihn sein, das war's. Eigentlich ganz einfach. Ein ganz einfacher, womöglich tödlicher Egoismus. Vielleicht sollte sie ihn doch zur Tante schicken. Aber wer sollte ihn begleiten, sie konnte ihn doch nicht allein reisen lassen. Auch das war ja lebensgefährlich, immer wieder hörte man von Tieffliegerangriffen auf Züge. Sofern überhaupt noch welche fuhren.

    Wieder schlug es in der Nähe ein, und gleich darauf drang Brandgeruch in den Keller. Reschke setzte den Stahlhelm auf, griff sich einen der neben der Tür stehenden gefüllten Wassereimer und eine Feuerpatsche und rannte hinaus. Frau Lehner aus dem ersten Stock, ebenfalls mit Helm, folgte ihm. Sie hatte an einem Lehrgang der Feuerwehr teilgenommen. Außerdem hatte sie was mit Reschke, ging das Gerücht. Christa sah sich um, schaute auf die Leute, wie sie zusammengesunken auf den vor den roh verputzten Wänden aufgestellten Bänken und Stühlen saßen, zwei Tische und drei Liegen gab es auch, als warteten sie auf ihre Hinrichtung. Das trübe Licht ließ sie älter aussehen, es kam ihr plötzlich vor, als wären sie schon alle tot, als sei dies hier eine Gruft, in der sie nun langsam zu Staub zerfielen. Sie schloss die Augen.

    Und sie dachte an den Tag, an dem das begonnen hatte, was ihr inzwischen ebenso zu schaffen machte wie die Bombenangriffe, was fast genauso lebensgefährlich war und dem sie, darüber war sie sich im Klaren, entkommen musste. Irgendwie. Es würde sehr schwer werden, sie fürchtete sich davor.

    Wieder einmal war sie mit dem Rad zur Gärtnerei Rohrer gefahren, das dauerte eine Viertelstunde, es sei denn, man musste schieben. Was immer dann der Fall war, wenn nach den Angriffen Schuttberge die Straße blockierten und nur noch ein schmaler, gewundener Weg zwischen den hohläugigen Ruinen hindurch führte. Zur Gärtnerei gehörte ein kleiner Laden, in dem es nicht nur die eigenen Produkte zu kaufen gab, sondern auch, je nach Jahreszeit, Obst und Gemüse aus dem Süden. Dafür brauchte man keine Marken. Manchmal gab es das sogar jetzt noch, trotz Bomben und Zerstörung und Chaos, immer dann, wenn ein Transportzug aus Italien durchkam und in München nicht mehr weiterkonnte. Aber es geschah selten, sehr selten, man musste wissen, wann die Rohrers so etwas bekamen, und dann stundenlang vor dem Laden warten. Wegen ihres Schichtdienstes schaffte es Christa so gut wie nie; wenn sie zur Gärtnerei kam, waren die paar Kisten Obst meist schon weg. Und Gemüse oder Salat aus dem eigenen Anbau gab es um diese Jahreszeit noch nicht.

    Manchmal hatte sie dort die beiden französischen Kriegsgefangenen gesehen, die den Rohrers zugeteilt worden waren. Früher, so hatte man ihr beim Schlangestehen erzählt, waren sie jeden Morgen aus dem Lager gebracht worden, das auf der anderen Seite der Isar irgendwo hinter Thalkirchen lag, und am Abend wieder zurück. Seit ein paar Monaten blieben sie jedoch auch nachts in der Gärtnerei und schliefen dort in einem Schuppen neben dem Gewächshaus; die Bewachungsfunktion war pro forma dem alten Rohrer übertragen worden. Man hatte ihn, wie er einmal erzählte, deshalb sogar zum Hilfssoldaten ernannt und ihm ein Gewehr ausgehändigt. Das er dann umgehend in einen Schrank einschloss und nie mehr herausholte.

    Christa hatte die beiden Franzosen lange Zeit kaum beachtet, sie waren ja auch nur selten im Laden, tauchten dort nur auf, wenn es Kisten oder volle Säcke zu transportieren galt. Aber dann war ihr einer der beiden doch aufgefallen, und sie hatte erfahren, dass er Yves hieß und eigentlich Lehrer war. Er war ziemlich groß, blickte immer sehr ernst, und er hatte, sie konnte es kaum glauben, eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Grafen Cagliostro. Wenn man von den wirren dunklen Haaren absah, die aussahen, als seien sie mit der Heckenschere gestutzt worden.

    An dem bewussten Tag war Christa wieder mal zu spät gekommen, alle Kisten waren leer, und sie war mit der alten Frau Rohrer allein im Laden, als Yves durch die Hintertür hereinkam. Er hatte sich an der Hand verletzt und suchte Verbandszeug.

    »In der Abstellkammer im Schrank«, sagte

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