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Die Liebe und der Apfelbaum
Die Liebe und der Apfelbaum
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eBook284 Seiten3 Stunden

Die Liebe und der Apfelbaum

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Über dieses E-Book

Werner und Marietta sind beide auf der Suche nach der Liebe. Als der Zufall sie zusammenführt beginnt eine stürmische Romanze, die Werner mit einem Heiratsantrag krönt. Völlig überrumpelt nimmt Marietta ihn widerstrebend an - womit das Unheil seinen Lauf nimmt. Eine desaströse Hochzeitsfeier, ein ersteigertes Haus inklusive widerspenstiger Vorbesitzerin und dann auch noch der Einzug von Althippie Uwe - dem Lover von Werners Mutter, lassen erste Mordgedanken aufkommen ...
SpracheDeutsch
HerausgeberSkript-Verlag
Erscheinungsdatum15. Juli 2022
ISBN9783928249294
Die Liebe und der Apfelbaum
Autor

Chris Tewes

Chris Tewes, Jahrgang 1958, hat schon früh ihre Liebe zu Büchern entdeckt, und so erlernte sie zunächst den Beruf der Buchhändlerin. Bevor sie selber zur Feder griff, sollten spannende Einblicke in verschiedene sonderpädagogische Einrichtungen folgen, in denen sie einige Jahre als Heilerziehungspflegerin tätig war. Chris Tewes hat bisher drei Romane und mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Die Liebe und der Apfelbaum - Chris Tewes

    Für

    Fabian & Lisa Alex & Annika

    Auf dass Eure Hochzeitsfeiern und Ehen harmonischer verlaufen als die von Werner und Marietta in dieser Geschichte!

    Chris Tewes, Jahrgang 1958, hat schon früh ihre Liebe zu Büchern entdeckt, und so erlernte sie zunächst den Beruf der Buchhändlerin. Bevor sie selber zur Feder griff, sollten spannende Einblicke in verschiedene sonderpädagogische Einrichtungen folgen, in denen sie einige Jahre als Heilerziehungspflegerin tätig war. Chris Tewes hat bisher drei Romane und mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht.

    Inhaltsverzeichnis

    Erster Teil

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Teil 2

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 41

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Teil 3

    Kapitel 45

    Kapitel 46

    Kapitel 47

    Kapitel 48

    Kapitel 49

    Kapitel 50

    Kapitel 51

    Erster Teil

    1

    Seufzend drehte Werner seinem Spiegelbild den Rücken zu. Drei Wochen intensives Hanteltraining lagen hinter ihm und alles für die Katz. Seine dünnen Oberarme ließen nicht einmal die kleinste Beule erkennen. Was hast du erwartet? Seit fünf Jahren fährst du täglich mit dem Rad zur Arbeit, und sieh dir deine Beine an! Dein Körper ist nun einmal gegen jegliches Muskelwachstum immun. Dafür hast du andere Qualitäten.

    Als Ausgleich zu Werners Defiziten, zu denen er auch seine eher geringe Körpergröße von 1,56 Metern zählte, hatte Mutter Natur ihn mit einem Gesicht ausgestattet, das gut und gern als Paradebeispiel für männliche Attraktivität herhalten konnte – gut proportioniert, mit einer geradezu klassischen Nase, vollen, sinnlichen Lippen und, sozusagen als Krönung des Ganzen, mit den blauesten Augen von ganz Drosselburg. Auf diesen Joker hatte Werner gesetzt, als er den beiden jungen Frauen im Vorbeigehen zugezwinkert und sie dabei mit einem flotten Spruch auf den Lippen angesprochen hatte.

    Wieder kochte die Wut in ihm hoch, als er daran zurückdachte. Dieser schmachvolle Ausdruck, den sie ihm gehässig hinterhergerufen hatten. Hänfling! Was will denn dieser Hänfling …

    All die demütigenden Schimpfnamen, die er im Laufe seines nun schon 38 Jahre währenden Lebens bereits über sich hatte ergehen und tief im Keller der Erinnerung verschlossen hatte, waren mit einem mal wieder aufgestiegen. Spargeltarzan, Mickerling, Schmachtlappen …

    Vergiss es! Andere Männer sind auch nicht vollkommen und haben trotzdem Erfolg bei den Frauen. Und warum? Die einen, weil sie Macht haben, andere, weil sie die Frauen mit coolen Sprüchen und schwülstigen Liebesbezeugungen weich kochen, und wieder andere, weil sie erst gar kein großes Tamtam machen, sondern den Frauen einfach ihren Willen aufzwingen. Bad Boys bekamen doch schon immer die besten Mädchen.

    Werner ging im Geiste noch einmal seine Strategie durch. Das mit der Macht konnte er schon mal knicken. Als kleiner Standesbeamter war sein Einfluss im Weltgeschehen doch eher untergeordnet. Zuletzt hatte er es mehrfach mit coolen Sprüchen versucht, doch die Erfolgsquote war äußerst dürftig geblieben – lediglich ein paar One-Night-Stands nach reichlichem Alkoholgenuss in der Bar und das kurze Intermezzo mit Ingeborg. Werner dachte mit Grimm daran zurück. Beim letzten Osterfeuer hatte er Ingeborg kennengelernt. Eine ganze Woche lang hatte sie sich von ihm aushalten lassen. Restaurantbesuche, Kino, Disco … Er hatte einen Haufen Geld investiert, und das alles völlig umsonst. Ein bisschen Knutschen, mehr war nicht drin gewesen. Als er dann endlich aufs Ganze gehen wollte, hatte sie ihn entrüstet von sich gestoßen und fortan nicht mehr beachtet.

    Was soll´s. Neues Spiel, neues Glück!

    Nachdem Werner sich angekleidet hatte, schlurfte er in die winzige Küche, von wo ihm bereits ein belebender Kaffeeduft entgegenströmte.

    Die Scheibe Toastbrot war mittlerweile schon wieder kalt geworden. Er hätte nicht so lange vor dem Spiegel vertrödeln sollen. Werner seufzte. Es war die letzte Scheibe. Er bestrich das Brot dick mit Butter und schlug die Zeitung von Samstag noch einmal auf. Der jährliche Hospizlauf sollte um 11 Uhr beginnen. Er hatte also noch Zeit. Am Anfang liefen sowieso die Kinder, da tummelten sich nur Mütter auf dem Markt. Auf die konnte er gerne verzichten. Werner musste an das kleine Ungeheuer mit der Wasserpistole denken. Rotzbengel! Nee, nee, Kinder konnte Werner nicht ausstehen.

    Nachdem er die Rätselseite vom Wochenendblatt der Zeitung weitestgehend gelöst hatte, trat er ans Fenster. Sollte er das Rad nehmen? Damit brauchte er etwa eine halbe Stunde bis zur Innenstadt. Mit dem Wagen ging es auch nicht viel schneller. Wenn man die Parkplatzsuche und den anschließenden Fußweg einrechnete, kam es aufs Gleiche raus.

    Eigentlich nahm Werner fast immer das Rad, doch ein Blick zum Himmel versprach nichts Gutes. Dunkle Wolken zogen vorüber und die tanzenden Zweige der alten Kastanie ließen keinen Zweifel an den unangenehmen Windverhältnissen aufkommen. Auch noch Ostwind.

    Was soll´s. Da konnte er schon gegen an trampeln – auch wenn seine Muskeln eher unsichtbar blieben, die Kondition war auf jeden Fall da. Hauptsache, es blieb lange genug trocken.

    Werner wollte sein Glück wieder am Bierstand versuchen. Da kam man leichter ins Gespräch, Frauen waren dort kontaktfreudiger. Aber eine Perle mit Alkohol abfüllen und dabei selbst nur Wasser trinken, das ging gar nicht, also blieb ihm sowieso nur das Rad.

    Werner hatte die beiden Straßenecken gerade hinter sich gelassen und befand sich auf der langen Zielgeraden in Richtung Innenstadt, als der Wind es endgültig satt hatte, die schweren Wolken noch länger vor sich her zu treiben. Von einem Moment zum anderen ergossen sich die Wassermassen mit einer solchen Heftigkeit auf Werner herab, dass er sofort jegliche Sicht, und beinahe auch das Gleichgewicht verlor. Verdammter Rotzbengel! Für einen Moment wähnte er sich an jenen Tag im vergangenen Jahr zurückversetzt, als dieser unverschämte Bengel ihm mit seiner Wasserpistole direkt in die Augen gespritzt hatte. Damals war er tatsächlich gestürzt und hatte sich den rechten Arm und den Fuß verstaucht. Verdammter Rotzbengel!

    Werner konnte sein Fahrrad gerade noch in der Spur halten. Fluchend quälte er sich vorwärts. Verdammter Ostwind! Kurz bevor er den Marktplatz völlig durchnässt erreicht hatte, hörte der Regen endlich auf.

    Schon von weitem hörte Werner enthusiastisches Johlen und Klatschen sowie motivierende Kommentare des Mannes am Lautsprecher. Was labert der da? Sind da etwa immer noch Blagen unterwegs?

    Werner verzog das Gesicht. Auf dem Weg zum Fahrradständer erhaschte er einen Blick auf die Rennstrecke, wo gerade ein rotwangiger Junge mit deutlichem Übergewicht vorbeikeuchte. Kurz darauf erscholl Jubelgeschrei. Offenbar hatte der Bengel endlich die Zielgerade erreicht. Werner schickte eine stumme Fürbitte himmelwärts, dass er das Schlusslicht gewesen sein möge. Fröstelnd schaute er sich um. Überall nur Väter, Mütter, Omas und Opas, die ihre verzogenen Kinder und Enkel geradezu in den Himmel lobten. Werner stellte sich vor, wie sie grinsend am Straßenrand standen und plötzlich eine Wasserpistole hinter ihren Rücken hervorzogen. Rotzbengel! Der übergewichtige Junge stand jetzt mit seinen stolzen Eltern am Wurststand. Klar, und jetzt gibt’s für den fetten Bengel auch noch eine fette Bratwurst!

    Werner musste niesen. Er fror mittlerweile in den nassen Klamotten. Nur gut, dass heute auch verkaufsoffener Sonntag ist.

    Neu eingekleidet, in einer dunkelblauen Jeans und einem senffarbenen Blouson, machte er sich eine Stunde später erneut auf den Weg zum Marktplatz, von wo aus ihm nun stimmungsmachende Hits entgegendröhnten. Zum Glück hatten sich mittlerweile nicht nur die letzten Wolkenfetzen, sondern auch ein Großteil der Familien verzogen. Zumindest war der Kinderanteil deutlich geschrumpft. Werner schob sich erwartungsfroh zum Bierstand durch, doch dort standen zurzeit nur Paare und einzelne Männer herum. Er beschloss, ein wenig den Läufern zuzuschauen und drängelt sich bis zur Absperrung vor, die die Laufstrecke sicherte. Verdammt! Die vorderste Reihe war komplett von jungen Männern belagert, die ihn allesamt um wenigstens einen Kopf überragten und so dicht gedrängt standen, dass Werner unmöglich dazwischen passte. Mist! Frustriert wollte er gerade den Rückzug antreten, als mit einem Mal eine seltsame Unruhe und Hektik aufkam. „Da kommt sie wieder! Hey, hey, hey …! „Schneller, Mädchen, schneller …

    Wer kommt da? Die sich rasch ausbreitende Erregung hatte etwas eindeutig Lüsternes, das konnte Werner deutlich spüren. Neugierig versuchte er einen Blick auf die angefeuerte Läuferin zu erhaschen, doch die Front aus männlichen Rücken wich um keinen einzigen Zoll. Verdammt! Werner war sich sicher, dass es da vorne keineswegs um irgendeinen Rekord ging. Die Häme in den aufpeitschenden Rufen war nicht zu überhören. Das rhythmische Klatschen zahlreicher Hände steigerte sich mehr und mehr. „Hey, hey, hey! Schneller, Mädchen, schneller!" Mit Johlen und spöttischem Gelächter trieben sie die Läuferin weiter vorwärts. Ich will auch was sehen! Die Vorstellung von auf und ab hüpfenden Brüsten brachte Werners Herz zum Rasen. Gerade wollte er sich todesmutig zwischen zwei etwas schwächlich wirkende Typen werfen, als die Formation sich plötzlich auflöste und Werner, das Absperrband mit sich reißend, auf die Laufstrecke und direkt vor die Füße eines Mannes fiel, der jener Läuferin dicht nachfolgte. Ein Ausweichen war nicht mehr möglich. Mit einem kräftigen Tritt auf Werners Hinterteil sprintete der fluchende Läufer einfach über ihn hinweg.

    Stöhnend rappelte Werner sich auf und taumelte halb benommen von der Bahn. Zu dem Schmerz musste er auch noch das schadenfrohe Gelächter von ein paar Jugendlichen erdulden. Werner hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Das Gelächter versetzte ihn in eine zurückliegende Szene, die sich im letzten Spätsommer zugetragen hatte. Sie trieb ihm noch heute die Schamesröte ins Gesicht. Der aufgefundene Leichnam einer geschändeten alten Frau hatte damals ganz Drosselburg in Aufruhr versetzt. Vor einer Bäckerei hatten ein paar Kunden zusammengestanden und aufgeregt über die Tat geredet. Werner hatte sich einen kleinen, zugegeben, etwas makabren Scherz erlaubt, der eine alte Vettel zu dieser schmachvollen Beleidigung verleitet hatte. Soll ich dir mal deine Genitalien zerfetzen? Da wird dir das Lachen aber ganz schnell vergehen – aber ganz schnell! Obwohl, wenn ich mir dich so anschaue: Da werde ich sicher lange suchen müssen, um was zum Reinbeißen zu finden … Die ganze Runde hatte sich über ihn kaputtgelacht. Das verhasste Wort schien ihm aus allen Mündern entgegenzuspringen – HÄNFLING … dieser HÄNFLING!!!

    Verflucht! Der Schmerz seines misshandelten Steißbeins stand in unmittelbarer Konkurrenz mit dem in seiner linken Schulter, doch was Werner am meisten wehtat, war der Zustand seiner neuen Jacke. Keine Stunde hatte er das teure Stück getragen, und schon war es eingesaut. Die used-Optik seiner Jeans hatte ebenfalls an Authentizität zugenommen. Er hätte heulen können. So brauchte er gar nicht erst zum Bierstand zurückzukehren. Scheißtag!

    2

    „Mist!" Ein Schwall Seifenwasser schwappte spritzend über den wackligen Stapel bunter Tassen und rann in beängstigender Geschwindigkeit auf den Rand der Arbeitsplatte zu. Hastig versuchte Marietta einen Wasserfall auf ihren Küchenfußboden zu verhindern, da hatte sie den kleinen Turm auch schon umgerissen. Klirrend zerschellten zwei Tassen auf den Fliesen. „Verdammte Scheiße!"

    Marietta stellte den kleinen Putzeimer in die Spüle. Heute ging aber auch alles schief und dabei hatte sie sich so sehr auf diesen Sonntag gefreut. Es war ihr erstes freies Wochenende seit langem, und noch dazu hatte Melanie sich für heute angesagt – eines der seltenen Treffen, seit ihre Tochter in diese WG gezogen war. Marietta hatte den ganzen Samstag Vorbereitungen getroffen – gebacken, vorgekocht, das Gästebett frisch bezogen … Um zehn Uhr abends sagte Melanie dann einfach ab. Es ginge ihr nicht gut! Wer´s glaubt. Marietta war stinksauer. Wahrscheinlich hatte ihr Töchterchen einen neuen Kerl kennengelernt. Das ging ja immer ganz fix bei ihr. Leider hielt die große Liebe dann nie lange an. Zum Trösten war Muttern dann wieder gut genug.

    Mariettas Hoffnung, eine ihrer Freundinnen hätte heute vielleicht Zeit, hatte sich auch nicht erfüllt. Angela war mit ihrem Mann übers Wochenende weggefahren und Simone lag mit einer dicken Erkältung im Bett. Frustriert hatte Marietta daraufhin die Küche auf den Kopf gestellt und damit begonnen, alle Schränke auszuwaschen. Beim Putzen konnte sie immer am besten Dampf ablassen.

    Scheißtag! Fluchend sammelte sie die Scherben auf. Und was nun? Nachdem der Fußboden wieder sauber und alles verstaut war, holte Marietta die Käsesahnetorte aus dem Kühlschrank und schnitt sich ein großes Stück heraus. Lecker! Sie war ihr wieder einmal super gelungen. Marietta überlegte kurz, den halben Kuchen einzufrieren. Den Rest würde sie schon verputzen, kein Problem. Es wurmte sie allerdings, dass ihn dann niemand bewundern konnte. Simone … Erkältung hin oder her, die Torte rutschte auch bei Halsweh. Außerdem brauchte Marietta jemanden, bei dem sie ihren Ärger abladen konnte. Simones Erkältung war da eigentlich ganz praktisch – sie würde ihre Stimme schonen müssen und ihr nicht allzu oft ins Wort fallen. Perfekt.

    Ein stürmischer Wind zerrte an Mariettas lose drapiertem Halstuch und fuhr ihr unangenehm in die weit geschnittenen Ärmel der kurzen Sommerjacke. Ungeduldig drückte sie zum dritten Mal auf den Klingelkopf, da ertönte endlich ein Krächzen aus der Gegensprechanlage. „Das wird aber auch Zeit. Hör mal, du krankes Huhn, ich will dich etwas aufmuntern, also mach schon auf!" Ein Geräusch, das irgendwo zwischen Schleifen und Rasseln einzuordnen war, ging dem Surren des Türöffners voraus. Dynamisch stieß Marietta die Haustür auf und eilte zum Aufzug, an dessen Tür ein großes, Unheil verkündendes Schild prangte: Defekt! Die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen vertiefte sich zu einer steilen Furche. Verdammt! Auch das noch! Fluchend setzt sie ihren Fuß auf die erste Stufe der hölzernen Treppe. Warum musste Simone auch im vierten Stock wohnen?

    Die Wohnungstür der Freundin war angelehnt. Offenbar hatte sie sich nach dem Öffnen der Tür sofort wieder in ihrem Bett verkrochen. Als Marietta eintrat, umfing sie sogleich ein würziger, leicht süßlicher Geruch, der ihr zwar irgendwie vertraut erschien, den sie allerdings nicht zuordnen konnte. Er weckte Assoziationen gänzlich unterschiedlicher Bereiche: Schmerzen in den Knien, Sonntagsbraten, Kälte, Sammelbildchen, Gewissensbisse, Langeweile …

    „Simone?" Marietta drückte die Tür durch Hervorstrecken ihres ausladenden Hinterteils zu und lief erst einmal in die Küche, um den Kuchenteller abzustellen. Ein chaotisches Sammelsurium aus benutzten Tassen, Schüsseln, Besteck, Teebeuteln, Zwiebelschalen, irgendwelchen Verpackungen und sonstigem Kram hatte jegliche Abstellfläche vereinnahmt und ließ Marietta für einen Moment hilflos verharren. Ein intensiver Duft nach Kamille überdeckte den abgestandenen Mief einer Zwiebel nur unzureichend. Der würzige Geruch aus dem Flur hing allerdings auch hier noch unterschwellig in der Luft. Kopfschüttelnd kehrte sie um und versuchte ihr Glück im Wohnzimmer. Ein Blick zur Kommode ließ sie erleichtert aufatmen. Das müsste passen. Mit einer einzigen Bewegung ihres linken Armes schob sie die aufgereihten Engelsfiguren kurzerhand zu einem dichten Haufen zusammen und platzierte ihre Tortenplatte direkt daneben. Dann verharrte sie einen Moment nachdenklich und starrte auf die Engel. Eine Verbindung zu dem seltsamen Geruch war plötzlich fast greifbar. Beides gehörte irgendwie zusammen … Naserümpfend verließ sie das Wohnzimmer und hängte ihre Jacke an der Flurgarderobe auf, bevor sie endlich zu Simone ins Schlafzimmer eilte. „Simone? Was riecht hier eigentlich so penetrant? Simone?" Das gleiche schleifende Rasseln, das Marietta zuvor aus der Gegensprechanlage vernommen hatte, drang nun gedämpft unter einem dicken Federbett hervor. Marietta fegte mit dem Fuß einen Berg benutzter Taschentücher zur Seite und trat an das Bett heran. Der Geruch nach altem Schweiß und Rotz verdrängte den … Weihrauchduft? Genau. Jetzt wusste Marietta, woran der Geruch sie erinnerte. Seit ihrer Firmung hatte sie schließlich keine Kirche mehr betreten.

    Marietta beugte sich zu Simone hinab. Offensichtlich ging es ihr wirklich schlecht. Wirr abstehendes, fettiges Haar umsäumte ihr fahles Antlitz, aus dem die rote, wundgeschnäuzte Nase anklagend hervorstand. Beherrscht wurde das traurige Stillleben von einem wehleidigen Blick aus verquollenen Augen.

    „Simone, Simone, dich hat es ja ordentlich erwischt. Na, dann will ich dich mal wieder etwas aufpäppeln. Du musst auf jeden Fall viel trinken, und deine Nase braucht offenbar auch eine abschwellende Dröhnung! Am besten, du nimmst gleich ein paar Aspirin. Die bekommen unsere Bewohner auch immer, die wirken ratz fatz! Vielleicht habe ich noch welche in meiner Handtasche. Aber erstmal wird die Tasse leer getrunken!"

    Simones entsetzten Blick ignorierend, schob Marietta sie in eine halbsitzende Position und hielt ihr die halbvolle Tasse an die Lippen. Währenddessen schweifte ihr Blick über das vollgestellte Nachttischchen. „Hast du denn kein Nasenspray? Einige seltsame, trichterförmige Röhrchen weckten ihre Aufmerksamkeit. „Und was sind das für Minifackeln?

    Simones Versuch, den Tee schnell genug hinunterzuwürgen, konnte nur scheitern. Mit einer panischen Drehung des Kopfes verschaffte sie sich wieder Luft. Marietta zuckte zusammen. „Ach verdammt, warum schluckst du denn nicht!"

    Während Marietta den Kleiderschrank der Freundin auf der Suche nach einem frischen Nachthemd durchwühlte, tastete Simone erschöpft nach einem kleinen Block nebst Stift, die in der Nachttischschublade lagen. Kraftlos kritzelte sie ein paar Sätze aufs Papier:

    Kein Nasenspray!!!

    Kamillendampfbad: Wasser kochen – Kamillenblüten in Schüssel – Wasser drüber und mit Handtuch zu mir bringen!

    Keine Tabletten!!!

    Bitte neuen Hustensaft ansetzten: Drei Zwiebeln ganz klein schneiden und mit Zucker in das Marmeladenglas geben. Verschließen, schütteln, stehen lassen.

    Fackeln sind Ohrkerzen! Glas Wasser bereitstellen. Ohrkerzen nacheinander in meine Ohren stecken und anzünden!

    Quarkwickel: Quark (ist im Kühlschrank) dünn auf ein Geschirrtuch streichen. Das Tuch mit der bestrichenen Seite auf meinen Hals legen und Schal drumbinden.

    Eis holen! Bitte, bitte!!!

    „Also wirklich, deinen Schrank könntest du auch mal wieder aufräumen. Da liegt ja alles durcheinander! Ziehst du diese schrecklichen Hippieklamotten eigentlich noch an? Aus dem Alter bist du doch längst raus …" Simone versuchte Mariettas missbilligenden Redeschwall auszublenden und wartete geduldig auf ihr frisches Nachthemd. Als die Freundin mit dem gesuchten Kleidungsstück ans Bett zurückkehrte, reichte sie ihr den Zettel.

    „Was hast du denn da aufgeschrieben? Gib mal her … Kamillendampfbad, Zwiebelsaft, Ohrenkerzen, Quarkwickel … Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Heute gibt es viel wirksamere Mittel, die man ohne großes Brimborium einnehmen kann. Ich glaub, ich habe noch ein paar Aspirin in der Handtasche!" Bevor Marietta davonstürmen konnte, zog Simone einen weiteren Zettel unter der Bettdecke hervor.

    Nein!!!

    Eine Stunde später saß Marietta an Simones Bett und wartete ungeduldig darauf, dass auch die zweite Ohrenkerze endlich abbrannte. Eigentlich wollte Simone während dieser Zwanzigminütigen Prozedur ihre indische Musik hören, doch da hatte Marietta sich konsequent geweigert. Dieses ätzende Gedudel? Auf keinen Fall! Stattdessen musste sie sich die Schimpftiraden über Mariettas undankbare Tochter anhören.

    Endlich hatte die verrußte Spitze der Kerze den roten Markierungsstrich fast erreicht. Erleichtert zog Marietta das verbliebene Ende des Röhrchens aus dem Ohr der Freundin und löschte die Kerze im Wasserglas. Bis auf das Eis war Simones Liste nun abgearbeitet. Endlich konnte Marietta ihre Käsesahnetorte präsentieren. Stolz trug sie zwei Teller mit der leckeren Süßspeise ins Schlafzimmer. „Vergiss das Eis. Das hier rutscht genauso leicht und schmeckt dreimal so gut!"

    Gerade einmal zwei kleine Bissen konnte sie der Freundin aufzwingen, bevor diese verzweifelt die Lippen zusammenpresste. Doch Mariettas Frust währte nicht lange. Für eine Weile herrschte wohltuende Stille im Schlafzimmer.

    Marietta rülpste. Den Rest von Simones Stück hätte sie nach den beiden eigenen wirklich nicht mehr essen sollen. Der Gesprächsstoff war ihr mittlerweile auch ausgegangen. Ständig Monologe zu halten, nervte irgendwann doch. Nachdem Marietta die leeren Teller zurück in die Küche getragen hatte, nahm sie die Samstagszeitung mit, die noch zusammengefaltet auf dem Küchentisch lag.

    Sie könnte Simone etwas vorlesen … Glücklicherweise war diese einverstanden und so begann Marietta mit der ersten Schlagzeile. Bereits nach zehn Minuten tönte ein gleichmäßiges Schnarchen

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