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Tonspuren: Erinnerungen an eine Jugend
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eBook256 Seiten3 Stunden

Tonspuren: Erinnerungen an eine Jugend

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Über dieses E-Book

Musik ist mehr als Töne...

Herausgerissen aus ihrem vertrauten Londoner Umfeld und ins ländliche Essex verpflanzt, entdeckt Lavinia Greenlaw, entwurzelt und einsam, zwischen Klavier-und Geigenunterricht, den abendlichen Madrigalchorproben der Mutter, Opernbesuchen mit dem Vater und Radio Luxemburg ihre Liebe und Faszination für die Musik. Mit der beginnenden Pubertät setzt eine lange Identitätskrise ein. Ihre chamäleonartige Zugehörigkeit zu verschiedenen Musikrichtungen wird zu ihrer sozialen Währung, während sie versucht, sich anzupassen.

Greenlaws Aufzeichnungen sind ein poetisches Erinnerungsbuch und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Macht und die Kraft von Musik. Und es erinnert uns daran, wie inspirierend der richtige Song zur richtigen Zeit sein kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Juni 2022
ISBN9783772544293
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    Buchvorschau

    Tonspuren - Lavinia Greenlaw

    1

    DER WALZER MEINES VATERS

    Ein kaputter Knöchel an der Hand

    Die meine umschließt;

    Bei jedem falschen Schritt von dir kratzte

    mein rechtes Ohr über den Gürtel.

    THEODORE ROETHKE, MY PAPA’S WALTZ¹

    In den ersten Lebensjahren ist das Tanzen in meiner Erinnerung geräuschlos, als wäre es eine rein körperliche Angelegenheit. Bestimmt summte mein Vater eine Melodie, während ich auf seinen Schuhen stand und er mit mir tanzte, doch mir sind die Riesenschritte im Gedächtnis geblieben, die ich auf einmal machen konnte. Die Welt bäumte sich unter einem Fuß auf und drückte mich zur Seite, wenn dieser Fuß einen gewaltigen hohen Bogen beschrieb. Ich wusste nicht, ob ich soweit mitkommen konnte, doch im letzten Moment holte die Welt auch mein übriges Ich nach. Und so ging es weiter: Die Welt zog und schob, ich dagegen schlingerte und reckte mich.

    Es war kein sanftes Spiel und genau aus diesem Grund liebten wir vier Kinder es. Wir fanden es toll, herumgeworfen zu werden – sei es von einer Achterbahn, Rutsche oder Schaukel, im aufgewühlten Meer, auf einem Trampolin oder aber von Erwachsenen, die uns in ihrer Geschwindigkeit im Kreis umherschleuderten und uns einen Vorgeschmack auf die Dimensionen des Erwachsenenlebens lieferten. Wir hatten einen jungen Onkel, der beim Spielen weniger Rücksicht nahm als mein Vater. Er schnappte sich meine Hände und schwang mich im Kreis wie ein Geschirrtuch mit nassem Salat, bis ich dachte, er würde mir die Arme ausrenken. Während mir der Schmerz in die Schultern schoss und mein Verstand schrumpfte, staunte ich gleichzeitig über die Möglichkeit einer solchen Bewegung. Angst hatte ich nicht. Zwar wusste ich, dass ich mir etwas brechen konnte und hatte auch bereits eine Vorstellung, wie es sich anfühlen würde, doch gleichzeitig wusste ich genau, dass es nicht soweit kommen würde.

    Der Walzer war interessanter als ähnliche Spiele, weil man der Wucht etwas entgegensetzen musste. Man musste die Spannung zwischen dem Bemühen, stillzuhalten, und dem Vertrauen auf die Führung austarieren. Ich stemmte mich in die väterlichen Schuhe, spannte die Arme an und vergrub die Fingernägel in seinen Manschetten wie jemand, der sich an eine Klippe klammert. Auf diese Weise nimmt der Tanz seinen Anfang: Etwas – die Musik, die Schritte, dein Partner – hält dich, doch du musst den Halt erwidern, die notwendige Spannung aufbauen, und dagegenhalten.

    In meiner Kindheit wurde ich oft zurückgehalten oder gebremst. Bevor wir das Haus verließen, dauerte es Stunden, uns alle bereitzumachen und bereitzuhalten – als wollte man vier Teller kreiseln lassen. Da ging ein Handschuh verloren, der Mantel wollte nicht angezogen werden, jemand war eingeschnappt oder hungrig oder brauchte eine frische Windel. Wir verbrachten viel Zeit mit Warten – darauf, irgendwohin gebracht oder abgeholt zu werden, auf das Ende eines Schultages oder den Anbruch eines neuen Tages. Wir reisten als Karawane im Kameltempo und brauchten mit unseren beiden tuckernden Morris zwei Tage für die zweihundertfünfzig Meilen von London an die walisische Westküste.

    Einmal losgelassen, waren wir übermütig und ungeduldig. War es irgendwo hoch, kletterten wir hinauf und sprangen hinunter; war es steil, rasten wir auf Fahrrädern, Schlitten oder Brettern abwärts. Wir rannten oder rollten jeden Hügel hinunter, ohne uns von Brennnesseln, Glasscherben, Hundekacke oder Steinen abhalten zu lassen. Wenn sich die Landschaft in Regen, Laub, Nebel oder Schnee hüllte, rasten wir weiter hindurch, so schnell wir konnten, und fürchteten uns nicht vor dem, was nun im Verborgenen lag.

    Hin und wieder wehrte sich die Welt und ich stieß schmerzhaft mit ihr zusammen. Im Alter von vier Jahren rutschte ich eine Rutsche hinunter, während ich an einem Bambushalm aus dem Garten lutschte. Er traf vor mir auf und bohrte sich fünf Zentimeter tief in meinen Gaumen. Anschließend beugte ich mich über ein Waschbecken und sah zu, wie es sich mit meinem Blut füllte. Ich spürte nichts. Interessant war höchstens, dass meine Schwester mir ihren Teddybär geben wollte, von dem sie sich normalerweise niemals trennte. Als ich nach der Operation, in der das Bambusstück entfernt wurde, aufwachte, richtete sich meine Neugier nur auf das Kohlenfeuer gegenüber dem Bett und den Geschmack des Speiseeises, das es im Krankenhaus gab.

    Lange Zeit war dieser Unfall nur etwas, das meinem Mund zugestoßen war. Andere mussten mich auf die Bedeutung hinweisen.

    «Das Bambusrohr steckte ganz nah am Gehirn», sagte meine Mutter zu einem späteren Zeitpunkt. «Wir dachten, dass es dir mehr oder weniger gut ging, aber die Chirurgen wussten nicht, ob sie das Stück ohne bleibende Schäden entfernen konnten.»

    «Darum erschießen sich die Leute so», fügte mein Bruder hinzu.

    «Außerdem hätte es deine Sprache beeinträchtigen können», fuhr meine Mutter fort. «Wenn dein Gaumen sich verformt hätte.»

    Durch die Deformierung begriff ich erst, dass ich eine eigene Gestalt besaß, zu der ich zurückfinden konnte wie meine Spielzeugkatze, die auf einer Trommel saß und deren Körperteile elastisch in Spannung gehalten wurden. Sobald ich auf die Unterseite der Trommel drückte, fiel die Katze auf die Knie oder sackte seitlich weg. Sobald ich die Finger wegnahm, schnellte sie mit tänzerischem Schwung zur Seite. Die Unmittelbarkeit, mit der sie ihre Gestalt veränderte und ruckzuck zurückerlangte, faszinierte mich ebenso wie die Zweideutigkeit ihres strahlenden Gesichtchens – begierig zu gefallen und gleichzeitig undurchdringlich.

    Bisher hatte sich mein Körper wie der jener Spielzeugkatze angefühlt, als Ansammlung von Einzelteilen. Wenn ich beispielsweise mit der Hand den Stab eines Heizstrahlers berührte oder mir einen Nagel in den Fuß trat, entdeckte ich, dass sie zu mir gehörten. Mittlerweile wusste ich, dass mein Mund meine Stimme formte und mein Gehirn genau dort war, direkt darüber. Dreißig Jahre später sah ich es kristallklar auf einem Röntgenbild, auf dem die obersten Wirbel meines Rückgrats meinen Kopf nach vorn stießen statt sich zurückzubiegen und meinen Schädel zu halten. Bei dem Unfall war mein Kopf so ruckartig nach hinten gestoßen worden, dass er diesen Vorfall seitdem kompensierte, was mir das Gefühl gab, kopflos in den nächsten Augenblick, Gedanken oder Satz zu kippen statt mich aufrecht anzunähern.

    Der Körper läppert sich also zusammen und die Welt weist mahnend auf die körperlichen Grenzen hin, wenngleich sie dabei erstaunlich gnädig sein kann. Mit acht Jahren sprang ich durch ein Fenster und erinnere mich bis heute, wie das Glas sich blähte und mich festhielt, bevor es in tausend Stücke zersprang. Ich schwebte in der Luft, war dem Verfolger entkommen, und wurde gehalten. Seitdem ist mir nie wieder etwas derart Friedliches begegnet. Ich trat aus dem Scherbenkreis wie eine Leiche aus dem Kreideumriss und trug nur Kratzer auf beiden Knien davon.

    Diese Zusammenstöße mit der Welt zeigten mir ihr Wesen und ihre Gesetze sowie die meinen auf. Ich hatte getanzt, bevor ich meinen Körper kennengelernt hatte, ohne zu verstehen, was mich bewegte. Musik war es damals noch nicht.

    2

    DAPPLES AND GREYS

    Oder es sang eine Stimme und reichte ein Stück weit aus der Erwartung heraus …

    RAINER MARIA RILKE, DIE GROSSE NACHT²

    Die Frauen in unserer Familie haben die gleiche Stimme. Am Telefon kann niemand meine Mutter, meine Schwester, meine Tochter und mich auseinanderhalten. Zeitweise spule ich den Anrufbeantworter zurück und habe das Gefühl, ich hätte mir selbst eine Nachricht hinterlassen. Beim Gesang sticht jedoch der glasklare Sopran meiner Mutter hervor. Wir anderen haben trockene tiefe Singstimmen. In der Kirche und bei Konzerten haben wir Mühe; wenn die Oberstimmen in die Höhe gehen, brechen wir ein, warten und konzentrieren uns auf die Begleitstimmen.

    Meine Mutter wurde nie laut. Als Ärztin war sie klinisch pragmatisch. Wenn sie sich einen Finger ausrenkte, verarztete sie sich selbst. Wenn die Zeit nicht reichte, einen Kuchen zu backen, servierte sie die Backmischung roh als Pudding. Wenn es ihr nicht gelang, vier Kinder nachts in ihren Betten zu halten, fixierte sie uns mit Laufgeschirren für Kleinkinder. (Zeitweise erinnerten wir sie selbst daran, indem wir «Zügel! Zügel!» riefen). Ihre Übersicht war atemberaubend und befreiend und gleichzeitig auf eine gewisse Weise zu klar. Manchmal wollte ich einfach nicht mehr sehen als das, was ich erwartet hatte.

    Selbst wenn Fragen bereits formuliert sind, kann es unmöglich sein, sie zu stellen. Meine Mutter war so zurückgezogen und ich derart geprägt, sie nicht zu kennen, dass ich sie niemals gefragt hätte, mit wem sie zu Mittag gegessen hatte, geschweige denn, wie es ihr ging. Allerdings enthüllen wir beim Singen einen Teil unseres Wesens, den wir in der Sprechstimme verbergen können. Als würden wir die Tür zu einer inneren Akustik öffnen, und die Akustik der Stimme meiner Mutter war der absolute Raum. Wenn sie mich in den Schlaf sang, schenkte sie mir Frieden, doch es war, als würde ich in Leere gewickelt. Ich fühlte Liebe und Unendlichkeit, und sobald ich singe, treten diese Gefühle erneut hervor.

    Was wir einem Kind vorsingen, das zu jung zum Mitsingen ist, ist vielleicht ebenso wenig gesteuert, wie wenn wir vor uns hinsingen. Meine Mutter sang keine Klagelieder, aber die zurückgenommene Stimmung von ‹Greensleeves› oder ‹Scarborough Fair› wurde mir durch ihre Stimme klarer als durch die Worte, sobald ich sie endlich verstand. Als ich noch zu jung war, um einer Geschichte in Gänze zu folgen, hielt ich mich an Kleinigkeiten fest, die ihre Stimme mit forensischer Sorgfalt darlegte (mein Vater hatte sie erstmals in dem Sezierraum einer medizinischen Hochschule gesehen, als sie eine Leiche obduzierte): ein großes Beiboot, eine enge Gasse, ein Batisthemd, all die hübschen Pferdchen.

    Volkslieder, Schlager und Seemannslieder wurden von Pathos befreit und ihre Bilderwelt in Licht und Schatten geklärt. In ‹What Shall We Do With the Drunken Sailor?› war kein Hauch von Rum, Meersalz oder fröhlichen Matrosen zu hören. Für mich persönlich hing es an dem Vers: «Put him in the longboat until he’s sober.» Ich stellte mir eine hohe Schiffswand vor, den dunklen, tiefen Abgrund irgendwo, nicht auf dem Wasser treibend, sondern abseits, einen Ort der Bestrafung oder der Ruhe – was wusste ich? In dem Lied ‹Cockles and Mussels› schob Molly Malone ihre Schubkarre durch breite Straßen und enge Gassen und auch hier dockte meine Vorstellungskraft an dem kleinen Mädchen und den hochaufragenden Häusern an – an der Fantasie, das allein im Dunkeln zu erdulden. Das seltsam düstere Lied ‹Pretty Little Horses› faszinierte mich besonders und wenn meine Mutter über «Blacks and bays, dapples and greys» sang, flirrten sie durch meine Gedanken wie Sonnenstrahlen übers Wasser. An anderer Stelle sog ich das Wesentliche aus dem Klang: das «cambric shirt» aus ‹Scarborough Fair› mit seinem groben Saum aus zwei c’s, die einem in der Kehle stecken blieben; oder aus der dehnbaren Länge des nachgezogenen ‹Greensleeves›, woran das Lied wiederholt zupfte.

    Bevor wir alt genug waren, um mit dem Bus zu fahren, brachte meine Mutter uns zur Schule, hin und wieder auch im Morgenrock. Mein jüngster Bruder schlingerte als Wickelkind über die Rückbank, während wir Älteren uns zankten und sie sang: «Who will buy this wonderful morning? Such a sky you never did see …» Heute ist mir klar, dass das vermutlich ironisch gemeint war. Aber vielleicht wollte sie uns doch darauf aufmerksam machen, wie wundervoll der Morgen tatsächlich war.

    Wir singen nicht, wenn wir gehetzt sind. Der Gesang meiner Mutter war Teil ihrer Coolness, wie die kühle weiße Hand, die sie allmorgendlich auf meine Wange legte, um mich zu wecken, oder ihre kühle Art, mich festzuhalten, wenn ich in Rage geriet, als wäre sie aus Marmor und ich aus brodelndem Matsch. Bei ihrer hochmütigen Ausstrahlung konnte man sicher sein, dass sie im Fall einer Autopanne in ihrem rüschenbesetzten himmelblauen Morgenmantel notfalls hocherhobenen Hauptes durch London stolzieren würde. Sie hatte noch immer die königliche Haltung einer Debütantin, außerdem wäre es ihr scheißegal gewesen. So wie sie alles für uns getan hätte, würde sie auch alles andere tun.

    Diese besungene Welt war in ihrer Wahrhaftigkeit beschaulich wenngleich nicht sonderlich bequem. Sie schickte mich in den Weltraum und schon sehr früh entwickelte sich die Vorstellung von den Tiefen des Alls zu einer Quelle des Trostes. Ich schloss die Augen und vertraute der Stimme meiner Mutter, selbst wenn sie mich loszulassen schien, denn ich begriff, dass dieses Loslassen aus Liebe geschah.

    3

    EINE VOM BLITZ GETROFFENE WOLKE

    Die Katze ging hierhin und dorthin,

    Und der Mond wie ein Kreisel sich dreht,

    Und die nächste Verwandte vom Mond,

    Die schleichende Katze, sie steht.

    W. B. YEATS, DIE KATZE UND DER MOND³

    Als ich so klein war, dass ich wie eine Katze nichts von Spiegeln wusste, sang und tanzte ich vor mich hin.

    Ich war das zweite von vier Kindern und wuchs in der Stadt auf, wo das Leben überwiegend aus Bewegung und Lärm bestand. Sobald ich sang oder tanzte, nahm ein Teil des Lebens Gestalt an.

    Ob ich ein lautes Kind war? Ich machte Krach, um Menschen heranzuholen, aber auch, um sie fortzuschicken. Woher sollten sie meine jeweilige Absicht erkennen? Beziehungsweise ich selbst? Handelte es sich um Kriegsgeheul oder doch eher um ein Liebeslied? Einen anmutigen Anblick oder einen Kraftakt? War es hässlich oder schön? Wir vier Kinder hielten den Lärmpegel als eine Form von Wachsamkeit hoch. Er klang nach Steinen, die aneinandergeschlagen wurden, Schwertern, die auf Schilder eintrommelten, stampfenden Stiefeln und Flugzeugen im Sturzflug. Wie viel Tanz und Gesang kamen dabei heraus?

    Meine Familie gab mir Halt. Bei aller Kompliziertheit war sie stark, eine Maschine, die das Leben in Gang hielt, sodass ich es nicht selbst tun musste. Sie beschützte mich auch. Ungefähr bis ich elf wurde, war ich nicht dafür geschaffen, Gestalt anzunehmen.

    Ich war zu Entzücken und Furcht gleichermaßen in der Lage und erlitt keinerlei ungewöhnliche Traumata. Der Eindruck war ausschlaggebend. Jede Erfahrung war traumatisch.

    Der Lärm, den wir veranstalteten, gefiel mir grundsätzlich, und doch war mir das Leben zu laut, und da ich die Lautstärke nicht herunterdrehen konnte, nahm ich mich selbst zurück. Zuvor hatte ich mich wie eine vom Blitz getroffene Wolke gefühlt. So hatte jemand einmal das Gefühl beschrieben, in mich verliebt zu sein, und man könnte sagen, ich war verliebt darin, wie das Leben auf mich einwirkte.

    4

    KREISEND HÜPFTEN SIE BALD

    Kreisend hüpften sie bald mit

    schöngemessenen Tritten

    Leicht herum, so wie oft die befestigte Scheibe der Töpfer

    Sitzend mit prüfenden Händen herumdreht, ob sie auch laufe.

    Bald dann hüpften sie wieder in Ordnungen gegeneinander.

    HOMER, DIE ILIAS, 18. GESANG

    Wenn Kinder auf andere Kinder treffen, müssen sie etwas tun – spielen oder kämpfen. Unsere Spiele waren ungeordnet, ihre Regeln boten Stoff für weitere Meta-Spiele. Da wir vier jeweils im Abstand von zwanzig Monaten geboren worden waren, basierten diese Spiele vor allem auf dem Wunsch, einander umzubringen. Ich überredete meinen älteren Bruder, in eine Gondel zu klettern, weil ich wusste, dass der Sitz ausgehakt war. Er verlor den Halt, fiel herunter und schlug sich beim Aufprall auf dem Weg den Kopf blutig. Er dagegen forderte mich heraus, eine Wespe zu essen, auf ein Dach zu steigen oder vom Baum zu springen. Er verließ sich darauf, dass ich mich nicht verweigern konnte. Wenn wir etwas bauten, machte mein jüngerer Bruder ein Spiel daraus, uns mit Ziegelsteinen zu bewerfen. Meine Schwester war stiller, dadurch aber umso angsteinflößender. Wenn ich lesend in einem Sessel saß, schlich sie sich gerne an und drückte mir die Kehle zu.

    Vier war in jeder Hinsicht eine schlechte Zahl. Zwei können einzeln tanzen und viele Menschen in einem Raum können zusammen tanzen. Sechs bilden einen anständigen Kreis. Aber können Sie sich vorstellen, wie vier Menschen tanzen sollen? Es würde merkwürdig wirken – zwischen Intimität und feierlichem Anlass. Während zwei einen konzentrierten Gegensatz bilden, drei eindeutig aus dem Gleichgewicht sind und fünf zahlreiche Orientierungsmöglichkeiten haben, wirken vier zu offensichtlich. Man kann höchstens Spannung aufbauen, wenn es drei gegen einen steht, und da ich meinem älteren Bruder zu nah war, als dass ich ihn hätte bewundern können, gleichzeitig aber selbst zu nah an den Jüngeren, um meinerseits bewundert zu werden, war ich diese einzelne Person.

    Als ich mit fünf in die Schule kam, musste ich das Kämpfen als Ausdruck meiner Persönlichkeit aufgeben. Gleichzeitig entwickelte sich Tanzen unvermittelt zu etwas Gefährlichem. In der Schule musste ich stillsitzen und den Mund halten, aufstehen, wenn der Lehrer in den Raum kam, mich im Gang links halten, nur in den Pausen zur Toilette gehen, in der Vollversammlung mit verschränkten Armen im Schneidersitz sitzen,

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