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Modern Girl: Mein Leben mit Sleater-Kinney
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eBook317 Seiten4 Stunden

Modern Girl: Mein Leben mit Sleater-Kinney

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Über dieses E-Book

Mit klarem, offenem Blick erzählt Carrie Brownstein vom Aufwachsen in einer Kleinstadtidylle, deren Fassade früh zu bröckeln beginnt, vom Leben vor, mit und nach einer der bekanntesten Punkbands der USA und von dem Versuch, sich selbst in und außerhalb der Musik zu finden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBenevento
Erscheinungsdatum8. Okt. 2016
ISBN9783710950131
Modern Girl: Mein Leben mit Sleater-Kinney

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    Buchvorschau

    Modern Girl - Carrie Brownstein

    CARRIE BROWNSTEIN

    Modern Girl

    Mein Leben mit Sleater-Kinney

    Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs

    Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

    Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

    Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

    Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

    Hunger Makes Me a Modern Girl bei Riverhead, New York.

    Copyright © by Carrie Brownstein

    Alle Rechte der deutschen Ausgabe

    © 2016 Benevento Publishing,

    eine Marke der Red Bull Media House GmbH,

    Wals bei Salzburg

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

    Red Bull Media House GmbH

    Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

    5071 Wals bei Salzburg, Österreich

    Übersetzung: Stefanie Jacobs

    Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

    E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

    ISBN 978-3-7109-5013-1

    Für Corin und Janet

    Prolog: 2006

    PROLOG: 2006

    Auf dieser Tournee wollte ich nur eins: mir die Hand in einer Tür einklemmen und sämtliche Finger brechen. Dann könnte ich nach Hause fahren.

    Ich hatte auf der rechten Körperseite eine Gürtelrose, ein mustergültiges Dreieck aus kleinen Bläschen, das stechend pulsierte, als stünde es unter Strom. Nachts bekam ich kaum ein Auge zu deswegen und wälzte mich in irgendeinem schmuddeligen europäischen Hotelzimmer in einem Doppelbett herum, während keinen halben Meter neben mir eine Bandkameradin schlief.

    Tagsüber, auf den langen Fahrten von einer europäischen Großstadt zur nächsten, saß ich hinten in einem Mercedes Sprinter, im Rücken die harte, völlig unnachgiebige Hand der starren Sitzbank. Ich sah mir auf dem Computer DVDs an, die erste Staffel einer amerikanischen Serie, in der es darum geht, wie man einen Gefängnisausbruch plant. Ab und zu betrachtete ich meine Finger und überlegte, wie hart ich die Tür wohl zuschlagen müsste.

    Am 27. Mai kam ich mit meiner Band Sleater-Kinney in Brüssel an, wo wir in einem Laden namens Le Botanique spielten. Die Gürtelrose machte mich zur Einzelgängerin. Janet hatte als Kind nie die Windpocken gehabt und konnte sich bei mir anstecken. Nachdem sie mit ihrer Schwester telefoniert hatte, Ärztin in L.A., geisterte das Wort »Tröpfcheninfektion« herum. Aber ich fühlte mich sowieso schon kaum noch wahrnehmbar, schwerelos und außerhalb meiner selbst, eine Ansammlung frei schwebender Partikel, die sich ab und an zufällig zu etwas Menschlichem mit Armen und Beinen zusammenfügten. So eine Tour setzt einen vollkommen neu zusammen; auch ohne eine zusätzliche Krankheit oder ein Gebrechen führt man eine eher bruchstückhafte Existenz, deren einzelne Teile nicht recht zusammenpassen. Aber jetzt fand ich den Boden nicht mehr, ich war außerhalb des Raums, außerhalb meiner selbst. Vor der Show saßen wir zu dritt backstage herum: Neonröhren, ein Spiegel, Eiskübel und eine zerpflückte Catering-Platte. Corin half mir vorsichtig, mein Shirt am Rücken zuzuknöpfen, und achtete peinlich darauf, mich nicht zu berühren und mir nicht zu nahe zu kommen. Ist schon okay, dachte ich, das ist nicht mein Körper, ich bin gar nicht da. In wenigen Augenblicken begann unser Auftritt und ich spürte rein gar nichts.

    Sleater-Kinney war meine Familie, die längste Beziehung, die ich je gehabt hatte; die Band kannte meine Geheimnisse, mein tiefstes Inneres, sie strömte durch meine Adern und hatte mir zahllose Male das Leben gerettet, sie liebte mich auch dann noch, wenn ich gemein zu ihr war, und könnte die erste bedingungslose Liebe gewesen sein, die ich je erfahren hatte. Und ich war gerade dabei, Sleater-Kinney zu zerstören.

    TEIL EINS // JUGEND

    TEIL EINS

    JUGEND

    1. Der Klang des Hier und Jetzt

    1

    DER KLANG DES HIER UND JETZT

    Ich fühlte mich schon immer, als würde ich nicht dazugehören. Ich möchte davon erzählen, wie ich mir ein Territorium erschuf, etwas, das mehr als ein Archipel von Identitäten war und mir Halt geben konnte. Einen Ort, an den ich gehörte.

    Meine Geschichte beginnt mit mir als Fan. Und ein Fan weiß, dass Lieben seliger ist als Geliebtwerden. All die Zuneigung, die ich auf Bands, Filme, Schauspieler und Musiker richtete, hatte mit mir und meinen Freunden zu tun. Auf der Highschool war ich einmal bei einem Konzert der B-52s. Ich drückte mich gegen die Absperrung, bis meine Rippen grün und blau gestoßen waren, und sah fasziniert zu, wie Kate Pierson aus einer Wasserflasche trank, nur um dann von meiner besten Freundin zu hören, dass es bei dem Konzert für sie gar nicht um die Band ging, sondern um uns, um die Tatsache, dass wir zusammen hier waren, und dass die Musik an sich für unsere Welt zweitrangig sei, ihr bloß Farbe verlieh und sie bezeugte. Deshalb klingen die alten Platten aus Highschool-Zeiten auch alle so gut. Nicht weil die Songs besser gewesen wären, nein, sondern weil wir sie zusammen mit unseren Freunden gehört haben, weil wir mit schwitzigen Handflächen stundenlang ein Poster an der Wand anstarrten, zum ersten Mal Hochprozentiges intus hatten und kein bisschen angeekelt waren von Teppichböden, Schmutz oder öligen, zerknitterten Bettlaken. Diese Songs und Alben waren die besten, weil sich die Jugend damals so riesig anfühlte und die Nostalgie sie heute so laut darin widerhallen lässt.

    Nostalgie ist eine sichere Sache: Die Vertrautheit, die sie in uns erweckt, gibt uns das Gefühl, uns zu kennen, schon gelebt zu haben. Zu glauben, dass wir schon etwas durchlebt haben – es überlebt und als Erfahrung abgespeichert haben –, ist oft sehr viel einfacher und weniger verworren als die Aufgaben, vor die uns die Gegenwart stellt. Auch wenn Nostalgie schwer greifbar ist, das Schwelgen darin ist wunderbar – man sieht die Vergangenheit noch einmal in Farbe. Die Erinnerung der Sinne simuliert vorübergehend einen Kontext. Nostalgie ist Erinnern ohne das kritische Urteil des Hier und Jetzt, man sieht nur das Gute, erinnert sich ohne Schmerz. Außerdem verlangt Nostalgie nichts weiter von uns, als wahrgenommen und betrachtet zu werden; anders als die Gegenwart will sie nicht verhandelt werden, erspart einem Schmerz und Unsicherheit.

    Einige dieser Platten kann ich mir heute nicht allein anhören, inmitten säuberlich sortierter Bücher und frischer Bettwäsche in meinem geputzten und aufgeräumten Haus. Die Songs halten nicht mehr, was sie versprechen. In solchen Fällen beruht das Fan-Sein vor allem auf dem Kontext und den eigenen Erfahrungen: Wichtig ist nicht, was war, sondern dass man dabei war. Es ist an ein Wann und ein Wo gebunden. Fan-Sein ist in eine bestimmte Umgebung eingebettet, und wenn man die Musik aus diesem Kontext herausreißt, fühlt es sich oft befremdlich und desorientierend an, vor allem aber enttäuschend. Ich denke nur daran, wie oft ich, wenn ein Freund oder eine Freundin zu Besuch war, alte Platten aus Highschool- oder College-Zeiten hervorgeholt habe und bereit war mitzuerleben, wie das Album das Leben eines anderen so verändert, wie es meines verändert hatte. Ich beobachtete das Gesicht meiner Freundin, wartete gespannt auf den »Aha!«-Effekt, merkte dann aber schnell, dass meine Vernarrtheit in diese absichtlich leicht schiefe Gesangspassage, diese ausgelutschten Basstöne und den Text über Kaninchen nicht mehr ganz dieselbe Offenbarung waren wie vor fünfzehn Jahren. »Du hättest einfach dabei sein müssen« – das ist nicht immer eine verzückte Bemerkung oder ein Tadel, oft ist es eine Erklärung, warum etwas einfach nur grottig klingt.

    Aber es gibt auch eine Menge Musik, die ohne den Bezugspunkt der Erfahrung auskommt und es übersteht, wenn sie aus einem Kontext herausgerissen und in einen anderen eingefügt wird. Auch in diesem Fall ist die Rolle des Fans die eines Teilhabenden, wobei teilhaben bedeutet, sich das völlige Eintauchen zu gestatten, sich selbst zurückzunehmen und bereitwillig auszulöschen, zugunsten einer größeren Bedeutung, aber auch, um Bedeutung zu verleihen. Es ist eine Symbiose. Die wertvollsten musikalischen Erfahrungen sind für mich die, nach denen mein Herz randvoll und irgendwie verwandelt ist, so als würde es ganz neues Blut durch meine Adern pumpen. Das bedeutet Fan-Sein: neugierig und offen sein, sich nach Verbindung sehnen und das Gefühl haben, die Kunst hätte einen erwählt, als Zeugin in Anspruch genommen.

    Ich wuchs am Stadtrand von Seattle auf, die meiste Zeit in Redmond, Washington, einem vormals ländlichen Städtchen, das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts quasi gleichbedeutend mit Microsoft war. Viele Städte verspotten oder verleugnen die Bewohner ihrer Vorstädte und halten sie für Hinterwäldler, und obwohl Seattle mein Leitstern und meine Muse war, blieb es mir in gewisser Weise immer fremd. Meine Eltern, beide Juden und in Chicago aufgewachsen, nahmen die Religion des Weihnachtsfests schnell an, auch wenn ich die Übergangsjahre nicht unerwähnt lassen will, in denen die Geschenke am 25. Dezember morgens nach dem Aufwachen unter der Menora lagen. Der arme Weihnachtsmann, da kam er mitten in der Nacht bei uns an und hatte die Wahl zwischen der Menora und einer Topfpflanze. Als ich vierzehn war, ging meine Mutter weg, um sich heilen zu lassen, und ließ uns mit einer anderen Art von Krankheit und Sehnsucht zurück. Es war eine Kindheit der halben Sachen – nicht hier und nicht dort, nicht Fisch und nicht Fleisch.

    Vor der Highschool war jedes Konzert, das ich besuchte, ein Ereignis, ein Spektakel. Mein erstes war Madonna. Sie begann ihre Like a Virgin-Tournee in Seattle und spielte an drei Abenden im Paramount Theatre, in das kaum dreitausend Menschen passen. Es war 1985, und ich war in der fünften Klasse. Meine Vater und die Mutter einer Freundin trafen eine Vereinbarung: Sie quälte sich am Samstagmorgen zu unchristlicher Zeit aus dem Bett, um sich mit uns bei Ticketmaster anzustellen, während mein Dad sich die halbe Nacht um die Ohren schlagen und uns zum Konzert selbst begleiten würde.

    Ich plante mein Outfit. Ich wollte anziehen, was Mitte der Achtziger jeder weibliche Madonna-Fan trug, der etwas auf sich hielt: ein Brautkleid. Ich bat sogar meine Mom, mir ihres zu borgen, als könnte sie sich dadurch genauso geehrt fühlen wie durch die Bitte, es zu meiner echten zukünftigen Hochzeit tragen zu dürfen. »Das ist unpassend«, bekam ich von beiden Elternteilen zu hören, nicht nur in Bezug auf das Brautkleid, sondern auch auf mein Ansinnen, ein bauchfreies Oberteil mit nichts als einem schwarzen BH darunter anzuziehen. (Ich brauchte damals noch keinen.) Selbst fingerlose Spitzenhandschuhe kamen nicht in Frage. Am Ende ging ich in einer kurzärmligen Esprit-Bluse mit einem Streumuster aus Ananas und anderen exotischen Früchten, ein Outfit, mit dem ich es leider nicht in die Lokalzeitung schaffte, die einen großen Konzertbericht inklusive Fotos von Schlange stehenden Fans im Madonna-Look druckte. Als die Musik dann endlich begann, war mir egal, dass ich aussah wie eine Cocktail-Kellnerin in einem Badeort.

    Die Vorband bestand aus ein paar halbstarken Besserwissern, von denen niemand im Pazifischen Nordwesten je gehört hatte – sie hießen die Beastie Boys. Voller Vorfreude auf unser Idol buhten wir sie gemeinschaftlich aus. Dann kam Madonna auf die Bühne, und ich kann mich nur noch an zwei Dinge erinnern: dass sie mehrmals das Outfit wechselte und dass ich die ganze Zeit schrie.

    Als mein Vater und ich nach Hause kamen, konnte ich nicht schlafen. Immer wieder ging ich zu meiner Mutter ins Schlafzimmer, um ihr bis ins kleinste Detail zu berichten, welche Songs Madonna gespielt und wie sie ausgesehen hatte. »Sie ist total high«, sagte mein Vater lachend zu meiner Mutter. War ich wirklich. Ich werde diesen Moment nie vergessen, ein absolutes Hochgefühl, das für eine Weile alles überstrahlte. Egal wo ich hinsah, überall war Licht.

    Ein paar Jahre später in der Mittelstufe sah ich George Michael auf seiner Faith-Tournee. Er rannte in engen Jeans über die Bühne, von rechts nach links und wieder zurück, und von meinem Platz in der Mitte des Stadions aus wirkte er ganz klein, wie eine Actionfigur. Aber das Erlebnis selbst war riesig, unfassbar grandios – es waren die Olympischen Spiele, es war ein Berg, das Weltall. Irgendwann während des Konzerts drehte sich meine Freundin zu mir um und sagte: »Ich will George Michael einen blasen.« (Wir waren vierzehn.) Ich war verdattert. War ich nicht einfach nur da, um mir die Songs anzuhören, zu klatschen und »I want your sex« zu schreien, ohne wirklich Sex zu wollen? Aber als meine Freundin auf einmal Begehren – tatsächliches, körperliches Verlangen – in etwas hineinbrachte, das für mich bisher nur eine abstrakte Vorstellung gewesen war, musste ich darüber nachdenken, was die Musik in mir eigentlich auslöste. Und tatsächlich, ich stand inmitten Tausender Menschen, spürte einen leichten Schwindel und schwitzte. Ich musste einfach lächeln, mein Körper bebte und bewegte sich in mehr oder weniger unschuldigen Schlängelbewegungen, was sicherlich den Beigeschmack einer tieferen, instinktiven und ekstatischen Reaktion hatte. Ich sah wieder nach vorn und nickte zustimmend, ja, diese Musik ergriff einen von Kopf bis Fuß, umfassend und intensiv. Aber ich wusste schon in diesem Moment, dass ich viel lieber das Objekt der Begierde sein wollte, statt es vom Bühnenrand oder auf Knien anzuschmachten.

    Und trotzdem war die Musik, die ich mir zu Hause und auf Konzerten anhörte, in gewisser Weise auch rätselhaft und unzugänglich. Es waren die Achtziger, und vieles von dem, was ich mochte, war Synthie-Pop und Top-40-Musik, mehr programmiert als gespielt. Die Musik war im Raum und in meinem Körper, aber ich hatte keine Ahnung, wie sie zusammengesetzt worden war oder wie ich sie in ihre Bestandteile zerlegen sollte. Wenn ich zum Beispiel einen Madonna-Song lernen wollte, besorgte ich mir die Noten dazu und klimperte eine anämische Version davon auf dem Klavier, und es klang so dünn, dass ich »Like a Virgin« in unserem Wohnzimmer zu neuer Jungfräulichkeit verhalf. Ich studierte Bühnenchoreografien von David Lee Roth ein – das heißt, eine: die zu »Jump« – und trat bei einer Talentshow meiner ehemaligen Grundschule zusammen mit einer Sechstklässlerband, die Ratt’s »Round and Round« spielte, als Tänzerin auf. Ich blieb nur ein Fan, eine Nach-der-Schule-in-ihrem-Zimmer-Mitsingerin, eine Danke-dass-ihr-mich-ertragt-Entertainerin auf Familienfeiern, ohne dass ich mir den Sound je zu eigen gemacht hätte.

    Dann kaufte ich mir meine erste Gitarre und ging auf Punk- und Rockkonzerte.

    Wenn man sich in der Vorstadt seine erste Gitarre kauft, ähnelt das so gar nicht jenem sagenumwobenen Akt, den man aus unzähligen Büchern, Filmen und Interviews kennt. Es gibt keinen alten Blueser, der einem ein abgeschrammeltes, gut eingespieltes Instrument mit einem Griffbrett voll Blut und Schweiß schenkt, das magisch und doch mit einem Fluch belegt ist. Stattdessen geht man mit seiner Mom oder seinem Dad in einen mit Teppichboden ausgelegten Laden, in dem es nach Desinfektionsmittel riecht und alles funkelnagelneu ist, in dem andere Eltern ihren Kindern für die Schul-Jazzband Saxophone und Klarinetten ausleihen und wieder andere dem Sohnemann in aller Öffentlichkeit bescheiden, das Schlagzeug könne er sich abschminken, sie seien doch nicht verrückt. Das Billige, die No-Name-Instrumente, die ganze nichtssagende Einrichtung, all das schreit: »KAUFHAUS FÜR ALLE, DIE SICH NICHT FESTLEGEN WOLLEN«. Ich verließ den Laden mit einem kanadischen Transistorverstärker und einem kirschroten Stratocaster-Nachbau von Epiphone. Es war meine erste größere Anschaffung von meinem eigenen Geld. Ich war fünfzehn.

    Als in der zehnten Klasse die ersten meiner Freunde den Führerschein hatten, kam ich an den Wochenenden endlich raus aus der Vorstadt und nach Seattle. Wir gingen oft auf Konzerte, manche in großen Hallen wie im Moore oder im Paramount Theatre: The Church, die Ramones, Sonic Youth, The Jesus and Mary Chain. Aber meistens gingen wir in kleinere Clubs wie die Party Hall oder das OK Hotel und sahen uns Bands aus der Gegend an, Treepeople, Kill Sybil, Hammerbox, Engine Kid, Aspirin Feast, Galleons Lap, Christ on a Crutch und Positive Greed zum Beispiel. Hier kam ich dicht an die Musiker selbst heran. Ich beobachtete das Zusammenspiel von Schlagzeug, Gitarre und Bass, sah Finger über Griffbretter tanzen und Füße auf Effektpedale treten, sah auf den Boden geklebte Setlists und stand manchmal nah genug an der Bühne, um die Einstellungen von Verstärker oder Tonabnehmer zu erkennen. Ebenso aufmerksam wie ich zuhörte, beobachtete ich das Wesen der Bands, die Interaktion der Musiker und ihre jeweiligen Beziehungen zueinander. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich begriff zum ersten Mal, dass man Musik spielen und nicht nur auf der Bühne darstellen konnte – dass sie aus einem Keim gewachsen war, einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hatte.

    Jeder, der singt oder ein Instrument spielt, braucht einen Augenblick, der ihn entfacht und inspiriert, ihn in die Welt der Klänge ruft und in ihm den Drang weckt, eine eigene zu erschaffen. Diese Art von Zeugenschaft kann sicher rein akustisch geschehen; vielleicht braucht man einfach nur ein Riff von Andy Gill oder eine Bassline von Kim Gordon zu hören und weiß intuitiv, wie das Ganze funktioniert. Dann formt man diese Klänge selbst, mit den eigenen Fingern und der eigenen Stimme. Oder vielleicht sieht man es auf einem Video, in Aufnahmen von einem Musiker, der einem endlich übersetzt und offenbart, was man bisher für ein Buch mit sieben Siegeln hielt.

    Ich für meinen Teil musste dabei sein – Gitarristen wie Kim Warnick und Kurt Bloch von den Fastbacks oder Doug Martsch von Treepeople beobachten, wenn sie Akkorde und Leads spielten, oder Calvin Johnson und Heather Lewis von Beat Happening in ihrem unverwechselbaren Aufzug aus abgetragenen T-Shirts und Jeans-Shorts einen ganz eigenen, nerdigen Sexappeal inszenierten, seltsam minimalistisch und maximal pervers. Ihre Songs kamen nicht einfach so aus dem Nichts oder hinter einem Vorhang hervor, nein, sie spielten sie und ich konnte dabei zusehen. Ich musste mich gegen kleine Bühnen drücken und im unvorhersehbaren Wogen der Menge gebrochene Zehen und blaue Hüften riskieren, nur um einen Blick darauf zu erhaschen, wer ich sein wollte.

    2. Unterhaltung

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    Unterhaltung

    Meine Kindheit war ein einziges Zwiegespräch mit der Fantasie; eskapistisch und immer aufs Darstellen bedacht, führte ich Interviews mit den Postern und Bildern an meinen Zimmerwänden (ich hatte unzählige Fragen an Madonna, die Mitglieder von Duran Duran und Elvis), verwandelte das Wäldchen hinterm Haus in ein Restaurant (ich fegte den Waldboden und nagelte Bretter auf umgefallene Baumstämme, als Tische), brachte Stunden mit dem Ausbrüten und Aufnehmen einer Anrufbeantworteransage zu, die neben ihrem eigentlichen Zweck noch den eines Vorsprechens erfüllen sollte, und trat am Geburtstag meiner Schwester als Clown auf, damit meine Eltern keinen richtigen engagieren mussten. Wirklich präsent zu sein, war mir nicht so wichtig, ich wollte nur präsentabel sein oder wenigstens so tun.

    Ich war verzaubert von der Vergangenheit, vom Anachronistischen. Ich kam mir nicht wie am falschen Ort oder im falschen Zeitalter vor, es war nur so, dass sich meine Besessenheiten oft auf Vergangenes richteten. Ich vergötterte die alten Filmstars. Ich sah mir Schwarz-Weiß-Filme im Fernsehen an, programmierte den Videorekorder und nahm Opfer einer großen Liebe mit Bette Davis oder Preston Sturges’ Die Falschspielerin auf. Ich sammelte Bildbände mit Cecil-Beaton-Fotografien von Garbo, Marlene Dietrich, Cary Grant und Gary Cooper. Ich las Katharine Hepburns Bericht über die Dreharbeiten zu African Queen und kaufte mir James-Dean-Poster für mein Zimmer. Ich muss ungefähr zehn gewesen sein, als ich im Fernsehen eine Werbung für eine Time-Life-Schallplattenbox mit Doo-Wop-Songs sah, sie per Nachname bestellte und mich versteckte, als der Postbote mit dem Päckchen vor der Tür stand, während meine Mom bezahlte, um den Schein zu wahren. Die Peinlichkeit, die ich meiner Mutter bescherte – dass sie für einen Moment die Vorstadthausfrau geben musste, die nichts Besseres zu tun hat, als im Fernsehen Platten zu bestellen, die sie beim Staubsaugen hören kann – und auch die spätere Standpauke waren es wert. Jetzt konnte ich zu so altmodischen Gassenhauern wie »A Little Bit of Soap« und »A Teenager in Love« durchs Wohnzimmer tanzen.

    Ich glaubte nicht, dass die Welt früher besser war als mein Leben in der Gegenwart, aber ich spürte eine Verbindung, eine Sehnsucht nach dem Glamour und den ikonischen Bildern, die unantastbar und monolithisch wirkten. Es lag eine Stille in der Vergangenheit, eine Klarheit, das Geschehene war gewissermaßen definiert und aufgegliedert worden, und jetzt brauchte man nur danach zu greifen und konnte die Schätze bergen. Die alten Songs, die alten Filme und die Schwarz-Weiß-Fotos wirkten wie eine visuelle und akustische Zeitmaschine. Ich malte mir kein anderes Leben aus, nein – ich wollte mich nur dem Hier und Jetzt entziehen. Es war eine vollständige und befreiende Selbstauslöschung.

    Was nicht hieß, dass ich keine Verbindung zu Menschen herzustellen versuchte, durch deren Adern noch Blut floss – nur eben nicht zu Menschen, die ich kannte, oder die irgendwo in meiner Nähe lebten. In den Achtzigern war es üblich, Brieffreunde zu haben, je exotischer ihre Herkunft, desto besser. Was ich an Kontakten aufzubieten hatte, machte geografisch nicht viel her. Ich schrieb mir mit ein paar Ferienbekanntschaften aus dem Zeltlager, die aber bloß am anderen Ende von Washington State wohnten oder zehn Minuten entfernt, aber auf eine andere Schule gingen, was genauso gut in Übersee hätte sein können, denn ich war jung und besaß kein Auto. Die fernste Post, die mich je erreichte, kam aus British Columbia, von einem Mädchen, das ich bei einem Fußballaustausch kennengelernt hatte. Freunde dagegen bekamen Briefe aus exotischen, entlegenen Ländern wie Frankreich oder Vietnam. Sie brachten die dünnen, hellblauen Luftpostumschläge mit in die Schule, und wir beugten uns verzückt über die fremden Briefmarken und die zierlichen Zeilen – So eine winzige Schrift! So hübsch kann Englisch wirklich sein? –, so wie man sich über einen Korb voll flauschiger Kätzchen beugen würde. Es entstand ein gewisser Wettbewerbsgeist. Ich überlegte, was eine Brieffreundschaft mit jemandem aus Asien oder Europa noch toppen könnte. Na klar – eine mit Hollywood natürlich!

    Auf der letzten Seite meiner Teenie-Zeitschriften wie Bop oder 16 standen die Adressen aller Film- und Fernsehstars, die ich toll fand – nicht die Privatadressen natürlich, eher so etwas wie Ralph Macchio, c/o irgendein Studio oder irgendeine Agentur, oder ein Postfach, das angeblich von Ricky Schroder geleert wurde. Also schrieb ich ihnen Briefe. Aber der Plan floppte. Es kam nichts zurück, kein einziger Brief, nicht einmal ein Foto mit einem Autogrammstempel darauf. Bald

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