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Die Fischtreppe: Eine Reise flussaufwärts
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Die Fischtreppe: Eine Reise flussaufwärts
eBook308 Seiten4 Stunden

Die Fischtreppe: Eine Reise flussaufwärts

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Über dieses E-Book

Als Neugeborenes war Katharine Norbury in einem Liverpooler Kloster zurückgelassen worden. Ihre Adoptiveltern zogen sie liebevoll auf, lehrten sie, die Wunder der Natur zu erkennen, und doch hatte sie stets das Gefühl, etwas Unnennbares zu vermissen. Nach der Diagnose einer schweren Krankheit und der Fehlgeburt eines lang ersehnten zweiten Kindes beschließt sie, zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter Evie einem Flusslauf von der Meermündung bis zu dessen Quelle zu folgen. Was als Trauerarbeit und Ablenkung gedacht war, gerät im Laufe der Reise durch eine beeindruckende Natur mehr und mehr zu einer Suche nach dem Leben selbst. Am Ende findet Katharine nicht nur die Quelle des Flusses, sondern auch ihren eigenen
Ursprung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2017
ISBN9783957574879
Die Fischtreppe: Eine Reise flussaufwärts

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    Buchvorschau

    Die Fischtreppe - Katharine Norbury

    Anmerkungen

    Teil I

    Nicht wenig Elend und Verwirrung kommen daher, dass wir durch eigene Schuld uns selbst nicht verstehen und nicht wissen, wer wir sind. Erschiene es nicht als eine schreckliche Unwissenheit, meine Töchter, wenn jemand keine Antwort wüsste auf die Frage, wer er ist, wer seine Eltern sind und aus welchem Lande er stammt?

    Teresa von Avila

    Font del Mont

    Unser Thema für diesen Sommer lautet: Vom Meer zur Quelle – wir gehen an Wasserläufen entlang.

    Der erste Ferientag. Meine neunjährige Tochter Evie nahm ihr Tagebuch. Sie schrieb meinen Satz auf, unterstrich ihn und verwandelte ihn so in eine Überschrift. Über dem kegelförmigen Gipfel des Garn Fadryn hinter ihr kreiste, als Rußflecken sichtbar, ein Dutzend Krähen.

    »Was ist ein Wasserlauf?«, fragte sie.

    »Ein Wasserlauf ist der Weg, dem das Wasser folgt. Und er kann alles sein: ein rieselnder Bach oder auch ein mächtiger Strom.«

    »Und die Quelle?«

    »Da kommen alle Wasserläufe her.«

    »Entspringen dort, stimmt’s?«

    »Ja. In einem Teich, aus einem Felsspalt oder als Springquell. Ich habe eigentlich nie darüber nachgedacht.«

    Evie schaute mich an und legte ihren Stift hin. »Wie fangen wir an?«

    Dies ist die Geschichte meiner Spaziergänge und Wanderungen – oft zusammen mit Evie. Es begann damit, dass wir uns etwas vornehmen mussten, um einen ansonsten verdorbenen Sommer zu überstehen. Denn ich war im vorhergehenden Winter schwanger gewesen, hatte aber das Baby im Frühjahr verloren.

    Seit dem Tag, an dem sich ein rosa Streifen auf dem Plastikstäbchen des Schwangerschaftstests gezeigt hatte, war die Atmosphäre bei uns zu Hause angespannt. Ich freute mich, war aufgeregt, ja, überglücklich. Mein Mann Rupert hatte Bedenken. Wir lebten zu der Zeit in Barcelona, weil der Euro gegenüber dem Pfund schwach war, doch das änderte sich gerade. Evie war begeistert und schrieb ein Gedicht mit dem Titel »Mein kleiner Bruder«, das in der Schule an die Wand gehängt wurde. Rupert und ich stritten uns fast jeden Tag. Mir war übel, ich musste mich häufig erbrechen und wertete das als ein gutes Zeichen. Statistisch gesehen lag die Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt aufgrund meines Alters bei fünfzig Prozent. Ich aber war überzeugt, es würde alles gutgehen.

    Als die Anzeichen neuen Lebens schwächer wurden, blieb ich im Bett und redete mir ein, das Kind wachse. Obwohl sich alles anders anfühlte als bei Evie. Der Schlafwandler in mir schien meist tief und fest zu schlafen, doch dann war die Ruhe profunder; eines Tages hörte das Herz des Babys ganz auf zu schlagen. Mein Arzt legte mir nahe, die Geburt einleiten zu lassen. Aber ich liebte ihn – ich war sicher, es war ein Junge – und wollte nicht, dass er mich verließ. Ich beschloss, ihn so lange ruhen zu lassen, wie er wollte.

    Fast jeden Tag ging ich auf den Tibidabo, den Berg zwischen Barcelona und dem Hinterland, auf dessen Tälern und Anhöhen immer reges Treiben herrschte. Nachdem meine Freundin Olga und ich eines Morgens die Kinder zur Schule gebracht hatten, wanderten wir einen der vielen schmalen Pfade hinauf zur Kammstraße, die Carretera de les Aigües. Olga fluchte leise, schwor, das Rauchen aufzugeben, und schob sich immer wieder das lange Haar hinters Ohr. Auf dem Tibidabo standen Pinien, Feigen und Kakteen, dazwischen tummelten sich Wildschweine, ein paar Schafherden und gelegentlich Spieler des FC Barcelona, die oberhalb ihres Stadions, dem Camp Nou, auf der unbefestigten Straße trainierten. Man sah Jogger und Morgenspaziergänger, je nachdem, mit Kinderwagen und Hunden, Radfahrer in ihrem engen Lycraoutfit, mit den glotzäugigen Brillen. Schwalben schossen zwitschernd vorbei. Trotz des Waldes war der Berg hell, denn das Mittelmeer, wie ein Schleier an den Saum der Stadt geheftet, spiegelte das Licht in die dunkelsten Schluchten und vertrieb die Schatten. Zu dieser Jahreszeit war der Berg dicht mit Wüstenblumen bewachsen, mit Agaven, verkrüppelten rosa Rosensträuchern, weit geöffnetem gelbem Mohn, Rosmarinbüschen mit ihren fusseligen blauen Blüten. Olga zeigte mir Stellen, wo man später im Jahr Pilze sammeln und in der Saison wilden Spargel ernten konnte, der bitter schmeckte wie dünne Algen.

    Am südlichsten Kamm des Tibidabo entsprang eine Süßwasserquelle, die Font del Mont. Man gelangte über eine Straße hinter dem Bergrücken zu ihr, und jeden Tag standen dort ältere katalanische Männer mit breiten Hosenträgern und orthopädischen Schuhen Schlange, in der Hand Plastikbehälter. Sie stützten sich auf knorrige Stöcke, die auch als Pilzstocher dienten. Über der Quelle hatte man einen Steinhaufen errichtet und das Wasser durch ein Stahlrohr geleitet, von wo es in einen Plastikeisbehälter floss und sich dann einfach auf den Boden ergoss. Hunde, die ihren Besitzern vorausgelaufen waren, versammelten sich in wechselnden Gruppen um den Behälter und wedelten mit den Schwänzen Staub auf. Die alten Männer winkten uns an der Schlange vorbei, damit wir unsere Wasserflaschen auffüllen konnten, kurze Blicke streiften über meinen leicht gewölbten Bauch. Wir fragten sie, ob an dem Wasser etwas Besonderes sei, ob es Heilkräfte besitze. Sie schauten uns an, als seien wir verrückt, und lachten. »Es ist Wasser«, sagten sie. »Und es ist gratis!«

    Bei Olga zu Hause erwartete uns schon ihre Mutter mit einem Auflauf aus Kalbfleisch, Eiern und Erbsen. Sie sprach Katalanisch mit mir, und Olga übersetzte. »Liebes, du musst genug Eiweiß essen. Und viel, viel trinken.« Zu Hause bestückte ich den Kühlschrank mit isotonischen Getränken, die für einen Marathon gereicht hätten.

    Das Baby beschloss, meinen Körper fast einen Monat, nachdem sein Herz stehen geblieben war, zu verlassen. Wir waren zu Hause, Evie schlief, Olgas Nummer steckte am Telefon, Rupert war zur Premiere eines Films in London, der Verfilmung eines seiner Bücher. Den genauen Zeitpunkt, zu dem es geschehen würde, hatte man nicht bestimmen können, und das übrige Leben sollte deshalb nicht stillstehen.

    Zu Beginn des Sommers begriff ich, dass unser Baby hätte bei uns sein sollen, in meinen Armen liegen, warm und knuddelig und nach Sonne duften, und ich sah ein, dass ich nur unter großen Anstrengungen mein Leben bewältigen konnte. Nicht zum ersten Mal fiel mir in einer Zeit der Trauer alles entsetzlich schwer, nicht zum ersten Mal erlebte ich, wie die Welt mich in einer engen, harten Kapsel einschloss, und nachdem es mir wieder besser ging, sagte ich sogar, meine Angst vorm Wahnsinnigwerden sei nun viel größer als die vorm Sterben. Schließlich stellte sich das aber als ebenso unbedachte wie oberflächliche Bemerkung heraus, es stimmte absolut nicht, und ich sollte Gelegenheit haben, meine Einstellung gründlich zu revidieren.

    Da ich eine Tochter hatte und wegen ihr stark sein musste, suchte ich etwas, das die Luft weiter atembar, den Klang des Windes weiter hörbar machte und den Geruch eines Holzfeuers oder den ätzenden Geschmack des Meersalzes auf meiner Zunge bewahrte. Etwas, das eine mögliche – Depression ist ein viel zu vages Wort –, einen möglichen Stillstand verhinderte.

    Ich hatte also die Idee, einem Fluss vom Meer bis zur Quelle zu folgen. Ich kam auf Umwegen dazu, und ich will Ihnen davon erzählen, obwohl ich es lange nicht schaffte, sie in die Tat umzusetzen. Ja, der Plan rückte so schnell in den Hintergrund, dass bald schon alles, was überhaupt mit Wasser zu tun hatte, ausreichte. Doch während der Sommer verging, merkte ich, dass ich mich auf eine Reise zum Beginn des Lebens selbst begeben wollte. Nicht im abstrakten oder metaphorischen Sinn, es ging nicht darum, wer wir sind und was wir hier wollen. Sondern ich unternahm eine tatsächliche Reise zum Ursprung meines Lebens. Denn obwohl meine Kindheit glücklich gewesen war und ich als Erwachsene ein erfülltes, wenn auch kein besonderes oder bemerkenswertes Leben führte, waren meine Anfänge eher ungewöhnlich.

    Ich war als Baby adoptiert worden und in die Familie gekommen, weil meine Eltern ein zweites Kind wollten und meine Mutter nach der Geburt meines Bruders keines mehr hätte austragen können. Viele, viele Jahre lang hatte ich mir gar keine weiteren Gedanken über meine Adoption gemacht. Begann mich aber nun aus irgendeinem Grunde, vielleicht durch den Verlust des Babys, mit diesem Rätsel zu beschäftigen. Dem Rätsel, wer ich war und woher ich kam und von wem wir sprechen, wenn wir über »unsere Familie« reden. Wochen vergingen, Monate, sogar Jahre, bis ich zu meiner Überraschung Orte entdeckte, leere Räume, »Orte im Herzen«, deren Existenz ich mir schlicht nicht hatte vorstellen können.

    Swimmingpool

    Auf einem Hügel steil und schier

    Und riesig, steht die Wahrheit. Wer zu ihr

    Gelangen will, muss drum herum sich ringen

    Und so des Hügels Widerstand bezwingen.

    John Donne

    Die Idee, einem Fluss vom Meer zu seiner Quelle zu folgen, stammt aus dem Roman des schottischen Schriftstellers Neil M. Gunn, Der Quell am Ende der Welt. Leider besaß ich das Buch nicht mehr, denn ich hatte es nur ein paar Tage, bevor wir in die langen Sommerferien nach Wales reisten, meiner Freundin Sofia in Barcelona geschenkt.

    In Evies internationaler Grundschule war Sofia eindeutig die reichste Mutter, verheiratet mit einem der wohlhabendsten Männer der Welt. Wir lernten uns kennen, als ich mich bei Evies Lehrerin darüber beschwerte, dass ein offenbar bewaffneter Mann dem Bus der Kinder zum Schwimmbad gefolgt war. Miss Linda hatte nachdenklich dreingeschaut und erwidert, Bodyguards seien der neueste Hype, eine der russischen Familien habe einen und eine der bulgarischen auch, obwohl der eher ein Diener sei und überdies als Chauffeur fungiere. Da trat eine nette Frau im Jogginganzug vor und sagte, der Wachmann sei ihrer. An ihrem Finger funkelte ein eurogroßer Diamant. Sie entschuldigte sich für die Aufregung, war aber überzeugt, es sei für alle Kinder besser, wenn vor der Schule ein Bodyguard Dienst tue, und darauf wusste ich nichts mehr zu sagen.

    Im Frühjahr verstärkte man die Sicherheitsmaßnahmen für Sofia und ihre Kinder. Ihr Schwiegervater übergab die Leitung des Familienunternehmens, einer Telekommunikationsgesellschaft, an ihren Mann. Der tägliche Schulweg erfolgte nun in Begleitung eines dichten Pulks von Ex-Marines und schwarz gekleideten Geheimpolizisten mit Walkie-Talkies. Das Arrangement war eindeutig nicht allen genehm, aber es war nur von kurzer Dauer. Im Verlauf des Sommers kehrten Sofia und ihre Familie in ihr Heimatland zurück, wo man das Sicherheitsnetz noch enger um sie zurren und die Kinder im Allrad-Jeep zur Schule bringen konnte.

    Kurz vor ihrem Wegzug lud Sofia einige der Schulmütter zum Abendessen ein, auch mich. Als ich an ihrem elektrischen Tor klingelte, bat mich ihr Sicherheitschef, meine Personalien und den Zweck meines Besuches anzugeben. Als das Tor sich öffnete und ich vor der Haustür stand, rief der Wachmann Sofia an, die alle Informationen, die ich ihm gegeben hatte, bestätigte. Er ließ mich in den Korridor und öffnete eine zweite Tür. An ihm vorbei gelangte ich in einen stilvollen, minimalistisch eingerichteten Raum, wo ein Glastisch mit Damastservietten und schwerem Silberbesteck gedeckt war. Mir unbekannte Blumen in einem Tafelaufsatz ließen von ihren langen Staubgefäßen mit kugeligen Köpfen ockerfarbenen Staub, zart wie Sternenstaub, auf den Tisch fallen.

    Hinter dem Tisch saßen die Frauen auf zwei niedrigen Sofas und unterhielten sich. Sofia, das Telefon in der Hand, winkte mir zur Begrüßung zu. Eine zweiflügelige Verandatür führte auf die Holzterrasse. Im Swimmingpool sammelte sich anthrazitfarbener Schatten. Die Lichter im Haus spiegelten sich, zuckten über die Oberfläche und beleuchteten abgebrochene Zweige und Insekten. Es war zwar heiß, aber das Wasser wirkte kalt. Es zitterte, weil die Filteranlage vibrierte. Einmal hatte Sofia mich zum Schwimmen eingeladen, und ich hatte mir einen schwarzen Calvin-Klein-Bikini gekauft. Solch teure Badebekleidung hatte ich noch nie besessen. Es war aber nicht zu dem Badevergnügen gekommen und würde es wahrscheinlich auch nicht mehr. Die gummierte Oberfläche des Tennisplatzes war von Pinienharzflecken und heruntergefallenen Nadeln bedeckt. Für die Kinder gab es eine Schaukel und ein Klettergerüst. Eine hohe, mit Bougainvillea überwucherte Mauer verhieß Schatten und Ungestörtheit. Quietschende Reifen und Bremsen verrieten eine Verkehrsampel auf der anderen Seite der Mauer. Eine Elster zeterte in einer hohen Pinie, und eine blauschwarze Feder trudelte zur Erde herab. Es erinnerte alles an ein Kloster, aber ein seltsam säkulares.

    Im Zimmer tranken die Frauen Champagner aus Kristallgläsern. Ein libanesischer Butler bediente uns. Mein Blick blieb immer wieder an ihm hängen, weil er mich an einen berühmten englischen Schauspieler erinnerte. Schließlich fragte ich ihn, ob er mit ihm verwandt sei.

    »Wer ist Steven Berkoff, Señora?«, lautete seine Gegenfrage.

    Die Frauen hatten sich schier überschlagen, um Sofia etwas zur Erinnerung zu schenken: einen Hermès-Schal. Etwas von Gucci. Fleur de Thé Rose Bulgare, ein Parfüm, das von Creed angeblich für Ava Gardner kreiert worden ist, die sich in Tossa de Mar, eine Stunde entfernt von dort, wo wir saßen, in Old Blue Eyes Frank Sinatra verliebt hatte. Ich wusste partout nicht, was ich schenken sollte.

    Meine außergewöhnlichste Entdeckung in diesem Jahr war das erwähnte Buch, Der Quell am Ende der Welt, von Neil M. Gunn. Er erzählt darin von einer Quelle, »deren Wasser so klar ist, dass es unsichtbar ist: Wenn zwei Liebende sie finden, glauben sie zuerst, sie sei trocken …« Als ich Sofia von dem Roman erzählte, bat sie mich, ihr Inhalt und Autor aufzuschreiben, aber nun schenkte ich ihr mein Exemplar. Ich hatte keine Zeit gefunden, ihr eins zu kaufen, und freute mich, etwas Gutes weiterzugeben.

    Der Quell am Ende der Welt ist die Geschichte einer Reise. Der Protagonist geht allein in Schottlands wilde Natur und erzählt allen, die ihn nach seinen Gründen fragen, er suche den Quell am Ende der Welt. Er heißt Peter Munroe, was vielleicht auf »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde« anspielt und darauf, dass in Schottland alle Berge, die höher als dreitausend Fuß sind, Munro genannt werden. Peter ist ein erfolgreicher Professor, dessen Jugend vergangen ist. Auch die Schönheit seiner Frau verblüht allmählich. Ihr einziges Kind – wie das Kind Gunns – ist tot geboren worden. Ihn treibt ein unbestimmtes, bittersüßes Sehnen und die Vorahnung, dass er, sollte er dem Impuls nicht folgen, traurig und enttäuscht sein wird.

    Er ist unfähig, diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen – aber die Quelle, die will er suchen. Also macht er sich in die wildesten Teile Schottlands auf und erlebt Abenteuer sowohl in der Natur als auch bei den Begegnungen mit Menschen und entdeckt die unterschiedlichsten Eigenschaften an sich selbst. Die Wahrheit ist immer an den Rändern seines Blickfeldes. Manchmal flackert sie in der Landschaft ganz dicht vor ihm auf, manchmal seitab. Doch wenn er sie direkt zu fixieren versucht, verschwindet sie.

    Mir war klar, dass Sofia niemals eine solche Reise unternehmen würde, selbst wenn sie gewollt hätte. Es hätten ja Bodyguards und Köche, Diener und Zelte, Tische und Stühle, ein Geländewagen mit Vierradantrieb sowie Überwachungskameras dabei sein müssen wie bei Außenaufnahmen einer hochgerüsteten Filmcrew. Sofia konnte nicht einfach losgehen. Ich schon. Nicht sehr vermögend und völlig unbekannt zu sein, gaben mir eine andere Art Freiheit. Je mehr ich darüber nachdachte, desto entschiedener wollte ich Peter Munroes Reise machen. Warum, hätte ich nicht erklären können. Aber auch meine Jugend war vorüber, auch ich hatte ein Kind verloren. Das waren womöglich die einzigen Verbindungspunkte zwischen mir und dem Romanhelden. Vielleicht reichten sie ja. Ich war aber auf jeden Fall wie er überzeugt, dass es jenseits meines Begreifens etwas gab, das sich mir entzog, an das ich nicht herankam, und dem entsprach das Bild einer geheimen Quelle.

    Nachdem Sofia weggezogen war, wollte ich mir das Buch wieder kaufen, doch es war vergriffen. Ich hatte es erst vor drei Monaten gefunden, und nun war es buchstäblich schon wieder verschwunden. Ich stieß jedoch auf eine Gesellschaft, die sich dem Werk des lange verstorbenen Schriftstellers widmete, und setzte mich mit Leuten in seiner Heimatstadt in Verbindung. Ich wollte wissen, ob die in dem Roman beschriebene Wanderung stattgefunden hatte, und wenn ja, wo sie begonnen und wohin sie geführt hatte. Gab es die Orte, die in dem Buch erwähnt wurden? Hatte eine echte Quelle den Autor inspiriert? Man nahm an, dass die Reise unternommen worden war, dass es eine Quelle gegeben und Neil M. Gunn seinen Kessel mit ihrem Wasser gefüllt hatte, doch niemand konnte sich erinnern, wo sie war. Mr Gunns Neffe, Dairmid Gunn, wisse es wohl am ehesten, aber der sei gerade nicht da, und niemand wisse, wie man ihn erreichen könne. Ich legte die Idee mit der Quelle erst einmal ad acta.

    Gunn hatte auch das Buch Highland River geschrieben, und ich spürte ein Taschenbuch davon aus dem Jahr 1975 auf, kurz bevor Evie und ich in die Ferien nach Großbritannien flogen, fand allerdings nicht mehr die Zeit, es zu lesen, und schlug daher eine beliebige Seite auf:

    »Und was fängst du da mit dir an?«

    »Ach, ich wandere rum und angle und so was … Aber eigentlich habe ich schon eine vage Idee – ich will an einem bestimmten Fluss bis zu seinem Ursprung entlanglaufen. Das will ich schon seit Langem. Mehr eigentlich nicht.«

    »Keine Pilgerreise?«

    »Eher nicht.«

    »Du meinst, ein bisschen doch?«

    Ich betrachtete die Worte »eine vage Idee«, spürte sie in mich einsinken wie Steine in einen Teich und wusste, dass etwas geschehen war, etwas geschah, und dass ich bereit war, mich verstören zu lassen. »Ich will an einem bestimmten Fluss bis zu seinem Ursprung entlanglaufen … Das will ich schon seit Langem.«

    Ich auch, dachte ich, aber ich hatte es vergessen. Eine Erdkundestunde kam mir in den Sinn. »Der Grundwasserspiegel«. Ich hatte Zöpfe und trug eine Zahnspange. Marienkäfer flitzten über mein verschrammtes Pult. In dem Sommer waren sie überall. Ich schnipste ihre rubinroten Leiber in das leere Tintenfass, aus dem ich sie in der Pause wieder befreien wollte. Ich musste sie vor dem Rabauken verstecken, der Wettrennen mit ihnen veranstalten wollte und ihnen die zarten Flügel ausriss, damit sie nicht wegfliegen konnten. Als ich die Worte »porös« und »vulkanisch« in schön geschwungener Kreideschreibschrift vor mir sah, merkte ich, dass es zu spät war, nach ihrer Bedeutung zu fragen. Ich hatte verpasst, wo das Wasser seinen Ursprung hatte, und das Schaubild im Buch bot keinerlei Anhaltspunkte. Falls ich aber nachsitzen musste, würden die Marienkäfer wahrscheinlich doch noch sterben.

    Ich schlug Highland River zu und strich mit der Hand über den Umschlag; die alten Seiten waren weich wie Fensterleder. Darauf las ich:

    »Der Fluss in den Highlands mit seinen dunkelbraunen Teichen und den jähen rauschenden Untiefen ist ein magischer Spielplatz für den kleinen Kenn und seine Gefährten. Hier angelt er mit selbstgebastelten Haken nach Lachsen … Kenns Wanderung flussaufwärts, auf der er nur seinem Jagdinstinkt folgen möchte, wird zu einer aufregenden Erkundung der Quelle und des Ursprungs seiner selbst.«

    Ich drehte das Buch um und betrachtete die darauf abgebildeten Fotografien: ein Fluss, der zielstrebig über flache Felsplatten floss. Im Vordergrund waren ein paar Bauernhäuser, ein paar bläuliche Berge dahinter. Den Fluss gab es wirklich. Er hieß Dunbeath Water.

    Ich steckte das Buch in einen Koffer.

    Als Evie und ich in Großbritannien ankamen, fuhren wir zuerst zu meiner Mutter nach Cheshire. Rupert war in Barcelona geblieben, um an seinem Buch zu arbeiten, und wollte in ein paar Wochen nachkommen. Ich suchte Dunbeath Water auf einer Straßenkarte. Der Fluss war sehr weit weg. Und sah nicht nach viel aus. Etwa fünfzehn Meilen lang, in die oberste rechte Ecke Schottlands geschmiegt, nur einen Katzensprung von John O’Groates entfernt. Auf der Karte waren weder Quelle noch ein Teich verzeichnet, kein Anfang, und Dunbeath Water verschwand einfach, ein dünner blauer Schnörkel schlängelte sich über eine blendend weiße Seite, durch die offenbar kargste Gegend der Britischen Inseln. Ich versuchte, eine bessere Karte zu finden, eine Flurkarte. Aber keine Buchhandlung hatte sie vorrätig. Mir war klar, wenn ich diesem Fluss vom Meer zur Quelle folgen wollte, musste ich eine Autofahrt von hin und zurück etwa fünfzehnhundert Meilen auf mich nehmen. Für eine Fußwanderung von etwa dreißig Meilen! Vielleicht sollte ich erst mal näher an Zuhause anfangen.

    Humber

    Auf der Landkarte sieht der Spurn Point, ein wenig rechts von Hull, wie eine auseinandergebogene Haarnadel aus. Er ragt in die Nordsee und biegt dann wieder landeinwärts. Die Landzunge trennt die breite Mündung des Humber von der mächtigen Nordsee. An ihrer Spitze stehen zwei mittlerweile funktionslose Leuchttürme, weil die Landzunge alle zweihundertfünfzig Jahre bricht und sich wieder neu bildet. Hinter einem Leuchtturm ist eine Seenotrettungsstation, aber auch sie wird mit Sicherheit bald aufgegeben. Denn die momentane Inkarnation des Spurn geht angeblich ihrem Ende entgegen. Die über ihn verlaufende Straße aus flachen, quadratischen Platten, unter der sich die Landzunge geschmeidig wie eine Katze bewegt, muss ständig ausgebessert und dort neu angelegt werden, wo der Rücken des Landes zur Ruhe gekommen ist.

    Ich hatte Evie gerade ihren Gutenachtkuss gegeben.

    »Wo willst du hin?«, fragte sie.

    »Zum Spurn Point.«

    »Wo ist der?«

    »Auf der anderen Seite von England. Mehr oder weniger in einer geraden Linie von hier aus. Ich bin morgen Nachmittag zurück«, sagte ich.

    Evie bettete ihren Kuschelhund Jerome neben das Kopfkissen.

    »Ich dachte, wir fahren morgen zum Cottage.«

    »Das können wir doch auch übermorgen machen. Schafft ihr das so lange allein, du und Grannie?«

    »Ja!«, sagte sie. »Wir wollen backen.« Sie warf mir einen langen einschmeichelnden Seitenblick zu. »Sing ›Long and Winding‹.« Ich nahm ihre Hand und fing an, »The Long and Winding Road« von den Beatles zu singen. Bald schlief Evie tief und fest. Ich schob ihr eine Locke hinters Ohr, beugte mich über sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und legte meinen Kopf neben ihr Gesicht. Eine Weile lang lauschte ich ihrem Atmen.

    Ich hatte immer schon zu dem Leuchtturm laufen wollen, und meine Mutter redete mir nun gut zu. Außer in den paar Stunden, die Evie in der Schule verbrachte, war ich das ganze letzte Jahr nicht allein gewesen, aber meine Mutter und ihre Enkeltochter sahen sich nur in den Schulferien. Da der Spurn Point den äußersten Rand einer Flussmündung bildet, passte er sogar zu unserem Ferienthema, wenn auch der Humber kein Fluss ist, dem man vom Meer zur Quelle folgen kann. Sein Name bezieht sich nämlich nur auf die Mündung. Vor langer Zeit, als das Eis zu schmelzen begann, war dort ein Süßwasserfluss entstanden. Doch er wurde von der ansteigenden Nordsee verdrängt, und heute bezeichnet der Name den Abschnitt ab dem Zusammenfluss der Flüsse Ouse und Trent; später kommen noch der Ancholme und der Hull hinzu.

    Um Mitternacht war ich immer noch unschlüssig. Ich saß am Fußende des Bettes meiner Mutter, und wir tranken Tee.

    »Wenn du jetzt losfährst«, sagte sie, »bist du rechtzeitig zum Sonnenaufgang da.« Ihre Augen waren vergissmeinnichtblassblau, und ihre knochigen Hände lagen zart, aber biegsam wie Federn in meinen. Sie war einundachtzig. Eine wunderbare Frau und passionierte Wanderin; sie hätte keine Sekunde lang gezögert. Ich küsste sie auf die weiche Wange, lachte und ging in die Sommernacht hinaus, die wegen des Scheins der Straßenlaternen schwarz erschien. Eine Karte brauchte ich nicht. Ich ließ den Motor an und fuhr nach Osten, an Manchester vorbei, in den Morgen.

    Die Pennines zu überqueren war aufregend – die M62

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