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Am anderen Ende der Stadt: Eine Jugend in Frankreich
Am anderen Ende der Stadt: Eine Jugend in Frankreich
Am anderen Ende der Stadt: Eine Jugend in Frankreich
eBook180 Seiten1 Stunde

Am anderen Ende der Stadt: Eine Jugend in Frankreich

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Über dieses E-Book

Fortsetzung von »Ungeteerte Straßen - Eine Kindheit in Frankreich«

In lyrischer Prosa erzählt Scappini Szenen aus der frühen Jugend und Pubertät des jungen Franzosen Pascal. Ein Leben in den Anfängen, eine Identität in den Startlöchern: Im Panorama des Erlebten, Gefühlten, Gedachten entsteht das Mosaik einer Familie im Dickicht des Alltäglichen. Ein Bild der Gesellschaft und ihrer Normalität, aber auch ihrer widersprüchlichen Moral im Frankreich der 60er Jahre - durch die unbefangenen, wachen Augen des jungen Pascal. Filterlose Wahrnehmungen, die in verdichteten Anekdoten von Hoffnungen, Erwartungen, Enttäuschungen künden.
SpracheDeutsch
HerausgeberPENDRAGON Verlag
Erscheinungsdatum20. Juli 2019
ISBN9783865326652
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    Buchvorschau

    Am anderen Ende der Stadt - Gérard Scappini

    1

    In diesem neuen Viertel,

    am anderen Ende der Stadt,

    wohnen wir jetzt in einer Sozialwohnung.

    Unter Proleten, sagt Mama anzüglich,

    fühlt sich dein Vater am wohlsten.

    Im vierzehnten Stockwerk

    befindet sich unser neues Zuhause

    mit Badezimmer und eigenem, separatem Klo.

    Vom Balkon aus

    eine unverbaubare Sicht auf den Hafen,

    frohlockt Vater,

    und mit einem Aufzug!

    In der ungeteerten Straße

    habe ich mich von niemandem verabschiedet.

    Nicht einmal von Henri.

    Jean-Claude

    sehe ich dann Donnerstag im Training.

    Vater hatte mir genau erklärt,

    wie ich am Samstag nach dem Unterricht

    zu unserem neuen Viertel hinkomme.

    Heute Morgen

    bin ich mit Jean-Baptiste

    wie gewöhnlich ins Gymnasium gelaufen.

    Aber ihn informiert,

    oder mit ihm darüber gesprochen,

    habe ich gar nicht.

    Wie Mama bin ich vorgegangen

    als sie sich,

    damals von Opa Casenave

    nur mit einer Eintragung,

    in dieses dicke schwarze Buch

    schweigend verabschiedete.

    Vor Trennung fürchte ich mich,

    kann meine Tränen beim Abschied

    nicht aufhalten.

    Und passende Worte dafür

    fallen mir

    selten

    ein.

    2

    In unserem

    unbekannten Viertel

    blicke ich

    auf eine

    befremdende Umgebung, namenlose Gesichter,

    und fünf verschiedene Wohnblöcke.

    Im

    einzigen Wolkenkratzer

    wohnen wir.

    Unser Haus trägt keinen Namen

    nur eine Nummer: 14 A.

    Es sieht sehr imposant, mächtig,

    und auch streng aus.

    Wenn ich ganz nahe davor stehe,

    am Hauseingang,

    und nach oben blicke,

    bekomme ich ein Schwindelgefühl.

    Vorübergehend.

    Unsere neue Adresse:

    Avenue des Fusilliers Marins,

    Missiessy Bâtiment 14 A.

    Keine ungeteerte Straße.

    Alles gründlich asphaltiert.

    Diese schmale Avenue,

    befahren von Armee-Lastern und PKWs

    mit Militärkennzeichen,

    hat keinen Bürgersteig.

    Die rechte Seite mit Platanen bepflanzt.

    Seitlich von der Straße,

    direkt hinter den Bäumen,

    vierstöckige breite Häuser.

    Fünf.

    Mit Balkon.

    Hintereinander gebaut, mit verblassten Fassaden,

    geschlossenen Fenstern.

    Entlang dieses engen Fahrweges laufe ich,

    viermal täglich, stets mit einem Seitenblick,

    muss dann links ab,

    über einen steilen asphaltierten kleinen Hügel

    steigen, dann bin ich

    vor der oft weit geöffneten braunen Holztür

    unseres Hochhauses.

    Die Avenue des Fusilliers Marins

    endet vor dem Süd-Eingang zum Arsenal.

    Vater erreicht seine Arbeitsstelle durch den

    Haupteingang,

    hat einen fünfminütigen Gehweg, neben der

    kleinen Autobahn,

    die in die Stadt führt.

    Auf der linken Seite dieser Straße,

    mit Laternen beleuchtet,

    die Kneipe Au Bon Port,

    mit einer verwaisten Terrasse, die als Parkplatz

    dient, und verdunkelten Fenstern.

    Erst abends öffnet sie ihre Tür.

    Passt zu der Proleten-Gegend, ereifert sich Mutter.

    Vater schüttelt den Kopf.

    Fremd, fühle ich mich hier,

    aussortiert,

    vermisse meinen alten Stadtteil, meine Kumpel,

    unsere Boules-Spiele dort.

    Für unser Gebäude ist ein Hausmeister zuständig:

    Mohamed.

    Aus Algerien, aber hier geboren, immer lächelnd

    und zuvorkommend.

    Mohamed siezt alle.

    Er spricht Französisch

    mit einem starken arabischen Akzent.

    Ich verstehe ihn schlecht.

    Vater,

    wenn er mit ihm sprechen muss, duzt ihn.

    Zwischen den Jahren

    bekommt er von den Anwohnern Trinkgelder.

    Wie der Briefträger.

    Als Zeichen des Dankes verbeugt er sich, lächelt,

    zeigt dabei seine goldenen Zähne.

    Vater spendiert ihm nichts.

    Er hat doch seinen Lohn, antwortet er verärgert,

    als Mutter ihn darauf anspricht,

    und wohnt auch noch mit seiner Familie umsonst!

    In dieser noch nie bewohnten Wohnung,

    die noch frisch nach Gips und Farben riecht,

    Kabel lose hängen, und in jedem Zimmer volle

    Kartons herumstehen,

    fehlt mir noch Vertrautheit und Wärme.

    Wenn ich auf dem Klo sitze,

    irritiert es mich noch,

    gleichzeitig die Stimmen meiner Eltern,

    oder Marie-Louises wahrzunehmen.

    Im Badezimmer sperre ich mich ein.

    Selbst zum Zähneputzen.

    Diese Demütigung

    in der Villa Marie-Rose kann ich bis heute nicht

    vergessen,

    als ich ausgerechnet nackt vor dem Waschbecken

    stand und Mutter ungeniert

    auf und ab durch die Küche ging.

    Wieso

    darf ich nicht das einzige Kinderzimmer

    bekommen?

    Du bist selber schuld, antwortet Mutter,

    hättest du die Grundbegriffe der Musik lernen

    wollen,

    vielleicht später auch Geige gespielt wie ich,

    würdest du

    jetzt dort einziehen!

    Warum

    kann ich Mutter nicht daran erinnern,

    in der Villa Marie-Rose befand sich das Klavier

    in meinem Schlafzimmer,

    und hatte ich damals schon etwas verweigert?

    Zwecklos ist es doch:

    Mutters Repliken kenne ich mittlerweile zu gut.

    Beugen

    muss ich mich,

    vor Marie-Louise und ihrem Talent.

    3

    Es dauert Tage,

    und Mutters ganze Überredungskunst,

    bis sie Vater weichgekocht hat, wie sie es nennt,

    dann endlich

    Geld vom Sparbuch bekommt.

    Sie lebt richtig auf:

    plant, nimmt Maß, kombiniert, geht täglich in

    die Stadt,

    manchmal sogar bis zu zweimal,

    besorgt und prüft Angebote,

    handelt ein Werbegeschenk aus,

    entscheidet sich.

    Über ihrer nagelneuen Anrichte

    und in ihrer gesamten Länge lässt sie

    einen Wandspiegel anbringen,

    an dessen vier Ecken ziselierte Ornamente

    die haltenden Schrauben verstecken.

    Ein hellbrauner, glänzender Tisch

    und sechs Stühle,

    mit weißem Leder überspannt

    und hohen Lehnen, stehen mitten im Raum,

    direkt darüber ein Kronleuchter.

    In einer schmalen Wandnische

    bringt sie fünf Bretter an,

    verwandelt sie so in ihre Bibliothek.

    Darunter stellt sie

    auf einen kleinen dreibeinigen Tisch

    das Grammophon ihres verstorbenen Bruders

    mit ihrer Schallplattensammlung

    klassischer Musik.

    In ihrem schön eingerichteten Wohnzimmer

    schlafe ich.

    Ein neues Bett bekomme ich: ein Sofa,

    ein klappbares.

    Im Flur steht mein Kleiderschrank.

    Das ist unser Zimmer Pascal, schwärmt Mutter,

    zwinkert mir mit ihrem rechten Auge zu.

    Hier, sie zeigt auf den braunen Wohnzimmertisch,

    kannst du deine Hausaufgaben erledigen, sagt sie,

    während ich ein Buch lese

    oder ein Klavierkonzert höre.

    4

    Unser Gymnasium liegt im Stadtzentrum,

    schon eine gute halbe Stunde Fußmarsch

    von der neuen Siedlung entfernt.

    Marie-Louise und ich

    sollen den Bus benutzen um dorthin zu kommen,

    aber

    Vater

    bezahlt uns nur

    zwei Busfahrten,

    wir müssen sparen, Pascal, weiht er mich ein,

    von Mann zu Mann

    unser Umzug hat viel Geld gekostet,

    die Waschmaschine, der Kühlschrank,

    dein neues Sofa,

    damit ihr es schön

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