Am anderen Ende der Stadt: Eine Jugend in Frankreich
Von Gérard Scappini
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Über dieses E-Book
In lyrischer Prosa erzählt Scappini Szenen aus der frühen Jugend und Pubertät des jungen Franzosen Pascal. Ein Leben in den Anfängen, eine Identität in den Startlöchern: Im Panorama des Erlebten, Gefühlten, Gedachten entsteht das Mosaik einer Familie im Dickicht des Alltäglichen. Ein Bild der Gesellschaft und ihrer Normalität, aber auch ihrer widersprüchlichen Moral im Frankreich der 60er Jahre - durch die unbefangenen, wachen Augen des jungen Pascal. Filterlose Wahrnehmungen, die in verdichteten Anekdoten von Hoffnungen, Erwartungen, Enttäuschungen künden.
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Buchvorschau
Am anderen Ende der Stadt - Gérard Scappini
1
In diesem neuen Viertel,
am anderen Ende der Stadt,
wohnen wir jetzt in einer Sozialwohnung.
Unter Proleten, sagt Mama anzüglich,
fühlt sich dein Vater am wohlsten.
Im vierzehnten Stockwerk
befindet sich unser neues Zuhause
mit Badezimmer und eigenem, separatem Klo.
Vom Balkon aus
eine unverbaubare Sicht auf den Hafen,
frohlockt Vater,
und mit einem Aufzug!
In der ungeteerten Straße
habe ich mich von niemandem verabschiedet.
Nicht einmal von Henri.
Jean-Claude
sehe ich dann Donnerstag im Training.
Vater hatte mir genau erklärt,
wie ich am Samstag nach dem Unterricht
zu unserem neuen Viertel hinkomme.
Heute Morgen
bin ich mit Jean-Baptiste
wie gewöhnlich ins Gymnasium gelaufen.
Aber ihn informiert,
oder mit ihm darüber gesprochen,
habe ich gar nicht.
Wie Mama bin ich vorgegangen
als sie sich,
damals von Opa Casenave
nur mit einer Eintragung,
in dieses dicke schwarze Buch
schweigend verabschiedete.
Vor Trennung fürchte ich mich,
kann meine Tränen beim Abschied
nicht aufhalten.
Und passende Worte dafür
fallen mir
selten
ein.
2
In unserem
unbekannten Viertel
blicke ich
auf eine
befremdende Umgebung, namenlose Gesichter,
und fünf verschiedene Wohnblöcke.
Im
einzigen Wolkenkratzer
wohnen wir.
Unser Haus trägt keinen Namen
nur eine Nummer: 14 A.
Es sieht sehr imposant, mächtig,
und auch streng aus.
Wenn ich ganz nahe davor stehe,
am Hauseingang,
und nach oben blicke,
bekomme ich ein Schwindelgefühl.
Vorübergehend.
Unsere neue Adresse:
Avenue des Fusilliers Marins,
Missiessy Bâtiment 14 A.
Keine ungeteerte Straße.
Alles gründlich asphaltiert.
Diese schmale Avenue,
befahren von Armee-Lastern und PKWs
mit Militärkennzeichen,
hat keinen Bürgersteig.
Die rechte Seite mit Platanen bepflanzt.
Seitlich von der Straße,
direkt hinter den Bäumen,
vierstöckige breite Häuser.
Fünf.
Mit Balkon.
Hintereinander gebaut, mit verblassten Fassaden,
geschlossenen Fenstern.
Entlang dieses engen Fahrweges laufe ich,
viermal täglich, stets mit einem Seitenblick,
muss dann links ab,
über einen steilen asphaltierten kleinen Hügel
steigen, dann bin ich
vor der oft weit geöffneten braunen Holztür
unseres Hochhauses.
Die Avenue des Fusilliers Marins
endet vor dem Süd-Eingang zum Arsenal.
Vater erreicht seine Arbeitsstelle durch den
Haupteingang,
hat einen fünfminütigen Gehweg, neben der
kleinen Autobahn,
die in die Stadt führt.
Auf der linken Seite dieser Straße,
mit Laternen beleuchtet,
die Kneipe Au Bon Port,
mit einer verwaisten Terrasse, die als Parkplatz
dient, und verdunkelten Fenstern.
Erst abends öffnet sie ihre Tür.
Passt zu der Proleten-Gegend, ereifert sich Mutter.
Vater schüttelt den Kopf.
Fremd, fühle ich mich hier,
aussortiert,
vermisse meinen alten Stadtteil, meine Kumpel,
unsere Boules-Spiele dort.
Für unser Gebäude ist ein Hausmeister zuständig:
Mohamed.
Aus Algerien, aber hier geboren, immer lächelnd
und zuvorkommend.
Mohamed siezt alle.
Er spricht Französisch
mit einem starken arabischen Akzent.
Ich verstehe ihn schlecht.
Vater,
wenn er mit ihm sprechen muss, duzt ihn.
Zwischen den Jahren
bekommt er von den Anwohnern Trinkgelder.
Wie der Briefträger.
Als Zeichen des Dankes verbeugt er sich, lächelt,
zeigt dabei seine goldenen Zähne.
Vater spendiert ihm nichts.
Er hat doch seinen Lohn, antwortet er verärgert,
als Mutter ihn darauf anspricht,
und wohnt auch noch mit seiner Familie umsonst!
In dieser noch nie bewohnten Wohnung,
die noch frisch nach Gips und Farben riecht,
Kabel lose hängen, und in jedem Zimmer volle
Kartons herumstehen,
fehlt mir noch Vertrautheit und Wärme.
Wenn ich auf dem Klo sitze,
irritiert es mich noch,
gleichzeitig die Stimmen meiner Eltern,
oder Marie-Louises wahrzunehmen.
Im Badezimmer sperre ich mich ein.
Selbst zum Zähneputzen.
Diese Demütigung
in der Villa Marie-Rose kann ich bis heute nicht
vergessen,
als ich ausgerechnet nackt vor dem Waschbecken
stand und Mutter ungeniert
auf und ab durch die Küche ging.
Wieso
darf ich nicht das einzige Kinderzimmer
bekommen?
Du bist selber schuld, antwortet Mutter,
hättest du die Grundbegriffe der Musik lernen
wollen,
vielleicht später auch Geige gespielt wie ich,
würdest du
jetzt dort einziehen!
Warum
kann ich Mutter nicht daran erinnern,
in der Villa Marie-Rose befand sich das Klavier
in meinem Schlafzimmer,
und hatte ich damals schon etwas verweigert?
Zwecklos ist es doch:
Mutters Repliken kenne ich mittlerweile zu gut.
Beugen
muss ich mich,
vor Marie-Louise und ihrem Talent.
3
Es dauert Tage,
und Mutters ganze Überredungskunst,
bis sie Vater weichgekocht hat, wie sie es nennt,
dann endlich
Geld vom Sparbuch bekommt.
Sie lebt richtig auf:
plant, nimmt Maß, kombiniert, geht täglich in
die Stadt,
manchmal sogar bis zu zweimal,
besorgt und prüft Angebote,
handelt ein Werbegeschenk aus,
entscheidet sich.
Über ihrer nagelneuen Anrichte
und in ihrer gesamten Länge lässt sie
einen Wandspiegel anbringen,
an dessen vier Ecken ziselierte Ornamente
die haltenden Schrauben verstecken.
Ein hellbrauner, glänzender Tisch
und sechs Stühle,
mit weißem Leder überspannt
und hohen Lehnen, stehen mitten im Raum,
direkt darüber ein Kronleuchter.
In einer schmalen Wandnische
bringt sie fünf Bretter an,
verwandelt sie so in ihre Bibliothek.
Darunter stellt sie
auf einen kleinen dreibeinigen Tisch
das Grammophon ihres verstorbenen Bruders
mit ihrer Schallplattensammlung
klassischer Musik.
In ihrem schön eingerichteten Wohnzimmer
schlafe ich.
Ein neues Bett bekomme ich: ein Sofa,
ein klappbares.
Im Flur steht mein Kleiderschrank.
Das ist unser Zimmer Pascal, schwärmt Mutter,
zwinkert mir mit ihrem rechten Auge zu.
Hier, sie zeigt auf den braunen Wohnzimmertisch,
kannst du deine Hausaufgaben erledigen, sagt sie,
während ich ein Buch lese
oder ein Klavierkonzert höre.
4
Unser Gymnasium liegt im Stadtzentrum,
schon eine gute halbe Stunde Fußmarsch
von der neuen Siedlung entfernt.
Marie-Louise und ich
sollen den Bus benutzen um dorthin zu kommen,
aber
Vater
bezahlt uns nur
zwei Busfahrten,
wir müssen sparen, Pascal, weiht er mich ein,
von Mann zu Mann
unser Umzug hat viel Geld gekostet,
die Waschmaschine, der Kühlschrank,
dein neues Sofa,
damit ihr es schön