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Organisationskulturen im Spielfilm: Von Banken, Klöstern und der Mafia: 29 Film- & Firmenanalysen
Organisationskulturen im Spielfilm: Von Banken, Klöstern und der Mafia: 29 Film- & Firmenanalysen
Organisationskulturen im Spielfilm: Von Banken, Klöstern und der Mafia: 29 Film- & Firmenanalysen
eBook869 Seiten8 Stunden

Organisationskulturen im Spielfilm: Von Banken, Klöstern und der Mafia: 29 Film- & Firmenanalysen

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Über dieses E-Book

Organisationskulturen sind vielfältig und schillernd – und so wundert es nicht, dass in zahlreichen Spielfilmen unterschiedlichste Organisationsformen die spannende, manchmal gruselige Kulisse bilden: von Banken über Klöster, Schulen, „hippen“ Start-ups bis hin zu Verwaltungen, der Mafia oder der Filmbranche selbst. Wollen wir da nicht gerne einmal hinter die Kulissen blicken? Und ist das im wahren Leben auch so wie im Film? – Dieses Buch ist einerseits Lehr- und Lesebuch über Organisationskulturen, denn es vermittelt durch die Analysen einer Vielzahl von ergreifenden Filmen wichtige Konzepten der Organisationskultur und ein reichhaltiges Repertoire an Verständnismöglichkeiten und Interpretationszugängen, die auf bekannte Organisationen angewendet werden können. Jedes Kapitel fasst dafür die Handlung eines Films zusammen und arbeitet anhand ausgewählter Szenen und Protagonisten zentrale Elemente der Kultur heraus, die für diesen Typ von Organisation bedeutsam ist. – Lernen Sie die Kultur Ihres eigenen Unternehmens besser verstehen oder, als Berater/-in oder Organisationsentwickler/-in, die Menschenbilder, normativen Muster und Symbolsysteme verschiedenster Kulturen, die Ihnen in Ihrer Beratungsarbeit begegnen!Das Buch eröffnet aber auch eine neue Perspektive auf Filme und geht der Frage nach, wie Organisationen und ihre Kulturen in den Filmen aufgegriffen und in die Handlungen eingewoben werden. – Sehen Sie Ihre Lieblingsfilme durch eine ganz neue Brille!
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum6. Jan. 2017
ISBN9783662528952
Organisationskulturen im Spielfilm: Von Banken, Klöstern und der Mafia: 29 Film- & Firmenanalysen

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    Buchvorschau

    Organisationskulturen im Spielfilm - Heidi Möller

    Arbeiten in großen Unternehmen

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017

    H. Möller, T. Giernalczyk (Hrsg.)Organisationskulturen im Spielfilmhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-52895-2_1

    »Wie Tränen im Regen«: Die Sehnsucht nach der trivialen Organisation

    Blade Runner

    Andreas Knierim¹  

    (1)

    Wilhelmshöher Allee 118, 34119 Kassel, Germany

    Andreas Knierim

    Email: dr.andreas@knierim.de

    Coachingerfahrungen

    Zu Beginn des Einzelcoachings sind sie zahlreich: Klienten, die durch den Coach »Tools« kennenlernen wollen, damit es in der Abteilung wieder »reibungslos läuft«. Klienten, die sich »Führungsstandards« aneignen wollen, um »Mitarbeitertypen zielgenau zu führen«. Klienten, die sich »optimieren« wollen, um alle Entscheidungssituationen »effizient zu steuern und zu kontrollieren«. Was sie gemeinsam haben: Sie nehmen das eigene Unternehmen als einfach, steuerbar, eben trivial wahr. Je einfacher die Tools, umso besser.

    Das sind, aus meiner Sicht als Coach, dankbare Klienten, denn sie können im Laufe eines Coachings die eigene Organisation anhand von systemisch-konstruktivistischen Deutungen reflektieren – und als nichttrivial wahrnehmen. Sie können an einer veränderten Haltung im Unternehmen arbeiten und mehr aus dem Coaching mitnehmen als nur den eigenen Methodenkoffer aufzufüllen. Klienten erleben sich aus der Metaposition, erarbeiten sich Verhaltensveränderungen gegenüber Chefs und Mitarbeitern und verknüpfen Organisationstheorien mit Alltagssituationen im Sinne von Kurt Lewin: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.« Das lokale Einordnen und Bewerten der eigenen Organisation mit Handlungszielen transformieren die Klienten im Coaching in ein systemisches Verstehen der Zusammenhänge in ihren Organisationen.

    An diese Auffassung von Coaching knüpft die Betrachtung der Tyrell-Organisation im Film Blade Runner (Abb. 1.1) an: Wie kann die triviale von der nichttrivialen Sichtweise auf Organisationen unterschieden, welche Interventionsmöglichkeiten können auf der Individualebene des Systems entwickelt werden? Wären die Darsteller im Film »coachbar«?

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    Abb. 1.1

    Filmplakat Blade Runner. (© Mary Evans Picture Library/picture alliance)

    Filmhandlung

    Los Angeles im November 2019: Der Patriarch Dr. Eldon Tyrell stellt in seiner Tyrell Corporation künstliche Menschen, sogenannte Replikanten, her. Die Serie Nexus-6 ist von natürlich geborenen Menschen äußerlich nicht mehr unterscheidbar: Ausgestattet mit hohen physischen und geistigen Kräften entwickeln sie im Laufe ihrer Lebenszeit von vier Jahren eigene Gefühle und Ambitionen. Der Slogan der Tyrell Corporation lautet »More human than human – menschlicher als der Mensch«.

    Die Replikanten erschließen Planeten, dürfen aber nicht die Erde betreten. Spezielle Polizeibeamte, die Blade Runner, sorgen für die Durchsetzung dieses Verbotes, indem sie Replikanten, die dagegen verstoßen, »in den Ruhestand versetzen« im Sinne von eliminieren.

    Einigen Replikanten gelingt es, ein Raumschiff zu kapern und die Erde zu erreichen. Der ehemalige Polizist und Blade Runner Rick Deckard wird als Experte von seinem Chef zwangsverpflichtet, um die Replikanten aufzuspüren und zu töten. Im Laufe seiner Ermittlungen trifft Deckard auf die Tyrell-Assistentin Rachael. Mit Hilfe eines Tests findet er heraus, dass sie ebenfalls eine Replikantin ist, ausgestattet mit künstlichen Erinnerungen. Er konfrontiert sie, sie reagiert verletzt und abweisend. Rachael sucht Deckard später in seiner Wohnung auf, sie verlieben sich.

    Deckard findet fast alle entflohenen Replikanten und tötet sie. Nur den Anführer Roy Batty kann er nicht eliminieren: Mit Hilfe des vereinsamten Entwicklers J. F. Sebastian dringt Batty in das Hauptquartier der Tyrell Corporation vor. Er stellt seinen »Vater« Dr. Eldon Tyrell zur Rede, will von ihm die Verlängerung seiner Lebensdauer erpressen. Dieser verneint und verweist auf die abgeschlossene Entwicklung, die keine Modifikation mehr erlaubt. Batty ermordet Tyrell (und seinen Mitarbeiter J. F. Sebastian), flieht auf das Dach der Tyrell Corporation.

    Im Showdown findet Deckard ihn, es wird gekämpft, Batty rettet Deckard vor dem Absturz und stirbt – seine Lebensdauer ist abgelaufen. Deckard trifft auf die wartende Rachael, beide fliehen mit dem Auto.

    In der US-Version von 1982 erzählt Deckard dem Publikum im Voice-Over, dass Rachael eine Replikantin mit nicht festgelegter Lebensdauer ist. Beide fahren im Auto bei Sonnenschein davon, ein Happy Ending. In der hier dem Text zugrunde liegenden Final-Cut-Version von 2007 bleibt das Ende offen.

    Die Tyrell-Organisation als Spiegel heutiger Unternehmensrealitäten

    Die Protagonisten in der Tyrell Corporation erinnern an die amerikanischen Unternehmensgründungen wie Apple, Facebook, Tesla und Alphabet (ex Google): An der Spitze der exzentrische Chef (Dr. Eldon Tyrell) mit besonderer Beziehung zu seinem Designer und Chefentwickler (J. F. Sebastian), überdurchschnittlich intelligente Assistenten (Rachael) und hochspezialisierte Experten (Hannibal Chew als Augendesigner). Die Tyrell Corporation residiert in einem extravaganten Gebäude, eine Pyramide mit vielen tausend Fenstern. Außen verlaufende Expressaufzüge führen an die Spitze, in deren Räumlichkeiten Eldon Tyrell residiert. Hier scheint kurzzeitig und exklusiv die Sonne, ansonsten ist die Stadt versmogt, es regnet ohne Unterlass.

    Alle Führungskräfte wirken in der Organisation mehr oder minder verloren:

    Tyrell ist der fernschachspielende Eremit. Er arbeitet, wohnt und schläft in denselben Räumlichkeiten, die Zugänge sind gesichert.

    Sebastian ist der einsame, von selbstentworfenen Puppen umgebene Sonderling (»Sie sind meine Freunde, ich habe sie gemacht«). Er leidet an beschleunigter Alterung.

    Chew ist der naiv-verspielte, dem Alltag entrückte Entwerfer der Replikantenaugen im Tiefkühllabor. Er spricht in einfachen Worten, braucht als Ingenieur einer speziellen Einheit keine Eloquenz in der Kommunikation.

    Rachael ist die kühle und unnahbare Assistentin mit durchgestyltem Lebenslauf. Sie zweifelt bald an der Existenz der eigenen Vergangenheit und ahnt, dass sie eine Replikantin ist.

    Rachel: »Ich gehöre nicht zum Business. Ich bin das Business.«

    Eine realistische Führungsmannschaft, die wir als Coaches in Konzernorganisationen kennenlernen dürfen. Wobei »Mannschaft« eher nicht zutrifft: Die Protagonisten werden fast immer allein gezeigt, nur in einer Szene sehen wir Tyrell und Rachael im gemeinsamen Auftritt (nicht im gemeinsamen Dialog). Die Produktion bleibt unerwähnt, der Zuschauer sieht nicht, woher die Replikanten kommen, wer sie herstellt. In dieser Hinsicht ähnelt die Tyrell Corp. den ehemaligen amerikanischen Start-ups, von denen wir die Köpfe des Managements, aber weniger die Mitarbeiter und Produktionsstätten kennen.

    Nach außen wirkt die Tyrell-Organisation extrem geordnet, kontrolliert und transparent. Ein Trugschluss, wie der Blick in Unternehmensrealitäten zeigt. Mitnichten ist die Umwelt kontrollierbar, ständig strömen Ereignisse auf die Unternehmenslenker ein, die intern »verarbeitet«, in ihrer Komplexität reduziert werden müssen. Wie geschieht dies bei der Tyrell Corp.?

    Der Narzisst Dr. Eldon Tyrell in seiner Wirkungsstätte

    Die Bildsprache im Blade Runner führt Dr. Eldon Tyrell als Patriarchen ein (die tiefe, deutsche Synchronstimme unterstreicht dies): Hier sehen wir einen Mann, der weiß, wovon er spricht, Widerspruch zwecklos. Riesige, hohe Räume, lange Schreibtische, zuerst im Halbdunkel, dann im gleißenden Sonnenlicht, Tyrell zentral in der Bildachse. Ein Narzisst, beratungsresistent, unreflektiert und leicht kränkbar durch Organisationsmitglieder und Externe wie den Polizisten Rick Deckard.

    In diesem Bewusstsein hält Tyrell die Welt auf Abstand, zieht sich zurück, lässt arbeiten, hält im Hintergrund die Fäden. Der Aufenthalt auf der Erde ist nur in diesen exklusiven Räumen erträglich. In der übrigen Welt versprechen die ständig umherschwebenden Werbeluftschiffe:

    »Ein neues Leben erwartet Sie in den Kolonien unserer Welt. Die große Chance neu anzufangen in einem goldenen Land voller Möglichkeiten und Abenteuer.«

    Wer jetzt noch auf der Erde bleibt, ist selbst schuld.

    Seine Assistentin Rachael ist eine junge Führungskraft, gut zu steuern, da ihre Erfahrungen und ihr »gesunder Menschenverstand« unterentwickelt sind – dies finden wir oft in heutigen Unternehmensorganisationen (Abb. 1.2). Die Jüngeren lösen die Älteren im Mittelbau ab, eine ökonomische Überlegung, sie verdienen weniger, haben die schlechteren Verträge. Für Tyrell ist Rachael eine Schachfigur, die Anweisungen ausführen soll, im Sinne der Tyrell-Compliance. Was lag da näher als sie gleich als Replikanten zu erschaffen?

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    Abb. 1.2

    Dr. Eldon Tyrell (Joe Turkel) und seine Assistentin Rachael (Sean Young). (© Mary Evans Picture Library/picture alliance)

    Im Verlauf des Films wird der Mythos des allmächtigen Tyrell sukzesive zerstört, wir erleben ihn am Ende als gebrochenen Mann, der nicht in die Konstruktionsweise seiner Roboter eingreifen kann – und deshalb auch sterben muss. Dr. Eldon Tyrell besitzt die Deutungsmacht, versagt aber auf der Mikroebene. Im Coaching könnten Handlungsmöglichkeiten auf dieser Mikroebene entwickelt werden – siehe die Coachingprotokolle am Schluss.

    Die triviale und die nichttriviale Sichtweise auf Organisationen

    Heinz von Foerster (von Foerster und Pörksen 2008, S. 54 ff.) unterscheidet in seiner konstruktivistischen Sicht auf Systeme triviale und nichttriviale Maschinen. Im Falle der trivialen Maschine stehen sich einer Gruppe von Ereignissen oder Reizen (A, B, C und D) die Reaktionen (1, 2, 3 und 4) gegenüber. Aus dem Input A erzeugt die Maschine das Output 1, aus B folgt 2 usw. Die Ergebnisse sind berechenbar, zwischen In- und Output existiert eine unbedingte und unveränderliche Relation.

    »Die triviale Maschine ist ausgesprochen zuverlässig, ihre inneren Zustände bleiben dieselben, sie ist vergangenheitsunabhängig, synthetisch und analytisch bestimmbar (…) Und das ist der eigentliche Grund für ihre Beliebtheit; ich behaupte, dass unsere westliche Kultur geradezu in diesen Typ von Maschine verliebt ist« (von Foerster und Pörksen 2008, S. 55).

    Bei nichttrivialen Maschinen erzeugen Inputs (A, B, C und D) wiederum Outputs (1, 2, 3 und 4). Jetzt unterscheiden sich die Outputs bei der Wiederholung eines gleichen Inputs, beispielsweise erzeugt die Maschine bei Input A einmal Output 1, dann Output 4. Dazu von Foerster:

    »Eine nichttriviale Maschine ist analytisch nicht bestimmbar, denn sie variiert die Regel der Transformation immer wieder. Würden wir die Regel kennen, die die Transformationsregeln ändert, könnten wir auch die nichttriviale Maschine entschlüsseln und durchschauen. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann wird es schwierig und, wie sich zeigen lässt, unmöglich, die Outputs dieser nichttrivialen Maschine vorherzusagen« (ebd., S. 56).

    Wenn wir diese Maschinentheorie auf Organisationen erweitern, können wir von einer trivialen bzw. nichttrivialen Sichtweise auf Systeme sprechen. Die Tyrell-Organisation produziert bis zur Erfindung der Nexus-6-Serie hauptsächlich triviale Replikanten für triviale Input-Output-Vorgänge. In der neuesten Serie werden Gefühle hinzuprogrammiert, der Replikant lernt eigenständig hinzu und verhält sich – nichttrivial. Er wird zur komplexen Maschine, ausgestattet mit künstlicher Intelligenz.

    Vor dieser Herausforderung steht die Welt in Blade Runner: Die Replikanten sind in ihren Reaktionen grundsätzlich unberechenbar – auf Aktion A folgt nicht mehr Reaktion 1. Und die Systeme, in denen sie sich bewegen, sind per se schon nichttrivial.

    »Wir haben es permanent und überall mit nichttrivialen Maschinen zu tun. Manchmal gelingt es uns für einige Zeit, etwas zu trivialisieren – bis uns wieder das ganze Zeug um die Ohren fliegt« (ebd., S. 57)

    Die Sichtweise auf ein System kann trivial sein, das dahinter stehende System ist nichttrivial und somit komplex.

    Hinter der Cyborg-Replikanten-Vorstellung steht eine ökonomische Motivation: Die Schaffung einer vollautomatischen, kontrollierbaren Organisation – am besten wären wir alle Replikanten, inklusive der emotionalen Steuerung.

    Tyrell: »Wenn wir ihnen [den Replikanten] etwas geben, Vergangenheit, so schaffen wir ein Polster. Wir fangen ihre Emotionen auf und als Folge davon können wir sie besser kontrollieren.« Deckard: »Sie sprechen von Erinnerungen.«

    Hier irrt Tyrell, denn diese Erinnerungen/Emotionen führen zum Desaster. Die Maschinen sind nicht besser als wir, auch wenn wir sie mit ein bisschen Intelligenz und Gefühlen ausstatten. Sie versagen genauso wie wir im Alltag der Komplexität, sie schaffen Realitäten, sie töten.

    Die Polizei als regelnde Überorganisation

    Im Film sehen wir keine Politiker, keine Justiz, sondern nur die Exekutive: Polizisten (Abb. 1.3). Die Aufrechterhaltung der Ordnung ist an die Polizei delegiert, wobei der Zuschauer nicht den Ursprung dieser Organisation kennenlernt. Kein Widerstand, keine andere Meinung ist in der Öffentlichkeit zu vernehmen: Die Sehnsucht nach der Unfehlbarkeit einer alles regelnden Überorganisation ist auch hier die Sehnsucht nach dem Trivialen im Komplexen. Wenn sich im Film die Polizei (mit der Spezialeinheit der Blade Runner) um die Eliminierung der flüchtigen Replikanten kümmert, verlässt sie sich auf die triviale Sicht: Hier der gute Mensch und dort der schlechte Replikant, der nicht funktioniert hat. Rick Deckard beschreibt es treffend:

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    Abb. 1.3

    Los Angeles 2019: die Polizei regiert. (© Mary Evans Picture Library/picture alliance)

    »Replikanten sind wie jede andere Maschine: Sie können ein Nutzen oder eine Gefahr sein. Wenn sie ein Nutzen sind, ist das nicht mein Problem.«

    Die Methoden der Polizei spiegeln die Sehnsucht der Blade Runner-Gesellschaft nach Objektivität und Wahrheit. Heinz von Foerster merkt an:

    »Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden« (ebd., S. 154).

    Die Foersterschen Wahnvorstellungen steigern sich in der paranoiden Kontrolle der allgegenwärtigen Polizei, die mit ihren Helikoptersuchscheinwerfern die entlegensten Ecken von Los Angeles ausleuchtet und signalisiert: Wir sehen dich, immer und überall.

    In der zwölf Jahre früher erschienenen Kurzgeschichte »Minority Report« hatte Philip K. Dick diese Form von Trivialisierung und seine Auswirkungen auf Gesellschaft und Organisation bereits skizziert: Die Precrime-Abteilung weiß schon im Voraus, wann Verbrechen geschehen und verhindert sie. Die Datenlage lässt nur auf diesen einen Täter schließen (Heinz von Foerster würde sagen: Aus A folgt 1), der Pre-Täter ist schuldig und wird verurteilt. Der Staat als totalitäres System unter dem Deckmantel der Logik.

    Im Film Blade Runner hat die Polizei für die Objektivität der Ermittlungen die »Esper-Maschine«: Per Sprachbefehl vergrößert sie Bildausschnitte, macht sichtbar, was vorher nicht sichtbar war. Sie speist die Illusion: Je perfekter man es vergrößert, umso mehr sieht man, um was es wirklich geht. Wir brauchen nur die richtige Methode, die richtige Maschine, dann erfahren wir, wie es wirklich funktioniert. Nur: Die Polizei als Institution versagt. Erst der aus der Frührente geholte Deckard identifiziert die flüchtigen Replikanten mithilfe seiner »Intuition«, er spürt einfach, dass etwas nicht stimmt, und eliminiert die Cyborgs. Für ein Coaching wäre Deckard wahrscheinlich nicht zugänglich – vergleiche die Protokolle am Schluss.

    Trivialität als Chance versus Individualisierung

    Die perfekt gestylten Lebensläufe von 24-Jährigen Hochschulabgänger mit G-8-Abitur und dualem Masterstudium ähneln den Tyrell-erfundenen Erinnerungen für die Replikanten immer mehr. Eloquent, vordergründig lebensgewandt, dem eigenen Leben die wünschenswerte Vergangenheit gebend, wollen Berufsanfänger in die vorhandenen Systeme integrierbar sein – als Vorstufe der gelben Film-»Minions« (Englisch für loyale Diener, Gehilfen, Lakaien), der ideale Mitarbeiter einer Organisation mit demütigem Kontakt zum »Big Boss«. Nur: Die Individualisierung in der Gesellschaft macht den Personalern in Unternehmen und den Polizisten im Blade Runner einen Strich durch die Rechnung: Junge Mitarbeiter der Generation Y äußern Wünsche nach Teilzeitarbeit oder Freizeitausgleich. Replikanten verlangen Auskunft über das Abschaltdatum und in der Folge mehr Lebenszeit von ihrem Schöpfer.

    Mit unterschiedlichen Ergebnissen: Berufsanfänger verweilen kurz in Unternehmen und wechseln in losere Beschäftigungsverhältnisse bis zur Selbstständigkeit mit Notebook im Workspace. Sie verhalten sich extrem nichttrivial, ihre inneren Zustände produzieren neue, unterschiedlichste Outputs. Replikanten wie Roy Batty dagegen wenden sich nach außen, eliminieren die Wurzel der Organisation, ihren Schöpfer Tyrell, denn auch er kann das feststehende »Todesdatum« nicht mehr beeinflussen. Die Replikanten sind auf der Suche nach dem Menschsein, das vielen Menschen in Blade Runner verloren gegangen ist: Sie kommen auf die Erde, um ihren Schöpfervater zu finden und wollen nicht sterben, sondern leben.

    Doch es gibt Hoffnung, denn die Replikantin Rachael wählt einen anderen, konstruktiveren Weg als Kollege Roy. Zons deutet ihn treffend:

    »Ganz ähnlich verwandelt sich Rachael von der etwas puppenhaften Managerin der Tyrell-Corporation zur sinnlichen und emotionalen Frau erst durch ihre Selbstzweifel« (Zons 2001, S. 236).

    Sie kann es sich ja auch erlauben, ihre »Lebensdauer« ist als Sondermodell nicht festgelegt, sie wird es im Laufe des Films auch erfahren.

    Im Einzelcoaching, zum Beispiel für Rachael, besteht die Chance, die Erinnerungen an das eigene Leben abseits von Online-Lebensläufen bewusst zu machen und zu reflektieren. Im geschützten Raum könnte sie die Handlungsoptionen einer selbstentwickelten »Wirklichkeit« erarbeiten – siehe die Coachingprotokolle am Schluss. So könnte sich die Bearbeitung von Selbstzweifeln und damit die neu gedeutete Biografie im Führungsverhalten gegenüber den Mitarbeitern niederschlagen.

    Die Organisationsberatung reagiert auf die Individualisierung mit der Integration »emergenter Prozesse« in Organisationen (Schreyögg und Geiger 2016, S. 287 ff.), mit Konzepten wie dem »agilen Unternehmen« oder Tools wie der DECISIO-Prozesslandkarte. Goethes Zauberlehrling wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. Aus dem einfachen Prager Golem ist die totale Herrschaft der Maschinen erwachsen. Im Kino folgen auf den Blade Runner folgerichtig The Terminator, Total Recall, Gattaca, The Matrix, The Matrix Reloaded und, wieder Hoffnung machend, The Matrix Revolutions. Schließlich Ex Machina und eine schwedische Serie, in denen die Hubots treffsicher als Real Humans, echte Menschen, bezeichnet werden.

    Bei von Foerster wären Berater und Filmschaffende schon 1993 fündig geworden: Selbstorganisierende Systeme (von Foerster 1993, S. 211 ff.) und damit selbststeuernde Systeme auf der Basis von »inneren Mustern« deuten Lösungen an, die das Selbstverständnis von Managern erschüttern könnten – oder herausfordern. Selbststeuerung (und nicht: Selbstregelung = alles regelt sich von selbst) bedeutet, innere Muster der Organisation zu erkennen und Impulse bewusst zu setzen.

    Die Grenzen des Individuums: Voight-Kampff-Test als triviale Maschine

    Im Blade Runner bedient sich die polizeiliche Spezialeinheit des Voight-Kampff-Tests: Die Antworten aus einem Fragenkatalog messen via Irisreaktion das Mitgefühl und identifizieren zuverlässig den Replikanten, mag er sich auch noch so menschlich geben (Abb. 1.4). Unverkennbar leiht sich der Film (und sein Autor) die Wirkungsweise des Turing-Tests von Alan Turing: Computer und Mensch sind in Kommunikation, ein Dritter beobachtet den Dialog und stellt an beide Fragen – ohne zu wissen, wer Mensch, wer Computer ist. Wenn der Beobachter nicht mehr verlässlich sagen kann, wer wer ist, gilt der Turing-Test als bestanden. Im Voight-Kampff-Test, einer Art operationalisiertem Gefühlstest, testet Polizist Deckard sein Gegenüber auf Reaktionen auf der Körperebene: »Dies ist ein Test, um eine emotionale Reaktion zu provozieren.« 2005 bauten amerikanische Forscher einen Roboter, fütterten ihn mit Daten über Philip K. Dick (Leodolter 2015, S. 54) und rissen Dicks Tochter Ina zur Aussage hin, es sei wirklich so gewesen, als hätte sie mit ihrem Vater gesprochen. Turing-Test bestanden, Roboter lebt und – ist ein Mensch!

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    Abb. 1.4

    Der Blade Runner Rick Deckard (Harrison Ford) führt den Voight-Kampff-Test durch. (© Mary Evans Picture Library/picture alliance)

    Die Deckart-Descartes-Beschreibung der Affekte mündet in ein Bewusstseinsmodell, in dem Maschinen ebenfalls denken können, aber eben keine Empathie besitzen. Da ist es nur eine Frage der Zeit, wann im Film eine der Figuren, die Replikantin Pris, bekennt:

    »Ich denke, also bin ich.«

    Problematisch – und damit nichttrivial – wird es, wenn Replikanten frei herumlaufen und der Test nicht durchgeführt werden kann: Oder, wie zu Anfang des Films, den Polizisten mit den Worten »Ich erzähl’ Ihnen was über meine Mutter« schlichtweg erschießen.

    In der Unternehmenswirklichkeit finden diese Art von Tests täglich statt: Die »Business-Version« der Reiss-Profile zum Beispiel fragt 16 Lebensmotive ab, jeder Mitarbeiter kennt »seine Farben« und kann sich in Beziehung zu Chefs, Kollegen und Untergebenen setzen. Gerne werden diese Ergebnisse Leitmotiv in nahezu allen Alltagssituationen: »Ja, klar, er hat viel Grün im Machtbereich und leider auch viel Rot in Beziehungen« sind bekannte Aussagen aus Coachings. Einfach, trivial, einord- und kontrollierbar: »Ich weiß ja, wie er/sie ist und reagieren wird.« Oder, wie der Soziologie Kühl es formuliert:

    »Zwar lassen sich Organisationen gerne von der Soziologie über ihre Umwelt informieren, aber soziologische Beschreibungen über ihre eigene Organisation hören sie ungern« (Kühl 2015, S. 330).

    Wollen wir die Führungskraft als empathischen Mensch? Der Replikanten-CEO ohne Erinnerung an seine Vergangenheit ist doch einschätzbar – reaktionsfähiger als ein Vorstandsvorsitzender, der am Rande einer Pressekonferenz »menschelt« und den Aktienkurs nach unten rauschen lässt. Im Roman »Marsianischer Zeitsturz« beschreibt Philip K. Dick einen Mann, der mit seinem Personalchef spricht und sich bewusst wird: Der Chef ist eine Maschine, der Mann sieht die Zahnräder in Aktion. Was wäre, wenn eine Führungskraft in der heutigen Unternehmensorganisation entdeckt, dass er nur als eine Art Maschine eingestellt wurde? Und schließlich so behandelt wird?

    Algorithmen: Menschenähnliche Maschinen und maschinenähnliche Menschen

    Im Blade Runner erfahren wir nichts über die Programme, die die Replikanten steuern. Wir sehen immer nur die Ergebnisse der Programmierung oder der Fehlprogrammierung. Höchstwahrscheinlich werden die Replikanten im Grundsatz durch Algorithmen gesteuert. Wie haben sich die Replikanten der Serie Nexus-6 so weit entwickeln können, dass sie Gefühle erlernen und deuten können? Rick Deckard fragt noch:

    »Wie kann ES wissen, was ES nicht ist?«

    Aber es ist zu spät: Die Replikanten werden menschlich, mit Emotionen wie Furcht, Zuneigung, Hass und Trauer.

    Wir sehen im Film eine vielschichtige Gesellschaft aus Nonnen, Chassidim, Geschäftsleuten, Hare-Krishna-Jüngern und Punks, die ein eigenes Kauderwelsch aus Koreanisch, Französisch, Ungarisch, Deutsch und Japanisch sprechen. Es gibt keine Hinweise auf Familien und deren Bindungen, nur die Replikanten haben Bilder von ihren »Eltern«. Unter den Menschen gibt es keine Nähe und Rücksichtnahme mehr. Sie haben sich, einsam und isoliert fühlend, im Los Angeles des Jahres 2019 genau umgekehrt zu den Replikanten entwickelt. Die Menschen werden immer maschinenähnlicher, die Maschinen immer menschenähnlicher – getreu dem Tyrell-Motto »More human than human«.

    Das war 1982, im Entstehungsjahr des Films, prophetisch. Denn erst seit ein paar Jahren stellen wir fest, dass der Mensch über mathematische Verfahren eine berechenbare Größe werden soll, um ihn lückenlos zu überwachen. Experten sprechen vom umgekehrten Turing-Test, bei dem bewiesen wird, dass der Mensch die bessere Maschine geworden ist, die nun »rund« läuft. An die Stelle von persönlichen Eigenschaften treten logische Formeln. Der Mensch hat, wie der Replikant, eine »Laufleistung«, wird maschinenähnlich, trivial beschrieben im Algorithmus von Google, Amazon und Facebook – Mechanisierung inklusive Kontrollierbarkeit.

    Im Extremfall identifizieren Menschen die von Algorithmen gesteuerten Maschinen als Freunde, weil (so der Informatiker David Gelernter bei einem Gespräch in Berlin 2016) »sie ihnen eine künstliche Aufmerksamkeit schenken, die sie bei Menschen vermissen«. In Spike Jonzes Film Her zum Beispiel passiere genau dies. Im Film Blade Runner, knapp 35 Jahre vorher entstanden, finden wir diese Mensch-Maschine-Zuneigung ebenfalls: In der Wohnung des Replikantenentwicklers J. F. Sebastian warten die Roboter auf die Heimkehr ihres Schöpfers und begrüßen ihn voll Wiedersehensfreude, jeden Tag aufs Neue, immer aufmerksam.

    Sind wir alle schon Replikanten, weil wir durch die Algorithmen der Industrie so gut beschrieben sind? Replikanten-Rachael fragt Mensch-Deckard in einem intimen Moment:

    »Dein Voight-Kampff-Test: Hast du dich selbst je diesem Test unterzogen?«

    Deckard antwortet nicht, den Zuschauer beschleicht eine Vermutung. Folgerichtig wird es im für 2017 geplanten zweiten Blade-Runner-Teil eine Antwort auf die jahrelang heiß diskutierte Frage geben: Ist Rick Deckard ein Replikant? Harrison Ford weist das energisch von sich, der Regisseur Ridley Scott vertritt neuerdings beim Yahoo-Interview eine andere Position: »Natürlich ist er ein verdammter Replikant! Und er wird es endlich zugeben müssen.«

    Bolz hat dazu erkannt:

    »Die Wirklichkeit besteht also aus contradictory certainties, aus einander widersprechenden Gewissheiten. Auch wenn’s wehtut: Hier gibt es keine Wahrheit mehr, sondern nur noch unterschiedlich stabile Fiktionen« (Bolz 2012, S. 190; Hervorh. i. Orig.).

    Und somit hängen die Wahrheit und die Wirklichkeit, das zeigt Blade Runner, von der Perspektive ab oder werden vom Beobachter konstruiert. Oder wie Roy Batty im Tannhäuser-Tor-Monolog am Schluss des Films formuliert:

    »All diese Momente werden verloren sein in der Zeit. So wie Tränen im Regen.«

    Coachingprotokolle

    Zu dreien der Hauptdarsteller wurde mentaler Kontakt aufgenommen – es entstanden die folgenden Gedächtnisprotokolle.

    Coachingtelefonat mit Rick Deckard, Mitarbeiter der Blade Runner

    Der erste Kontakt auf der Mailbox »Rufen Sie mich zurück. Es ist dringend.«

    Coach: »Um was geht es Ihnen?«

    Deckard: »Ich muss raus aus dem System. Ich mache immer dasselbe, meine Vorgesetzten sind schwierig, zudem habe ich mich in eine meiner Klientinnen verliebt, die ich im Job eigentlich erledigen müsste.«

    Coach: »Gibt es denn Alternativen in Ihrer Situation?«

    Deckard: »Auf einem anderen Planeten vielleicht. Aber dazu fehlt mir das Geld.«

    Coach: »Was wäre ein guter erster Schritt hier auf der Erde?«

    Deckard: »Vergessen Sie die Schritte. Ich bleibe so, wie ich bin. Irgendjemand wird mich schon kontaktieren.«

    Coach: »Und wenn Sie sich in meine Rolle versetzen würden: Was würde der Coach Ihnen sagen, damit Sie Ihre Situation verbessern können?«

    Deckard: »Wer bezahlt hier eigentlich für wen?«

    Weitere Fragen und Antworten gehen hin und her, schließlich das Resümee vom Coach: »Ich sage es Ihnen frei heraus: Zu diesem Zeitpunkt ist ein Personalberater die bessere Wahl. Dann, auch das traue ich mich mal, würde ich Ihnen eine Therapie empfehlen.«

    Notiz vom Coach: Beide Adressen, Personalberater und Therapeut, hat Herr Deckard nicht kontaktiert. Wahrscheinlich bleibt der Klient bei seiner eher trivialen Sicht auf sein System.

    Coachingdiagnostikgespräch mit Rachael, Assistentin in der Tyrell Corp.

    Coach: »Was sollte ich heute über Sie wissen, um für Sie ein guter Coach zu sein?«

    Rachael: »Etwas über meine Biografie vielleicht. Und was ich zukünftig machen will. Und auch: Wer bin ich wirklich?«

    Coach: » Was haben Sie schon versucht, um Ihre Situation zu verbessern?«

    Rachael: »Ich habe meine Biografie geordnet, einen wirklich ordentlichen Lebenslauf geschrieben, sogar Recherchen über meine Eltern gemacht. Leider ohne Erfolg.«

    Coach: »Wie könnte Coaching Sie unterstützen?«

    Rachael: »Zuerst einmal zuhören. Alle glauben immer, sie wüssten alles über mich. Doch ich entwickele mich immer weiter, will meine eigenen Gedanken denken und auch eigene Erinnerungen speichern.«

    Coach: »Woran würde Ihr Umfeld merken, dass Ihr Coaching erfolgreich ist?«

    Rachael: »Mein Chef würde mir eine Leitungsposition zutrauen, mein Freund Rick würde vielleicht mal auf meinen Rat hören, die Kollegen meine Memos lesen.«

    Coach: »Und was würde passieren, wenn ihre Programmierung auf unterschiedliche Eingaben mit unterschiedlichen Outputs reagieren würde?«

    Rachael: »Sie meinen wohl, wenn ich nichttrivial reagieren würde? Dann käme Ordnung in meine Biografie. Und ich könnte Reaktionen anderer in meiner Organisation erheblich besser einordnen.«

    In der Interaktionsdiagnostik schreibt der Coach: »Rachael wirkt auf mich selbstverantwortlich, hat Defizite im Selbstwert. Die erfundene Biografie lastet schwer auf ihr, sorgt für Verwirrung. Als Handlungsimpuls würde ich ihr gerne eine neue Biografie anbieten, ich weiß aber, dass dies aufgrund ihrer intelligenten Programmierung zu noch größeren Störungen führen könnte. Hinweise gibt die Klientin in der Identifikation der Nichttrivialität – sie lernt sehr schnell von meinen Interventionen. Mögliche Ansatzpunkte für das Coaching: Struktur in den Arbeitsalltag, Verständnis für die programmierten Erinnerungen, emotionales Aufladen dieser Erinnerungen, zum Beispiel Tagebuchschreiben. Prüfen: Doppelbelichtungen des Autors Philip K. Dick zu seiner Romanfigur und seiner früh verstorbenen Zwillingsschwester Jane C. Dick (Schuldgefühle, ausgelöst durch die Mutter).«

    Erste Coachingsitzung mit Dr. Eldon Tyrell, Inhaber der Tyrell Corp.

    Coach: »Was wäre für Sie ein gutes Ergebnis nach dem Coaching?«

    Tyrell: »Ich hätte einen Nachfolger in meiner Firma. Ich hätte wieder Zeit für mich. Ich hätte die Verantwortung abgegeben. Mein Nachfolger hätte mir alles Operative abgenommen.«

    Coach: »Ist denn überhaupt ein Nachfolger in Sicht?«

    Tyrell: »Weit und breit niemand. In der Familie haben alle abgewunken. Im Beirat habe ich keine Signale wahrgenommen. Vielleicht einer meiner leitenden Führungskräfte.«

    Coach: »Haben Sie ihn angesprochen?«

    Tyrell: »Es ist eine Frau. Meine Assistentin Rachael.«

    Coach: »Und, was sagt sie?«

    Tyrell: »Sie will nicht so enden wie Ihre Vorgänger. Die haben es nämlich alle nicht hinbekommen. Haben alle im Wenn-dann-Modus gehandelt.«

    Coach: »Was meinen Sie, woran es gelegen hat?«

    Tyrell: »Wie Sie schon so fragen: Wahrscheinlich an mir und meiner einfachen Sicht auf meine Firma.«

    Coach: »Wie kommen Sie darauf, wieso liegt es an Ihnen? Und was meinen Sie mit ›einfach‹?«

    Tyrell: »Na, das ist doch wohl klar. Niemand macht es so wie ich. Als Ingenieur meine ich mit ›einfach‹: Jeder ist ersetzbar, bei Nichtfunktionieren müssen wir die Rädchen austauschen. Am liebsten hätte ich einen Klon von mir.«

    Coach: »Das wäre in Ihrer Situation doch möglich. Ist Rachael nicht so etwas wie ein Klon?«

    Tyrell: »Ja sicher ist sie das. Aber so einfach geht es nicht. Sie muss besser als ich handeln, logischer, schneller, zielgerichteter.«

    Coach: »Und was tut sie stattdessen?«

    Tyrell: »Sie macht genau des Gegenteil von einfach: Sie entwickelt Gefühle!«

    Literatur

    Bolz N (2012) Die Sinn-Gesellschaft. Kulturverlag Kadmos, Berlin

    Foerster H v (1993) Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Suhrkamp, Frankfurt/M

    Foerster H v, Pörksen B (2008) Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Auer, Heidelberg

    Kühl S (2015) Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis. Von der Gefahr des systemischen Ansatzes sich in Beliebigkeit zu verlieren. Gruppendynamik Organ 46:327–339

    Leodolter W (2015) Das Unterbewusstsein von Organisationen. Springer Gabler, Heidelberg

    Schreyögg G, Geiger D (2016) Organisation. Springer Gabler, Wiesbaden

    Zons R (2001) Die Zeit des Menschen. Zur Kritik des Posthumanismus. Suhrkamp, Frankfurt/M, S 220–243

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017

    H. Möller, T. Giernalczyk (Hrsg.)Organisationskulturen im Spielfilmhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-52895-2_2

    »I’m fucking smart« – Narzisstische Führungskräfte und ihre Wirkung auf Organisationskulturen

    ENRON – The Smartest Guys in the Room

    Christian Huber¹   und Tobias Scheytt¹  

    (1)

    Institut für Controlling und Unternehmensrechnung, Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg, Germany

    Christian Huber

    Email: huber@hsu-hh.de

    Tobias Scheytt

    Email: scheytt@hsu-hh.de

    Einführung

    Übersteigertes Selbstbewusstsein, Verliebtheit in das eigene Unternehmen, Abwiegeln von Kritik und Skeptizismus sowie aggressives Verhalten gegenüber der inneren und äußeren Umwelt werden seit Langem schon als Charakteristika von Führungskräften beschrieben (vgl. etwa Mertens et al. 1991; Ogger 1995; Krainz 2013). Welche konkreten Folgen diese Charakteristika für das Schicksal von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder sogar für ganze Unternehmen haben – und mehr noch: welche Ursachen dem Handeln zugrunde liegen – kommt allerdings nur selten ans Licht der Öffentlichkeit. Das mag unter anderem daran liegen, dass es in der Natur der Sache liegt, dass solches Handeln im Verborgenen geschieht; und wenn es öffentlich wird, mangelt es mitunter an einer Erklärung der Ursachen, weil die Skandalisierung malignen Führungshandelns meist mehr Aufmerksamkeit erfährt als die Analyse der persönlichen und sozialen Ingredienzen, die zu den Problemen geführt haben.

    Ein ähnliches Muster lässt sich erkennen, wenn man auf die Thematisierung malignen Führungshandelns in Spielfilmen schaut. Man denke nur an Michael Douglas’ Verkörperung eines skrupellosen Investors in den beiden Wall Street-Filmen von Oliver Stone (1987, 2009); den Charakter von Jordan Belfort, gespielt von Leonardo DiCaprio in Martin Scorseses The Wolf of Wall Street (2013); oder auch an die ironische Posse Hudsucker der Coen-Brüder (1994), in der die Welt der Reichen und Mächtigen durch einen vermeintlich nützlichen Idioten auf den Kopf gestellt wird, weil der seinen eigenen, überraschend erfolgreichen Ideen folgt und so gar nicht den Ränkespielen derer, die ihn für ihre Machtspielchen benutzen wollen, gehorcht. Auch bei der filmischen Bearbeitung stehen also die spektakulären, mitunter krankhaften Charaktere von Führungskräften mehr im Zentrum des künstlerischen Interesses als deren Ursachen.

    Eine der wenigen Ausnahmen, allerdings als Dokumentarfilm, bildet ENRON: The Smartest Guys in the Room (2005) (Abb. 2.1). In Alex Gibneys Dokumentarfilm werden Firmengeschichte und -kultur des US-amerikanischen Unternehmens EINRON Corp. dargestellt. Die Erzählung fokussiert auf das Zusammenspiel von Führungskräften mit einer als narzisstisch zu bezeichnenden Grundhaltung, einer dafür sehr empfänglichen Organisationskultur und dem anfangs blinden Vertrauen von Investoren, Wirtschaftspresse und (Wirtschafts-)Politik in das Unternehmen angesichts des geradezu wundersamen Erfolgs von ENRON. Diese Elemente sind es auch, die für die Erklärung des spektakulären Zusammenbruchs des Unternehmens in 2001 herangezogen werden. Der Film rechnet einen Gutteil der Ursachen der Firmenpleite den Charakterzügen der verantwortlichen Manager zu sowie ihrer Fähigkeit, diesen Narzissmus auf die Organisationskultur zu übertragen.

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    Abb. 2.1

    Filmplakat ENRON The Smartest Guys in the Room. (© Kinowelt Home Entertainment)

    Der folgende Text hat zum Ziel, der im Film angelegten Analyse der Unternehmenskultur von ENRON nachzufolgen und Schlussfolgerungen für eine Theorie »krankhafter« Unternehmenskulturen anzudeuten. Im Folgenden werden dafür zunächst sehr kursorisch konzeptionelle Aspekte von narzisstischen Störungen bei Führungskräften und deren Einfluss auf Organisationskulturen erörtert. Sodann wird kurz das Unternehmen ENRON Corp. vorgestellt und die Schilderung der Unternehmenskultur von ENRON durch Gibneys Film zusammengefasst. Schließlich werden in einem kurzen Fazit Konsequenzen angedeutet; einerseits für die Darstellung von (narzisstischen) Organisationskulturen in Filmen, andererseits für die Organisations(kultur)forschung.

    Kultur, Führung und Narzissmus in Organisationen

    Die Feststellung, dass Organisationskulturen narzisstisch sein können, ist durchaus nicht neu. So unterschiedliche Beiträge wie die berühmte Studie von Schwartz (1990) zur NASA und den Ursachen der Challenger-Katastrophe, die systematische Analyse der tiefenpsychologischen Grundlagen narzisstischen Handelns in Organisationen von Kets de Vries und Miller (1985) oder die Reflexionen von Mertens et al. (1991) zur Rolle der Führung im Unternehmen haben bereits vor vielen Jahren auf den Zusammenhang verwiesen. Jüngere Beiträge, auch und gerade auf die Machenschaften bei Finanzdienstleistern im Zuge der globalen Finanzkrise fokussierend, verstärken die Behauptung, dass übersteigerte Empfindungen der eigenen Überlegenheit und Unverletzlichkeit regelmäßig bei bestimmten Organisationskulturen zu beobachten sind (vgl. etwa Luyendijk 2015; Fenzl 2009).

    Allerdings ist die These, dass Organisationen (krankhaft) narzisstisch sein können, recht voraussetzungsvoll. Zunächst ist zu beachten, dass Narzissmus ein individuelles Phänomen ist, das zwar das Sozialverhalten von Personen bestimmt, allerdings nicht per se als kollektives Geschehen aufzufassen ist. Zweitens ist zwischen einem gesunden und einem pathologischen Narzissmus von Organisationen zu unterscheiden – eine Abgrenzung, die schon auf der individuellen Ebene durchaus schwierig ist. Drittens wären die organisationalen Mechanismen zu erläutern, die vom Narzissmus so durchwirkt werden, dass man überhaupt von einer narzisstischen Organisationskultur sprechen kann.

    Unter Bezugnahme auf gängige Konzepte der Organisationskultur (v. a. Schein 2010, 2013) lassen sich diese Problemkreise allerdings konzeptionell einheitlich behandeln. Eine Organisationskultur umfasst nach Schein die von den Mitgliedern einer Organisation kollektiv geteilten und verankerten Stile der Wahrnehmung, des Denkens, Handelns und Erlebens. Auch wenn man von einem kollektiven Phänomen sprechen kann, bleiben es allerdings die Individuen, die die Kultur tragen, beeinflussen und entwickeln (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Sackmann in diesem Band). Genau diese Konstellation erklärt, wie narzisstische Dispositionen von einem individuellen zu einem kollektiven Phänomen werden und in kollektiv-pathologischen Zuständen münden können.

    Genauer lassen sich auf Grundlage des Ansatzes von Schein zwei Charakteristika von Organisationskulturen beschreiben, die die Transformation von individuellen narzisstischen Tendenzen in kollektive befördern. Erstens bestehen Unternehmenskulturen aus mehreren Schichten. Schein (2010) erläutert in seinem »Drei-Ebenen-Modell«, dass der explizite Teil der Unternehmenskultur, der sich in wahrnehmbaren »Artefakten«, wie etwa dem Firmenlogo, der Architektur, aber auch in Kommunikations- und Kooperationsmustern zeigt, durch zwei tiefer liegende Schichten beeinflusst wird. »Gemeinsame Werthaltungen« der Organisationsmitglieder als darunter liegende, zweite Schicht prägen diese sichtbaren Artefakte, werden aber ihrerseits bestimmt durch die noch tiefer liegende Schicht der »grundlegenden Annahmen«, die das Selbstverständnis und die Weltsicht der Organisation prägen. Zu beachten ist, dass nur die Schicht der sichtbaren Artefakte durch Organisationshandeln direkt adressierbar ist, also beispielsweise verändert werden kann, hingegen die tieferen Schichten allenfalls indirekt, weil sie in ihrer Selbstverständlichkeit sich der Explikation, Reflexion und Diskussion entziehen. Zweitens werden nach Schein (2013) Organisationskulturen asymmetrisch geprägt. Demnach haben Führungskräfte, allein schon durch die Zuordnung von Aufgaben und Kompetenzen in Organisationen, einen wesentlich stärkeren Einfluss auf die Entwicklung der Organisationskultur als andere Organisationsmitglieder.

    Über den »Transmissionsriemen« der Organisationskultur können also individuelle Werte und Grundhaltungen von narzisstischen Führungskräften in die Organisationskultur diffundieren. Dabei ist zu beachten, dass nicht jede narzisstische Prägung negativ für die Entwicklung eines Unternehmen und seiner Kultur sein muss. Campbell et al. (2011) argumentieren sinngemäß, dass ein gewisses Maß an Narzissmus eine Grundvoraussetzung kreativen Unternehmertums darstellt. Der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Ideen steht grundsätzlich am Anfang einer jeden Geschichte über innovative Unternehmen. Dammann (2007) argumentiert ähnlich in Bezug auf den Übergang vom »normalen« zum gestörten Narzissmus und betont unter Bezugnahme auf machttheoretische Konzepte, dass beispielsweise charismatische und narzisstische Aspekte des Führungshandelns genau voneinander unterschieden werden müssen, obzwar beide als interaktionelles Geschehen zu verstehen sind. Volkan (2006) – wenngleich unter Bezug auf Großgruppen wie Völker oder Ethnien – hebt auf ähnliche Weise hervor, dass man von einem Narzissmus von Gruppen sprechen kann, weil die Selbstrepräsentanz der Grandiosität, die typisch für narzisstische Führungspersönlichkeiten ist, sich erst in der Interaktion mit der Bezugsgruppe bildet. Auch Krainz (2013, S. 183 ff.) betont, dass die Wendung von »normaler« Eitelkeit im Management zum Narzissmus sich vor allem im interaktionellen Geschehen widerspiegelt, weil sich genau darin die typischen Spezifika narzisstischer Dispositionen manifestieren.

    Auch wenn also Narzissmus als Eigenschaft von ganzen Organisationskulturen aufgefasst werden kann, verbleibt die Frage, wodurch sich der »gute«, für eine Organisation nützliche Narzissmus von dem als »schlecht« wahrgenommenen unterscheidet. Kets de Vries und Miller (1985) schlagen hierzu vor, unter Bezugnahme auf Störungen in den Primärbeziehungen verschiedene Typen von Narzissmus zu differenzieren, und zwar einen konstruktiven, einen illusionären und einen reaktiven Typus. Währen der konstruktive Narzissmus eine »normale« Erscheinungsform ist, die durch Kreativität, Humor, Selbstvertrauen und gesundem Ehrgeiz gekennzeichnet ist, entspricht der illusionäre Typ einem gestörten Narzissmus, der auf mangelndem Selbstwertgefühl und entsprechenden Abwehrreaktionen, wie Konservativität, Angst vor Misserfolg, Abgrenzungs- und Kontrollstreben sowie Jagd nach Idealen beruht. Der ebenfalls als gestört zu bezeichnende reaktive Narzissmus ist hingegen mit Grandiosität, Darstellungsdrang, Mitleidslosigkeit, Kälte und Anspruchsdenken gegenüber anderen verbunden.

    Bei den von Kets de Vries und Miller als gestört bezeichneten Typen des Narzissmus fällt wiederum auf, dass die charakteristischen Verhaltensweisen vornehmlich interaktionelle Spezifika benennen – wodurch wieder die Relevanz der Organisationskultur als vereinheitlichendem Rahmen des Interaktionsgeschehens offensichtlich wird. Welcher der beiden Typen im Falle von ENRON vorherrscht, soll im Folgenden anhand einer kurzen Schilderung des Unternehmens und der Darstellung im Film herausgearbeitet werden.

    ENRON Corp. – Archetypus einer (Miss-)Erfolgsgeschichte im Spätkapitalismus

    Der Film: »Enron – The Smartest Guys in the Room«

    Der Oscar-nominierte dokumentarische Film von Alex Gibney erzählt die Geschichte der ENRON Corp. als Exempel für viele (inzwischen) gängige Kritikpunkte am modernen US-amerikanischen Kapitalismus. Das Material, mit dem Gibney in seiner filmischen Collage arbeitet, besteht aus Interviews, Filmdokumenten von Pressekonferenzen und Gerichtsverfahren sowie Audio- und Videomitschnitten aus internen Sitzungen. Dazu kommen Interviews mit ehemaligen Mitgliedern aus zentralen Abteilungen von ENRON sowie mit Finanzanalysten und Journalisten, die sich damals mit ENRON beschäftigten.

    Der Erzählstrang folgt lose dem historischen Verlauf von Aufstieg und Fall des Firmenimperiums. Verschiedene Themen werden dabei parallel zueinander bearbeitet: ENRONs Organisationskultur, die Biografie der Hauptverantwortlichen, das Schicksal der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Methoden des Betrugs und der Bilanzfälschung sowie die politischen Verstrickungen. Die Hauptfiguren, insbesondere die beiden Geschäftsführer Kenneth Lay Jr. (CEO) und Jeffrey Skilling (Chief Operating Officer, COO), werden dabei zwar in ihren Charakterzügen ausführlich geschildert, aber nicht ausschließlich als das inkorporierte (geschäftlich) Böse gekennzeichnet. Zeitzeugen schildern sie als durchaus schätzenswerte, hochgradig charismatische oder verführerische Persönlichkeiten.

    Geschäftsmodell

    ENRON entstand 1985 aus der Fusion zweier Unternehmen, deren traditionelles Geschäftsfeld im Bereich der Gasversorgung lag. Der Gasmarkt und der Energiemarkt, in den ENRON kurze Zeit später einstieg, waren zu dieser Zeit hochgradig regulierte Märkte. Das damalige Geschäftsmodell von ENRON beruhte also auf recht unspektakulären, vertraglich langfristig abgesicherten Beziehungen mit Lieferanten und Kunden, die einen durchschnittlichen, aber sicheren Profit versprachen.

    Die filmische Schilderung von ENRON setzt Anfang der 1990er Jahre an, als die Märkte für die Energieversorgung in den USA eine Welle von Deregulierungen erfuhren und ENRON begann, sich vom regulierten Gas- und Energieversorger in ein hyperreales Unternehmen zu verwandeln (vgl. Stieglitz 2003). Der Film schildert, wie ENRON in Anlehnung an die zuvor schon deregulierten Finanzmärkte begann, Strom und Gas in Termingeschäften zu handeln. Hinterlegt wurde diese Transaktionsform mit komplexen Derivatkonstruktionen und, bedingt durch eine hohe Schuldenlast, ersten malignen Praktiken zur Absicherung der Profite. ENRON begann, durch spezifische Bilanzierungspraktiken die Erträge aus dem zukünftigen (Termin-)Verkauf von Strom oder Gas unmittelbar in der Gegenwart zu verbuchen, wohingegen die (zukünftigen) Aufwendungen für den Terminkauf von Strom und Gas nicht in die Konzernbilanz aufgenommen, sondern auf anonyme Offshore-Gesellschaften in Steuerparadiesen verschoben wurden. Die Folge war, dass bis Anfang 2001 über die Maßen hohe und exponenziell wachsende Profite ausgewiesen wurden.

    Der Dokumentarfilm konzentriert sich aber bei der Darstellung des Geschäftsmodells vor allem auf die Organisationskultur, die sich seit Anfang der 1990er Jahre unter dem Einfluss der Manager Lay und später Skilling stark wandelte (Abb. 2.2).

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    Abb. 2.2

    Kenneth Lay Jr., CEO der ENRON Corp. und Erfinder des neuen Geschäftsmodells in den 1990er Jahren. (© Kinowelt Home Entertainment)

    Erfolgszwang

    ENRON zeichnete sich durch eine Organisationskultur aus, die als hyperaggressiv und stereotyp-maskulin bezeichnet werden kann. Im Zentrum des Strebens stand der ökonomische Erfolg; der Aktienkurs wurde beispielsweise tagtäglich in den Aufzügen des Firmengebäudes ausgehängt, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu besonderen Leistungen anstacheln sollte. Weitere Merkmale waren eine alles überragende Wettbewerbsorientierung, ein organisationsweites Überlegenheitsgefühl sowie ein ins Arrogante übersteigertes Selbstwertgefühl und eine schwach ausgeprägte Reflexionsfähigkeit, auch und gerade in der Phase, in der es dem Unternehmen immer schlechter ging.

    Kritische Stimmen von außen, erhoben beispielsweise durch Analysten und Journalisten, wurden durch Diffamierungen oder Drohungen abgewehrt. Kritische Stimmen von innen waren ohnehin nicht vernehmbar. Die Dokumentation arbeitet sehr detailliert die Ironie des Firmenwahlspruchs von ENRON heraus: »Ask why.« Die Warum-Frage durfte in Bezug auf nicht ausgeschöpfte, hochriskante Geschäftsmöglichkeiten jederzeit gestellt werden – dazu forderte die Kultur geradezu heraus. Hingegen war es unmöglich, die Frage »Warum?« in Bezug auf die Grundlagen der Organisationskultur selbst zu stellen.

    Die Dokumentation offenbart auffällige Muster selektiver Wahrnehmung bei den Organisationsmitgliedern. So ist beispielsweise auch im Nachhinein die Frage danach, wie ENRON überhaupt Profit hätte machen sollen, für die interviewten Zeitzeugen überraschend schwer zu beantworten, weil selbst in den wirtschaftlich guten Phasen Erklärungen für die (vermeintlichen) Erfolge kaum intern eingefordert oder diskutiert wurden.

    Selbststilisierung

    Die aggressive Unternehmenskultur zeigte sich aber auch in der Selbststilisierung des Unternehmens. So hatte das zentrale Firmengebäude den Spitznamen »Death Star« – nach dem planetenzerstörenden »Todesstern« des dunklen Imperiums aus Star Wars. Die Topmanager hatten einen ausgeprägten Drang nach Selbstdarstellung – allen voran COO Jeffrey Skilling, der stets danach strebte, dass die Wirtschaftspresse ihn als einen der größten Innovatoren der damaligen Zeit darstellte (Abb. 2.3). Intern und extern stand er sinnbildlich für die Möglichkeit, mit klugen Ideen und deren rücksichtloser Umsetzung reich und mächtig werden zu können. So war es auch ursprünglich Skillings Idee, Energiekontrakte wie Finanzderivate zu handeln. Aufschlussreich für die »Ernsthaftigkeit« dieses Verfahrens ist ein in der Dokumentation gezeigte Szene: Skilling spielt in einem fiktiven Sketch sich selbst, wie er gegenüber Firmenvertretern die bei ENRON angewendeten malignen Bilanzierungs- und Bewertungsverfahren als wiederum veraltet darstellt, eine neue Bewertungsbasis namens »hypothetischer Zukunftswert« vorschlägt, was nach seiner Aussage dem Unternehmen »Fantastillionen« sichert (Filmausschnitt 19:48–20:35).

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    Abb. 2.3

    Jeffrey Skilling, langjähriger COO der ENRON Corp., posiert vor dem »Death Star« genannten Firmengebäude. (© Kinowelt Home Entertainment)

    Ein weiterer Beleg für das konstruierte Selbstbild von Skilling findet sich wiederholt in der Dokumentation: Jeffrey Skilling und Kenneth Lay werden in einer Zeitung mittels Fotomontage als riesige Strommasten mit menschlichen Köpfen dargestellt. Die empfundene Grandiosität zeigt sich auch in dem Diktum Skillings über das Ziel von ENRON:

    »We are trying to change the world«.

    Auch sehr früh in seiner Karriere zeigte Skilling bereits ähnliche Selbsteinschätzungen, etwa im Rahmen seiner Bewerbung um einen Studienplatz in Harvard, als er auf die Frage eines Professors, ob er schlau (smart) sei, geantwortet haben soll: »I‘m fucking smart!«

    Umgang mit Risiken

    Ein weiterer zentraler Aspekt der Organisationskultur von ENRON war der Umgang mit Risiken. Skilling bezeichnete einmal gegenüber Medienvertretern das Streben nach Risiko als zentrales Motiv von ENRON:

    »Wir lieben das Risiko, denn mit Risiken verdient man Geld.«

    Auch hier beweisen sich die Vorstände in ihrem individuellen Handeln als stilgebend. Legendär in den Augen der Zeitzeugen waren Firmenevents wie wilde Motocrossrennen, die die Führungsspitze von ENRON für enge Freunde und Kunden veranstaltete. Berichtet wurde, dass sich Mitglieder der Unternehmensspitze nicht nur Knochen brachen, sondern fast umkamen und dafür gefeiert wurden (Filmausschnitt 24:52–26:07). Die persönliche Risikopräferenz des Managements prägte auch die – hochgradig risikofreundliche – Unternehmenskultur von ENRON. Der Handel mit den Terminkontrakten wurde so aggressiv betrieben, dass mitunter Kontrakte über Stromlieferungen in der Zukunft abgeschlossen wurden, für die die Kraftwerke noch nicht einmal gebaut waren (Abb. 2.4).

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    Abb. 2.4

    Manager und Geschäftspartner machen Pause während eines von der ENRON organisierten Motocrossrennens. In der Mitte stehend ist Andy Fastow, damals Finanzchef der ENRON, zu erkennen. (© Kinowelt Home Entertainment)

    Der überwiegende Teil von ENRONs Geschäftstätigkeit wurde dabei von dezentral und autonom agierenden Tradern erledigt. Die große Distanz der Trader zur zentralen Hierarchie führte dazu, dass die (aggressive) Organisationskultur eine besonders wichtige Funktion erfüllte, weil sie in der Abwesenheit von direkten Anweisungen den Orientierungsrahmen für Handlungen bot (Filmausschnitt 22:40–22:53). Die Aggressivität, die in der Subkultur der Trader vorherrschte, bringt Charles Wickman, selbst ehemaliger Trader von ENRON, in der Dokumentation folgendermaßen zum Ausdruck:

    »Wenn ich auf dem Weg zum Büro meines Chefs bin, um über meine Abfindung zu sprechen, und ich kann die Summe verdoppeln, indem ich jemandem das Genick breche, dann tue ich das. So waren die Leute.«

    Interaktion mit externen Akteuren

    Die externe Kommunikation und Interaktion von ENRON war

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