Freud heute: Zur Relevanz der Psychoanalyse: Ein Überblick für psychologische und ärztliche Psychotherapeuten
Von Timo Storck
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Timo Storck prüft in diesem essential die zeitgenössische Relevanz psychoanalytischen Denkens und berührt dabei das psychoanalytische Menschenbild anhand der wichtigsten Konzepte, den Charakter der Psychoanalyse als Behandlungsverfahren sowie den Transfer psychoanalytischer Methodik auf außerklinische Bereiche, insbesondere Kunst und Kultur. Ein wichtiges Anliegen ist ihm dabei eine kritische Darstellung der Psychoanalyse „mit Freud über Freud hinaus“, sodass sich die folgende Frage stellt: Was am Freud’schen Denken behält Bestand und bewährt sich für einen Verstehenszugang des Menschen heute? Die Freud’sche Psychoanalyse gehört zu den meistdiskutierten Aspekten der mitteleuropäischen Kulturgeschichte der vergangenen rund 120 Jahre.
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Freud heute - Timo Storck
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Timo StorckFreud heute: Zur Relevanz der Psychoanalyseessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-24176-6_1
1. Einleitung
Timo Storck¹
(1)
Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologische Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland
Timo Storck
Email: t.storck@psychologische-hochschule.de
Als „Geburt" der Psychoanalyse wird oft Sigmund Freuds Die Traumdeutung im Jahr 1900 aufgefasst, allerdings erschienen bereits fünf Jahre zuvor die gemeinsam mit Josef Breuer verfassten Studien über Hysterie und Freuds Entwurf einer Psychologie wird ebenfalls auf 1895 datiert (auch wenn Freud zu Lebzeiten eine Publikation zurück hielt), in welcher sich zentrale Denkfiguren und Annahmen vorgezeichnet finden. Die Psychoanalyse feiert also bald ihren 125. Geburtstag. In kaum einer anderen Wissenschaft findet sich eine derartige Verzahnung mit ihrem Gründer. Das ließe sich nun psychoanalytisch-vatertheoretisch ausdeuten oder in einer eher pessimistischen Perspektive, dass nach Freud wohl kaum besonders Inspirierendes gefolgt sein könnte, oder auch dahin gehend, dass sich womöglich nur dann immer wieder so sehr an Freud geklammert würde, wenn die konzeptuellen Annahmen und die klinische Praxis sich nur auf vermeintliche personale Autorität beziehen können statt auf Argumentation oder Evidenz.
Das Anliegen, im Folgenden Freud heute darzustellen, folgt in Abgrenzung dazu allerdings einer besonderen Zielsetzung. Es geht um eine zeitgenössische und zeitgemäße Einführung in das Freudsche Denken, jedoch immer auch im Versuch, „mit Freud „über Freud hinaus
zu denken, die konzeptuellen Zusammenhänge zu prüfen und so zum Vorschlag einer Begriffsverwendung zu kommen, die schlüssig und klinisch anschlussfähig und relevant sowie fachlich möglichst wenig voraussetzungsvoll ist. Die Erörterung und Prüfung ist eine konzeptuelle und bereitet eine empirische Prüfung „nur" vor. Einige Bemerkungen zum Verständnis von (psychoanalytischen) wissenschaftlichen Konzepten sind daher unerlässlich.
Wissenschaftliche Konzepte haben den Anspruch, „verallgemeinernd eine „empirische
„Beobachtung auf den Begriff zu bringen. Die Anführungszeichen deuten an, dass jeweils anzugeben ist, was damit gemeint ist. „Beobachtung
ist in einem weiten Sinn zu verstehen, gerade für die Psychologie, und schließt somit auch Formen der „inneren Beobachtung ein, d. h. Prozesse, in denen uns etwas als etwas erscheint oder auf uns wirkt, beispielsweise eine Emotion. „Empirisch
bedeutet: auf die Erfahrung bezogen. Konzepte beziehen sich auf Phänomene der Erfahrung und sie bedeuten immer eine Abstraktion davon und eine Verallgemeinerung, die jedoch nicht zwingend auf der Ebene einer Vorhersage liegen müssen, sondern auch in der Begriffsbildung als solcher bestehen können. Konzepte sind keine „Dinge in der Welt, nicht sie sind es, die beobachtbar sind, sondern sie zielen darauf ab, Beobachtbares begreifbar zu machen. Weder „die Schwerkraft
noch „die Verdrängung" lassen sich, in welchem Sinn auch immer, beobachten; wir finden Wirkungen, die wir auf den Begriff (oder gar in eine Gesetzesaussage) bringen. Wissenschaftliche Konzepte werden dabei auf methodischem Weg gewonnen, das bedeutet, dass angebbar ist, wie sie gebildet werden, in der Auseinandersetzung mit welchen Phänomenen und welchen Widersprüchen. Konzepte stehen ferner nicht isoliert da, sondern in einem konzeptuellen Zusammenhang, und sie sind argumentativ begründet, ausreichend sparsam und empirisch angebunden.
Psychoanalytische Konzepte sind insofern besonders, als
ihre Bildung vom klinischen Einzelfall ausgeht,
in ihnen die Generalisierung auf der Ebene der Konzeptbildung und -veränderung selbst verbleibt und Aussagen über Vorhersagbarkeit (z. B. im Hinblick auf etwas, das für alle Fälle einer depressiven Symptombildung Gültigkeit hätte) nur in Form allgemeiner Aussagen über besondere Verläufe möglich sind und
die Psychoanalyse den Anspruch erhebt, ihre eigene Referenzwissenschaft zu sein, anders als etwa die kognitive Verhaltenstherapie, die sich konzeptuell auf die Kognitionspsychologie u. a. stützt. Das hat zur Folge, dass die Psychoanalyse in ihrer Konzeptbildung und -verwendung der Philosophie oder der Theoretischen Psychologie näher steht als den psychologischen Grundlagenfächern.
Damit soll zwar die Besonderheit der Psychoanalyse in konzeptueller (und methodischer Hinsicht) herausgestellt werden, jedoch keineswegs der Standpunkt eingenommen werden, die Andersartigkeit der Psychoanalyse würde es verunmöglichen und auch überflüssig sein lassen, einen im herkömmlichen Sinn wissenschaftlichen Anspruch zu verfolgen oder in einen Austausch mit anderen Disziplinen zu kommen. Der vorliegende Band soll vielmehr eine Vorarbeit dafür leisten, psychoanalytische Denklinien anschlussfähig(er) zu machen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Timo StorckFreud heute: Zur Relevanz der Psychoanalyseessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-24176-6_2
2. Das Triebkonzept und die Ursprünge des Psychischen
Timo Storck¹
(1)
Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologische Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland
Timo Storck
Email: t.storck@psychologische-hochschule.de
Das Triebkonzept nimmt in der Freudschen Psychoanalyse einen zentralen Stellenwert ein, allerdings muss dazu in Betracht gezogen werden, worum es Freud beim Trieb geht. Insgesamt erstreckt sich Freuds psychoanalytisches Werk von 1895 bis 1938 und in dieser Zeit erfahren die Konzepte teils erhebliche Wandlungen und Verschiebungen. Das zeigt sich ganz besonders in der Triebtheorie. Im Folgenden ist es lohnenswert, den „mittleren Freud heranzuziehen, den aus den sogenannten metapsychologischen Schriften der 1910er Jahre. Hier kennzeichnet Freud „Trieb
als einen „Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem oder als „psychische[n] Repräsentant[en] der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß an Arbeitsaufforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.
(Freud 1915c, S. 214). Das zeigt zunächst, dass gerade nicht um einen rein biologischen Zusammenhang geht (nicht um einen Instinkt) und auch nicht bloß um psychologisch beschreibbare Motive. Vielmehr ist in diesen Formulierungen ein „psychosomatischer Charakter des Triebkonzepts angelegt: Es handelt sich um einen Versuch, eine Antwort auf das Leib-Seele-Problem zu geben oder zumindest vorzubereiten. „Trieb
bezieht sich darauf,