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WENDIGO ROAD: Roman
WENDIGO ROAD: Roman
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eBook305 Seiten4 Stunden

WENDIGO ROAD: Roman

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Über dieses E-Book

 Der Weg nach Hause führt durch das Reich der Wendigos. 
Um zu seiner Frau und seinem Sohn zurückkehren zu können, bricht ein Krieger der Schwarzfuß-Indianer zu einer selbstmörderischen Reise durch ein postapokalyptisches Amerika auf – bevölkert von Monstern aus der Folklore der amerikanischen Ureinwohner.
Begleitet von einigen getreuen Soldaten schickt Doug Goodman seinen Protagonisten, Häuptling Oran, auf eine von Homer inspirierte Odysee, ersetzt die griechische Mythologie durch Fabelwesen der Indianer Nordamerikas und schafft auf diese Weise eine völlig eigenständige und faszinierend endzeitliche Welt voller Gefahren und Wunder.
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum31. Mai 2021
ISBN9783958355835
WENDIGO ROAD: Roman

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    Buchvorschau

    WENDIGO ROAD - Doug Goodman

    Kapitel 1

    Die Kabine des Flugzeugs füllte sich mit Rauch. Orans Körper versteifte sich in seinem improvisierten Sitz. Ein altes Metallica-Shirt, krude an ein Holzbrett getackert, diente als Polster. Metal Up Your Ass forderte es trotzig. Es war ein Statement, ein Manifest. Oran Old Chief hätte gelacht, wäre er nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich Sorgen um seinen langsamen Erstickungstod zu machen.

    Er konnte kaum das Ende der Kabine sehen, wo der Steward saß. Die Stimme des Stewards rauschte, als er ins Mikrofon bellte: »Ja, offensichtlich haben wir Rauch in der Kabine! Bewahrt Ruhe!«

    Oran blickte sich um. Ungefähr die Hälfte aller Sitze in der Bombardier-Maschine waren noch da, von denen wiederum die Hälfte von Soldaten besetzt war. Gestählte Krieger auf der Rückkehr von der kanadischen Kriegsfront. Asiaten, Weiße, ein paar Cheyenne, sogar ein oder zwei Kainai. Oran war der einzige Piikani. Diejenigen mit Gasmasken hatten ihre Ausrüstung bereits angelegt, was sie seltsam außerirdisch erscheinen ließ, mit Fliegenaugen und Kanistern statt Mündern. Ihre Uniformen waren genauso zusammengeschustert wie die ganze Armee, Oran eingeschlossen. Lederjacken, Jagdmesser, alles, was als Munition taugte und wahllose Camouflage. Seit die Wendigos aufgetaucht waren, fiel die Welt des weißen Mannes auseinander. Es gab keine Firmen für Rüstungen und keine Unternehmen für Waffen mehr, nur Menschen, die gegen die Wendigos kämpften und solche, die es nicht taten.

    Der Soldat in der Reihe vor Oran sagte: »Ich will nicht sterben.«

    »Beruhige dich«, sagte Oran. »Panik hilft hier niemandem, atme tief ein und aus.«

    »Ich hab keine Panik!«

    Oran hätte mit den Augen gerollt, wusste aber, dass das die Situation nur verschlimmern würde.

    »Bleib ruhig, hör auf den Steward.« Aber der Mann schnappte nach Luft.

    »Zieh deine Jacke aus, vielleicht hilft das.«

    »Okay«, sagte er. Er zog seinen Parka aus, atmete tief ein und hustete, während er den Kopf schüttelte. Dann stammelte er an Oran gewandt: »Ich weiß genau, was du denkst. Irgend so ’ne Pussy, die nicht mal ein bisschen Rauch verträgt. Was macht der in der Armee? Aber ich bin kein Feigling. Ich hab an der Front gekämpft. Bin nur nicht sonderlich von der Vorstellung begeistert zu sterben, bevor ich nach Hause komme.«

    Der Kapitän erschien auf dem Bildschirm. Seine Stimme klang blechern, die Verbindung war schlecht. »Wir haben ein Problem. Es gibt eine Dichtung im hinteren Teil des Flugzeugs, die die Abgase aus der Kabine fernhält. Diese Dichtung geht manchmal kaputt.«

    »Dann reparier’ sie, verdammt noch mal!«, brüllte einer der Cheyenne.

    Der Pilot, der nichts aus der Kabine hörte, fuhr fort: »Die gute Nachricht ist, dass die Abgase nicht giftig sind. Das ist kein normaler Rauch. Das passiert nicht zum ersten Mal, wir werden klarkommen. Die schlechte Nachricht ist, dass wir es nicht rechtzeitig nach Browning schaffen werden. Wir ändern die Route stattdessen nach Spokane. Tut mir leid. Ich weiß, ihr werdet anderswo erwartet. Legt eure Gurte an, bis wir in ein paar Minuten landen.«

    Der Schriftzug Fasten Seat Belts leuchtete auf, woraufhin die Glühbirne dahinter sofort durchbrannte und das Licht erstarb. Oran drückte den Schalter, was nichts änderte.

    »Spokane?«, schrie der Mann vorn empört. »Aber da ist Krieg! Wendigos plündern die Stadt seit letzter Woche, wir können dort nicht hin!«

    »Tja, entweder dort oder hier, wir haben keine Wahl«, sagte Oran und drückte seinen Daumen gegen die Scheibe, während er versuchte, ruhig zu bleiben. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das sagte, um den Mann oder sich selbst zu beruhigen. Die Kabine war nun über und über mit dichtem Rauch gefüllt.

    Oran öffnete die Fensterblende. Der modifizierte Bombardier-Jet befand sich noch immer oberhalb der Wolkenlinie und die Sonne lauerte bedrohlich über ihren Köpfen. Sie war strahlend gelb, ihre gewaltigen Lichtstrahlen schlugen wie Wellen über den Himmel. Durch den Rauch in der Kabine erschien die Sonne milchig weiß.

    Der Flügel des Flugzeugs glich einem schmutzigen, grauen Messer, das durch den blauen Himmel schnitt und die Sonne schon fast beleidigte.

    Oran sprach ein Stoßgebet und dachte an sein Zuhause, an seine Frau und seinen Sohn in Browning. Der Krieg mit den Wendigos erschien ihm viel zu lang. Er hatte in unzähligen Schlachten gekämpft und viele Siege errungen. Nun war es endlich Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Er übergab seinen Krieg an andere Leute, jetzt wollte er sich das Blut von den Händen waschen und ein Leben weit vom Krieg entfernt führen.

    Der Rauch kitzelte Orans Lunge. Er hustete ein wenig.

    Rauch stieg auch unter den Wolken zum Flugzeug auf. Die halbe Welt stand in Flammen. Ein leichter Brandgeruch erfüllte die Luft, selbst bei 9 Kilometern Höhe. Immerhin war es die Welt, die brannte, nicht das Flugzeug. Wenn etwas Feuer gefangen hatte, gab es irgendeinen Grund für den Piloten, ihnen die Wahrheit zu sagen? Oran bezweifelte das, was ihm Unbehagen bereitete.

    Die Soldaten an Bord waren von Narben gezeichnet, Melanomnarben über ihren Narben aus dem Krieg, und wo keine Narben waren, waren roboterhafte Prothesen.

    Jemand anderes hustete. Oran erschien die Kabine verschwommen, als wären seine Augen noch trübe vom langen Träumen, aus dem er soeben erwacht war.

    Viele der anderen Soldaten streckten ihre Köpfe fragend aus den Reihen. Sie alle waren lange im Krieg gewesen. Sie wussten, wann sie nach einer Antwort suchen konnten und wann sie sich besser wegduckten.

    »Ich hab sicher nicht drei Jahre lang im Krieg gekämpft, um jetzt in einem gottverdammten Flugzeug zu sterben«, schimpfte ein Mann in der Reihe gegenüber.

    »Ich glaube nicht, dass wir die Wahl haben«, sagte Oran. Er wickelte sich sein Bandana um den Mund.

    Der Rauch verdichtete sich. Mehrere Soldaten husteten.

    Oran kam zum Schluss, dass er in der Falle saß und dass er, anders als sonst in seinem Leben, absolut keine Kontrolle darüber hatte, was zwischen hier und Spokane geschah.

    Biologie, Physik und die Fähigkeiten des Piloten würden darüber entscheiden, ob er leben oder sterben würde. Dieser Kontrollverlust war schwer für ihn zu ertragen. Er hatte viele Truppen in den Kampf geführt, in Sieg und Niederlage. Er war derjenige, der entschied, wohin sie marschierten und wie sie siegten. Nun war er dazu gezwungen, stillzusitzen und andere über sein Schicksal entscheiden zu lassen.

    Der Rauch wurde noch dicker. Der Steward verschwand aus seinem Sichtfeld.

    Oran zweifelte langsam an der Erklärung des Kapitäns, denn der Rauch kam nicht nur aus dem hinteren Teil des Flugzeugs, sondern stieg jetzt auch zwischen den Sitzen empor.

    »Ich will nicht sterben«, wiederholte der Soldat vor ihm. Sein Gesicht ähnelte dem Orans, völlig verdreckt von vergangenen Kampfmissionen. Sie hatten keine Zeit, um anzuhalten und zu duschen. Als die Maschine landete, ließen sie alles liegen und stehen und rannten zum Transport. Oran schaffte es um Haares Breite, bevor sich das Flugzeug gen Süden erhob.

    »Bleib ruhig«, sagte Oran, »Keine Panik. Das hilft keinem von uns.«

    »Ich hasse Flugzeuge. Diese scheißengen Blechbüchsen. Ich brauche Platz, muss mich bewegen, brauch verdammt noch mal frische Luft.«

    »Hör auf zu reden, atme lieber. Wir schaffen das.«

    Dann gab es einen lauten Stoß, gefolgt von einer massiven Explosion in der Kabine, wie der Schuss eines großen Kalibers oder die Detonation einer kleinen Bombe. Im selben Moment fielen die Sauerstoffmasken herunter.

    »Jesus!«, schrie der Mann vor Oran.

    Oran schnappte sich die Maske und zog die gelbe Schale über seinen Mund. Er zog sein Bandana herunter und zerrte leicht am Schlauch. Der Sauerstoffbehälter füllte sich nicht. Der Mann vor ihm kämpfte mit dem gleichen Problem. Auf der anderen Seite des Flugzeuges waren die Beutel dick mit Sauerstoff gefüllt. Irgendwie schienen die Masken auf ihrer Seite defekt zu sein.

    »Sorry«, sagte der Kapitän über die Ansage. »Die Masken sind Standardprozedur. Das liegt außerhalb meiner Kontrolle. Ich versichere euch, dass ihr den gottverdammt besten Piloten in ganz Washington im Cockpit habt. Ich tue alles, um uns bald heil vom Himmel zu holen.«

    »Werden wir es überhaupt so weit ohne Sauerstoffmasken schaffen?«, fragte der Soldat vor ihm.

    »Bleib ruhig«, wiederholte Oran, aber er fühlte selbst eine leichte Panik in sich aufsteigen.

    »Hey«, wandte sich der Soldat zur nächsten Infanterie, »ihr habt den Sauerstoff. Gebt mir eine von euren Gasmasken.«

    Der Soldat mit der Gasmaske streckte ihm seinen Mittelfinger entgegen.

    Plötzlich schnallte sich der Mann vor Oran ab und stand auf.

    »Bitte hinsetzen«, rief der Steward aus dem Nebel. Oran konnte ihn noch immer nicht sehen.

    »Ich brauche Luft!« Die Stimme des in Panik geratenen Mannes war unheimlich schrill. Oran erkannte den Klang von überwältigender Angst, der Feind einer jeden guten Einheit.

    Der ängstliche Mann griff sich eine Sauerstoffmaske von der anderen Seite der Maschine und streifte sie sich übers Gesicht.

    Oran lief ihm nach, legte seine Hand auf die Schulter des Mannes und drückte ihn mit ruhiger Gewalt in seinen neuen Sitzplatz. »Steh nicht auf«, sagte Oran. Alle Soldaten im Flugzeug, vierzig in etwa, sahen ihn an, gespannt, was er als Nächstes tun würde. Oran zog sein Bandana wieder über die Nase und setzte sich zurück auf seinen Platz. Die Stimme des Kapitäns erklang aus den Lautsprechern: »Wir haben die Erlaubnis einer vorgezogenen Notlandung. In ein paar Minuten haben wir wieder Boden unter den Füßen.«

    Oran war erleichtert. Er konnte nicht weiter als vier Reihen vor oder hinter sich schauen. Viele der Soldaten auf seiner Seite der Maschine husteten wie er. Oran streckte seine Hand erneut nach der Fensterblende aus und spürte währenddessen den Druck des rapide absinkenden Flugzeuges. Er fasste nach dem Gurt, erinnerte sich dann aber daran, dass sein Sitz keinen hatte. Damals, in einer Welt mit Staat und Regierung, wäre so etwas unmöglich gewesen.

    Keinem Flugzeug wäre es je erlaubt gewesen, ohne Sicherheitsgurte zu fliegen, aber das war vor dem Krieg mit den Wendigos. Damals gab es Regeln und Behörden. In den ersten Jahren des Konflikts flogen Soldaten mit Militärflugzeugen, aber die Wendigos zerstörten sämtliche Vorräte und Maschinen. Jetzt verkam das Militär zu Plünderern, auf der Suche nach jedem fahr- und fliegbaren Untersatz, der ihnen im Krieg von Nutzen war. Manchmal hieß das eben, einem geschenkten Gaul nicht ins Maul zu schauen. In neuntausend Metern Höhe sah das Maul nur wirklich verdammt schlecht aus, dachte Oran.

    Er öffnete die Fensterverdunkelung, aber keine Sonne strömte herein. Sie sanken unter die Wolken, die ebenso dicht waren wie der Rauch in der Kabine.

    Es fühlte sich an, als würde er von einem Traum in einen Albtraum fallen, ohne Boden, nur im freien Fall, aus der Welt hinaus.

    Sein Kriegsspeer war über ihm verstaut, genauso wie die Büffelhaut, die seine Frau für ihn angefertigt hatte. Er schloss seine Augen und atmete tief ein und aus, unterdrückte sein Husten und dachte an seine Frau und sein Kind. Jodi war eine wunderschöne Frau und lachte gern mit ihm oder, falls nötig, über ihn. Sie war so clever wie er. Sein Sohn, Daniel, ging ständig auf Entdeckungstouren und geriet dabei oft in Schwierigkeiten. Oran fürchtete ein wenig um seinen Sohn, als er wegging, denn Daniel war die Art von Kind, die man häufig in der Notaufnahme sah – sei es, weil er vom Trampolin fiel oder vom Hausdach, nachdem sie das Trampolin entfernt hatten. Seine Frau und sein Sohn waren sein ganzes Glück.

    »Ich will nicht sterben«, jammerte der verängstigte Mann erneut. Er zog sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht, hyperventilierte. Oran streckte seinen Arm aus, um die Maske zurück auf sein Gesicht zu setzen, aber der Soldat schlug seine Hand weg. Sein Oberkörper wiegte bei jedem Atemzug vor und zurück, während seine Lungen um Luft rangen, die nicht mehr vorhanden war. Oran nutzte die Gelegenheit, um sich in den Sitzplatz vor dem Soldaten zu quetschen, und zog die Maske über seinen Mund. Er sog gierig den reinen Sauerstoff ein und fühlte sich sofort besser.

    Der verängstigte Mann stand auf: »Wir werden sterben!«

    »Hinsetzen!«, blaffte der Steward irgendwo von vorne. Auch er verlor langsam die Nerven. Wie er den Soldaten in den Reihen sehen konnte, war Oran unbegreiflich.

    »Setz’ deinen Arsch gefälligst hin!«, befahl ein anderer Soldat – aber Panik hörte nicht zu.

    »Ich muss hier raus!«

    Verzweifelt streckte er sich und öffnete sein Gepäckfach. Das Flugzeug kippte und sein Inhalt segelte durch die Kabine, darunter auch Orans Speer.

    Der in Panik geratene Mann schaute die Waffe fragend an, dann griff er danach, doch Oran erreichte sie zuerst. Als der andere Soldat versuchte, sie zu schnappen, versetzte Oran ihm einen Kinnhaken und er taumelte zurück. Der Mann beobachtete Oran für eine Weile verwirrt. Er lehnte sich zurück in seinen Sitz, sein Atem nun tiefer und ruhiger.

    Ein lautes Ächzen verriet Oran, dass die Flügel auf die Landung vorbereitet wurden. Sein Körper spürte, wie der Sinkflug langsam endete und die Maschine mehr und mehr parallel zum Untergrund flog. Er war erleichtert, bald wieder zurück auf dem Boden zu sein.

    Als das Flugzeug mit der Landung fortfuhr, rief der Steward: »Bereitet euch auf die Notlandung vor! Verlasst die Maschine durch die Türen und Notausgänge nacheinander in einer geordneten Reihe, sobald sie sich nicht mehr bewegt. Wenn ihr wieder auf dem Boden seid, rennt zum Terminal, dort sind Barrikaden. Die Soldaten werden euch evakuieren.«

    »Ach du Scheiße! Schau mal hier!«, schrie einer der Soldaten aus den hinteren Reihen. »Gehts noch schlimmer?«, murrte ein anderer. Oran hatte bereits einen Verdacht. Er lehnte sich zur Seite und schaute aus dem gegenüberliegenden Fenster. Sonnenstrahlen bohrten sich vereinzelt durch die Wolken. Zwischen den Strahlen bewegte sich ein gewaltiges Ungeheuer. Die Soldaten schnappten nach Luft.

    Wendigos.

    Die Soldaten, die gegen sie kämpften, nannten sie oft Wendys. Vor einer halben Ewigkeit erschienen Monster wie die Wendys überall auf der Welt. Sie kamen aus den Bergen, aus den Mooren und manchmal sogar aus dem Ozean – riesig, mächtig und komplett immun gegen moderne Waffen, was die Armeen der Welt nicht davon abhielt, sie zu bekämpfen. Aber wie gewinnt man einen Krieg gegen etwas, das einen einfach nur fressen will? Bösartig, intelligent und gefräßig, war mit ihnen nicht zu verhandeln und nichts konnte sie stoppen. Länder versanken im Chaos. Staaten brachen auseinander. Die Menschen flohen wie die Ratten und versuchten, sich unter der Erde in U-Bahn-Tunneln und in Kellern zu verstecken, oder sie flohen in die Prärie, wohin die Wendys ihnen nicht folgten.

    Dieser Wendy war gut zwanzig Meter groß und überragte den Flughafen und seine Umgebung um Längen. Verglichen mit ihm erschien sogar der Flughafenturm wie ein Zwerg. Die Kreatur war kräftig gebaut, mit gigantischen Klauen und Hufen. Blut und Eingeweide tropften vom Gebiss seines Schädels. Dunkelrote Fleischgirlanden hingen in seinem Geweih wie dicker Schleim. Der Wendigo fegte die Soldaten, die den Flughafen verteidigten, mit einem einzigen Schlag fort. Acht Menschen flogen über die Landebahn, wo sie ihre Operation geplant hatten. Die anderen fuhren damit fort, auf den Wendigo zu schießen, was keinerlei Wirkung zeigte. Die Kugeln prallten einfach von seinen freigelegten Rippenknochen ab.

    Der Wendigo rannte auf das landende Flugzeug zu und brüllte in gottlosem Zorn.

    Oran wusste nicht, ob das Flugzeug landen konnte. Nur ein winziger Schubs genügte, um sie alle ins Verderben zu reißen.

    »Wir werden es nicht schaffen«, sagte einer der Soldaten, während ein anderer fluchte.

    Statt einer Antwort ballte Oran die Faust fester um seinen Speer. Falls sie es schafften zu landen, konnte er das Ruder wenden. Er betete zur Sonne für seine sichere Rückkehr. »Natosi, beschütze mich. Ich werde alles tun, um zu Jodi und Daniel zu gelangen. Ich schwöre, ich werde zu ihnen zurückkehren, bring nur meine Stiefel zurück auf den Boden.«

    In genau diesem Moment schien der Wendigo Oran zu bemerken und sah ihm hasserfüllt in die Augen. Das Monster bewegte sich schneller und holte mit doppelter Geschwindigkeit auf. Als das Flugzeug kurz davor war, auf dem Boden aufzusetzen, streckte der Wendigo seine ausgebreiteten Finger nach der Bombardier. Seine Krallen berührten den Flügel kaum, aber das war bereits ausreichend. Der hintere Teil der Maschine drehte ab. Das erste Rad berührte den Boden, dann prallte das zweite auf den Asphalt. Tosender Wind erhob sich um sie herum, zusammen mit dem lauten Geräusch von Gummi auf Teer. Die Soldaten schrien, aber ihre Schreie gingen in der gewaltigen Kakofonie um sie herum unter. Das Flugzeug schwenkte erst in die eine, dann in die andere Richtung, als es gefährlich von der Landebahn abglitt und wieder zurückdriftete, über das Gras hinweg.

    Die Maschine erzitterte, dann begann der hintere Teil, sich zu heben. Sie bremste ab, überschlug sich aber dabei. Der eine Flügel hob sich, während der andere in der Erde versank und eine klaffende Wunde im Boden hinterließ. Alle Soldaten, die nicht angeschnallt waren, krachten mit voller Wucht in das Gepäckfach über ihren Köpfen. In letzter Sekunde gewann die Schwerkraft die Kontrolle zurück und das Flugzeug schlug hart auf dem Boden auf, wobei die Streben des Fahrwerks brachen.

    Der Jet blieb zitternd stehen. Oran war auf dem Boden. Ein Schnitt auf seiner Wange zeugte von seiner Begegnung mit dem Gepäckfach, aber er befand sich endlich sicher auf festem Boden. Er riss sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht. Während die Soldaten zusammen mit dem dicken Rauch aus den Ausgängen quollen, sah Oran nach dem, der vorher in Panik geraten war. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer anderen Reihe. Die Kräfte des Flugzeugs hatten ihn wie eine Puppe herumgeschleudert. Oran fühlte sich für das Schicksal des Mannes verantwortlich. Er drehte den Soldaten um. Das Blut lief in Strömen aus seiner Nase und Oran ging davon aus, dass sie ihm vom Gepäckfach gebrochen wurde. Sein Wangenknochen war ebenfalls zertrümmert. Nichts, was die Ärzte nicht wieder hinkriegen würden, solange der Mann noch am Leben war. Oran legte die Hand an seine Nase und spürte einen leichten Luftzug. Er atmete, also legte Oran ihn über seine Schulter und trug ihn aus dem Flugzeug. Er rief zwei Soldaten vom Flughafen um Hilfe.

    »Der Mann ist verletzt«, sagte Oran.

    Die beiden Soldaten griffen ihm unter die Armen und Oran begann zu husten. Sie trugen den verängstigten Soldaten weg. Oran ging zurück in den Rumpf und half weiteren Soldaten heraus. Keiner von ihnen war verletzt, aber sie alle husteten wie Oran. Er hatte vorher nicht bemerkt, wie sehr seine Lungen vom Rauch in der Kabine brannten. Die meisten der aus dem Flugzeug strömenden Soldaten rannten auf die Terminals zu, die von einer Barrikade aus spitzen Gegenständen verteidigt wurden. Ein M1-Abrams-Panzer raste über die Landebahn hinweg auf sie zu. Nein, nicht zu uns, bemerkte Oran. Hinter dem Flugzeug rannte der Wendigo in Richtung des Flughafens. Seine schweren Schritte ließen den Boden erbeben.

    Oran runzelte frustriert die Stirn, als er dabei zusah, wie der Panzer in die Schlacht preschte. Wendys verloren selten einen Kampf auf offener Ebene.

    Ein frontaler Angriff war reiner Selbstmord. Die Soldaten, die den Panzer steuerten, waren entweder noch unerfahren oder dumm.

    Die Ketten des Panzers wühlten den weichen Boden auf, als er das Gras erreichte, dann hielt er plötzlich auf der anderen Seite des Flugzeuges an. Der Wendigo kam näher. Beim Feuern wirbelte der Panzer Dreck und Geröll auf, verursachte aber kaum Schaden. Der Wendigo sprang direkt wieder auf die Beine und rammte den Panzer von der Seite. Der M1-Abrams wog sicher an die 60 Tonnen, was jedoch keine Herausforderung für einen Wendigo darstellte. Er schob seine Klauen unter das Gefährt und hob an. Der Panzer wirbelte ruckartig in einer Sechzig-Grad-Drehung durch die Luft. Schnaubend drehte der Wendigo den Panzer ganz auf den Rücken. Oran zog eine Grimasse. Es gab eine einfachere Lösung. Er rannte vor den Bombardier-Jet. Er schlich das Fahrwerk entlang und versuchte, nah am Boden zu bleiben. Der Wendigo hatte Probleme damit, kleine Bewegungen wahrzunehmen. Oran hörte, wie die Hufe des Wendigos auf die andere Seite des Flugzeugs stampften, wo er nur Momente vorher selbst gestanden hatte. Die Schritte wurden langsamer und gezielter. Die Kreatur suchte nach Überlebenden. Ihr Hunger war unersättlich. Ein lautes Ächzen sagte ihm, dass der Wendigo nun das Fahrwerk auseinandernahm. Er sprang auf den Flugzeugflügel und bereitete sich auf den Kampf vor. Das Flugzeug kippte in Richtung Himmel und fiel zurück auf den Boden. Die armen Soldaten, die noch immer im Flugzeug waren, schrien auf.

    Versteckt im aufsteigenden Rauch zog sich Oran das Bandana wieder über Nase und Mund und kroch auf das Flugzeug. Durch den Rauch beobachtete er das Gelage des Wendigos. Er hielt einen Mann in voller Winterausrüstung in beiden Händen und riss seinen Körper in zwei Teile. Dann hielt der Wendigo den geöffneten Torso des Soldaten über seinen Mund und saugte die Gedärme heraus, um im Anschluss das Blut von den Rippen zu lecken. Oran blickte finster drein. An der Kriegsfront sah er das gleiche Spektakel immer und immer wieder, die Wendigos siegten fast immer. Er hoffte darauf, dieses abstoßende Bild zusammen mit dem Krieg für immer hinter sich zu lassen. Nie wieder, dachte er. Nicht hier. Oran rannte das Fahrwerk entlang und sprang den zusammengekauerten Wendigo an, während er »Ki-yi!« schrie. Er schwang seinen Speer.

    Der befiederte Kriegsspeer versank zwischen den freiliegenden Rippen des Monstrums und durchbohrte sein Herz. Die Kreatur brüllte auf. Sein Schrei klang wie eine Kreuzung aus einem sterbenden Elch und einem kreischenden Vampir. Das Monster erhob sich und spuckte die Gedärme des Soldaten aus, die es vorher so gierig verschlungen hatte, dann stürzte es tot in die Überreste des zerstörten Flugzeuges.

    Kapitel 2

    Oran griff zwischen die Rippen des Wendigos und zog seinen Speer

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