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Kleine Sonne: Thriller
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eBook979 Seiten13 Stunden

Kleine Sonne: Thriller

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Über dieses E-Book

Ein seltsamer Steinbrocken weckt im Juni 1944 das Interesse der alliierten Geheimdienste. Schnell wird klar, dass dieser Brocken die Deutschen in die Lage versetzten könnte, eine Atombombe zu bauen. Aber arbeiten Hitlers Wissenschaftler überhaupt an solch einer Waffe? Sehen sie die Möglichkeiten?
Cyrus Franko, ein ehemaliger OSS-Agent, der in Frankreich gegen die Deutschen gekämpft hat, soll herausfinden was die Nazis planen. Für Franko gibt nur einen Namen. Ein Physiker, der von den Alliierten als glaubwürdig eingeschätzt wird. Seine Familie wohnt in Köln. Mit ihm soll Franko Kontakt aufnehmen. Aber das ist auch schon alles. Mehr Informationen gibt es nicht.
Nach einer besonderen Ausbildung in England wird Franko über dem Reichsgebiet abgesetzt. Doch trotz guter Vorbereitung sind ihm schnell Polizei Sicherheitsdienst, Gestapo und SS auf den Fersen. Der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger Kriminalkommissar Otto Skorni wird kleiner. Und noch etwas macht den Einsatz für Franko zu einem Selbstmordkommando. Franko merkt bald, dass seine Auftraggeber beim Manhatten-Projekt ein doppeltes Spiel mit ihm treiben. Bald gerät der Einsatz vollkommen außer Kontrolle und Franko muss improvisieren. Nicht immer mit Erfolg.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Jan. 2015
ISBN9783738013184
Kleine Sonne: Thriller

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    Buchvorschau

    Kleine Sonne - Wolfgang Gröne

    Kapitel 1

    Tiefhängende Wolken, vollgesogen mit Regen, trieben in Richtung Osten über die englische Kanalküste. Böen fegten mit zerstörerischer Geschwindigkeit über das Land, bogen zornig Bäume bis auf den Grund, wirbelten durch verlassene Straßen und Gassen. Ringsum zuckten Blitze und stürmischer Wind trieb dichte schwarze Wolken wie eine Herde Vieh brüllend ins Meer.

    Ein kleines Flugzeug kämpfte sich in niedriger Höhe durch die aufgewühlten Luftmassen. Es wurde auf und nieder geworfen und tanzte wie eine kleines Boot in schwerer See gegen die Wolkenfront an. Trotz der schlechten Sicht, der Böen und der heftigen Turbulenzen hielt es erstaunlich gut westlichen Kurs und eine stabile Höhe. Im ersten Licht des Morgengrauens, das hin und wieder durch die zerrissenen Wolken schien, erreichte es die britische Küste.

    Sofort wurde es, trotz des schlechten Wetters, von den sich kreuzenden Strahlen der Suchscheinwerfer der Küstenverteidigung erfasst. Das Flugzeug war bereits erwartet worden. Wie die tastenden Finger eines Blinden hatten es Radarstrahlen weit vor der Küste in der Dunkelheit erfühlt und dessen Nahen an den Küstenschutz weitergegeben. Nun standen die Frauen des freiwilligen Hilfskorps in den Flakbatterien und suchten den Himmel nach dem Eindringling ab.

    Zu Anfang des Krieges hätte ein einzelnes Flugzeug bei diesen Sichtverhältnissen vielleicht der Luftabwehr entgehen können. Aber jetzt nicht mehr. Im Juni 1944 arbeitete der britische Küstenschutz mit Annäherungszündern und Radarunterstützung. Die ersten Granaten explodierten daher ganz in der Nähe, tasteten sich heran und hinterließen kleine schwarze Farbkleckse vor dem wilden Gewölk des zerrissenen Himmels. Das Flugzeug versuchte an Höhe zu gewinnen, zu entkommen und in der schützenden Schwärze niedrig hängender Wolken zu verschwinden. Doch die Granaten folgten, ohne vom Ziel abzulassen. Eine Detonation hinter dem Flugzeug riss kreischend ein Stück des Leitwerks ab. Splitter trafen den Motor und schon begann er zu stottern und verstummte schließlich ganz. Schwarzen Rauch hinter sich herziehend, segelte es, schnell an Höhe verlierend, weiter in Richtung Westen. Schwarzer Rauch bedeutete brennendes Öl und eine tödliche Verletzung des Motors. Die Frauen an den Flugabwehrkanonen sahen es, schlugen sich in die Hände und kehrten in ihren Unterstand zurück, in dem gerade heißer Tee serviert wurde.

    *

    In Houghton St. Giles, einer kleinen Ortschaft mit einigen an der Straße gelegenen Häusern, begann es zu regnen. Peter St. Giles, der Farmer des Gehöftes, nach dem der kleine Ort benannt war, konnte nicht schlafen. Er stand auf und beschloss, die Schweine heute früher zu füttern. Als er über den dunklen, von Regenschlieren umtobten Hof rannte, hörte er plötzlich Rauschen über sich, das nichts mit den üblichen Windgeräuschen eines Sturms gemein hatte. Er blickte auf und erkannte einen dunklen länglichen Schatten, der einem wedelnden Schwanz gleich etwas hinter sich herzog. Das Ding flog recht niedrig über die Stallungen hinweg. Peter musste unwillkürlich an die Drachen in den Phantasien seiner Kindheit denken, vor denen er nicht unerhebliche Angst gehabt hatte. Während ihm der Regen ins Gesicht prasselte, beobachtete er erstaunt, wie der Wind diesen seltsamen Schatten gerade noch mit einem Hopser über das Dach des Schweinestalls hob. Dann war es verschwunden.

    Peter wischte sich den Regen aus dem Gesicht und rannte los. Auf halbem Wege schlug er sich schmerzhaft auf die Stirn und wirbelte auf dem Absatz seiner Gummistiefel herum. Vielleicht ein deutsches Flugzeug, dachte er. Ihm fiel die Devise der Home-Guard ein: Erst die Polizei benachrichtigen, dann einschreiten! Ein deutscher Pilot mit Waffe konnte einem übel mitspielen und Peter St. Giles wollte den Krieg überleben. So kurz vor seinem Ende allemal.

    Entschlossen lief er ins Wohnhaus zurück, weckte seine Frau, rief anschließend bei der Polizei in Houghton an, was dauerte, und förderte zu guter Letzt einen alten Enfield-Karabiner und einen Stahlhelm aus dem Kleiderschrank hervor. Peters Frau war zwar aufgeregt, aber als sie ihren Mann gekleidet in Schlafanzug, Regenmantel, Gummistiefeln, dazu bewaffnet mit Karabiner, Taschenlampe und Stahlhelm im Flur stehen sah, musste sie unwillkürlich kichern. Peter, der immerhin seit Kriegsbeginn Mitglied der Home-Guard war und noch nie einen Einsatz erlebt hatte, von einigen Übungen mal abgesehen, verbat sich jegliches Lachen. Für ihn war es jetzt soweit. Endlich konnte er seinen Dienst für das Empire ableisten. Auch wenn er mehr Angst als Vaterlandsliebe in seiner Magengegend verspürte. Trotzdem war er entschlossen, seine Pflicht zu erfüllen. Zusammen mit seiner Frau marschierte er in Richtung Acker.

    Schwarze Wolken hingen nun genau über ihnen, der Acker lag im Dunkel. Der Regen war zum Wolkenbruch geworden. Peter sah kaum ein paar Meter weit und taumelte halb blind über den matschigen Acker und wischte sich immer wieder Regentropfen aus seinen Augen. An seinen Gummistiefeln hingen dicke Dreckklumpen und erschwerten seine Schritte. Er griff in seinen Regenmantel, fluchte kurz, weil seine Frau sich ängstlich daran fest klammerte und zog eine Taschenlampe hervor. Schüttelnd versuchte er sie in Gang zu setzen. Dabei blickte er nervös vor sich in die Dunkelheit, während ein entferntes Wetterleuchten für Sekundenbruchteile das Feld vor ihm erhellte. Erschrocken blieb er stehen.

    Er erkannte eine lange Furche, die wie ein Hinweisschild auf ein Objekt deutete, das nicht weit entfernt wie ein achtlos weggeworfener Reitstiefel auf dem Acker lag und sofort wieder in der Dunkelheit verschwand. Fast kam es Peter so vor, als hätte jemand nur kurz das Licht in einem dunklen Raum an und wieder ausgemacht.

    Die Taschenlampe funktionierte endlich und Peter kämpfte sich ängstlich aber dennoch entschlossen weiter durch den Matsch. Im Lichtkegel der Taschenlampe fiel dichter Regen, silbrig glitzernden Perlenschnüre gleich zu Boden.

    Tatsächlich! Ein Flugzeug. Es lag halb eingesunken im nassen Erdreich, hatte blaue Flügelspitzen und eine rot lackierte Schnauze, die über und über mit Dreck bespritzt war. Dazu zog sich ein breiter, roter Balken den Rumpf entlang. Hinter den abgeknickten Propellerblättern stieg wirbelnd schwarzer Rauch empor. Ein Flügel lag abgerissen neben dem Rumpf. Kein Feuer. Was nicht verwunderte, bei diesem Regen.

    Peter übergab seiner zitternden Frau die Taschenlampe und legte den Karabiner auf das Flugzeug an. Schwer atmend trat er neben die Kanzel. Er versuchte durch die mit Öl bespritzte Cockpit-Haube ins Innere zu schauen, was aber völlig unmöglich war. Stattdessen horchte er. Aber außer dem Heulen des Sturmes, dem Prasseln des Regens, dem entfernten Rauschen der Bäume im Wind und dem undeutlichen Tick, Tick des sich abkühlenden Motors war nichts zu vernehmen. Niemand versuchte das Flugzeug zu verlassen.

    Kurzentschlossen winkte Peter seine Frau zu sich und drückte ihr den Karabiner in die Hand.

    „Du schießt sofort, wenn ich es dir sage! OK?"

    „Worauf soll ich denn schießen, Pete?"

    „Na ... auf den ... auf alles was nicht ich bin, antwortete Peter genervt. „Jetzt leuchte erst einmal da auf die Kanzel! Dann nestelte er an seiner Manteltasche herum und zog einen rostigen Schraubenzieher hervor, mit dem er sich am Schloss der Kanzel zu schaffen machte.

    Plötzlich erlosch das Licht der Taschenlampe und Peter hörte seine Frau ängstlich seinen Namen rufen. Er nahm ihr die Lampe aus der Hand, schüttelte und rüttelte sie zunehmend nervöser werdend, aber nichts geschah. Bis auf das periodische Leuchten entfernter Blitze blieb es dunkel.

    Verdammtes Ding, dachte Peter ärgerlich, gab es schließlich auf und platschte durch die Dunkelheit zum Cockpit zurück. Dort erfühlte er das Schloss und fuhr mit seiner Arbeit fort.

    Nach einigen Sekunden rohem Herumhantierens hatte er es geschafft. Mit einem Ruck riss er die Haube auf. Sie flog zurück und Peter sah im Widerschein des Wetterleuchtens eine zusammengesunkene, schlaffe Gestalt in den Gurten hängen. Den Kopf unnatürlich verdreht. Er fasste der Gestalt mit dem letzten Mut, den er aufbringen konnte, an den Schultern und zog sie langsam zurück in eine normale Sitzpostion. Wieder erhellte ein Blitz die Szene und Peter erkannte erschrocken das Gesicht einer jungen Frau, der dicke dunkelrote Haare unter einer Fliegermütze hervorquollen. Über der Stirn war eine Platzwunde, aus der aber kaum Blut ausgetreten war. Sie musste sofort tot gewesen sein, Genickbruch vielleicht, dachte Peter. Die junge Frau war bleich und schön.

    Peter seufzte, drehte sich kopfschüttelnd um und schloss die Cockpithaube. Mit traurigem Gesicht erklärte er seiner Frau, dass sie das Gewehr sinken lassen könne. Dann nahm er sie in den Arm ging mit ihr durch den Sturm zurück ins Haus.

    Die Militärpolizei kam spät. Der Regen hatte nachgelassen und es graute bereits, als zwei zivile Autos, ein Jeep mit Soldaten und ein Lastwagen auf den Hof von Peter einkurvten. Zwei Männer in langen Regenmänteln und schwarzen Hüten sprangen aus den Autos und gingen auf Peter zu. Der eine klein und bullig, der andere noch recht jung, schlank, fast dürr, mit einer Nickelbrille auf der kurzen Nase.

    „Mr. St. Giles?", fragte der Bullige, dessen übernächtigtes, verknittertes Gesicht erstaunlich gut zu seinem ebenfalls zerknitterten grauen Regenmantel passte.

    „Ja. Sir?", antwortete Peter still und fühlte sich irgendwie ertappt. Der Mann wirkte einschüchternd.

    „Hallo. Mein Name ist Fulton! Eine Hand streckte sich Peter entgegen. Er ergriff sie und entspannte sich etwas. „Wo finden wir das Wrack? Fulton warf seinen langen Regenmantel zurück und vergrub seine Hände tief in den Taschen seiner Hose.

    „Dort auf dem Feld, Sir." Peter deutete in Richtung Schweinestall.

    „Gut, gehen wir." Damit drehte Fulton sich um und ging forschen Schrittes davon. Eine Abordnung von etwa zehn Männern trottete einträchtig wie eine Kükenschar hinter ihm her.

    Mit Flüchen und Verwünschungen erreichten die Männer das Wrack. Fulton erteilte Befehle und sofort begannen sie die Absturzstelle zu untersuchen. Peter und seine Frau standen etwas abseits und hörten den Erklärungen Fultons zu:

    „Sieht nach einer Fieseler 97 aus. Kein Kampfflugzeug. Keine Maschinengewehre, keine Maschinenkanonen, keine Abwurfhalterungen für Bomben oder Zusatztanks. Mal schauen, ob sie bei uns was fotografieren sollte."

    Fulton ließ sich ohne Rücksicht auf seine Hose in den Dreck sinken und griff dann mit leichtem Ekel in den Matsch unter dem Flugzeugrumpf. Dort tastete er ein paar Sekunden herum. „So was! Noch nicht mal eine Kameravorrichtung. Also auch kein Aufklärer."

    Mit schmatzenden und weit ausholenden Schritten umrundete er das mit Dreck und Öl bespritzte Flugzeug und blieb in Höhe der Kanzel stehen. „Die Kennzeichnung ist eine internationale Vorkriegskennzeichnung, erklärte er. „Das ist kein Flugzeug der Luftwaffe! Das ist ein Privatflugzeug. So wie es aussieht, aus Holland. Er trat auf den nicht abgerissenen Flügel des Wracks und mit einem kräftigen Ruck öffnete er das Cockpit. Einen Moment sah er schweigend hinein.

    „Ellman!, brüllte er dann, „holen Sie zwei Männer und tragen sie die Tote auf den Hof.

    „Die Tote? Sir?", fragte der Angesprochene überrascht und hielt sich eine Hand hinter sein rechtes Ohr, als höre er schlecht.

    „Ja, die Tote, erwiderte Fulton kühl. „Spreche ich Suaheli?

    „Nein, Sir.", erwiderte Ellman und war in den nächsten Minuten mit zwei Soldaten damit beschäftigt, das Mädchen mit den roten Haaren aus dem Flugzeugwrack herauszuholen. Sie saß eingekeilt hinter dem Steuerknüppel und ließ sich aufgrund der bereits eingetretenen Leichenstarre kaum noch bewegen. Fulton trat zu Peter. Er sah aus wie ein Arzt, der gerade eine blutige Operation beendet hatte. Die Hände waren dreckverkrustet.

    „Mr. St. Giles! War die Kanzel fest verschlossen, als sie sie kurz nach dem Absturz öffneten? Ich frage, weil dieses Flugzeug Platz für drei Passagiere hat. Aber da ist nur die Pilotin."

    „Sicher, Sir! Aber sie war verschlossen, ich musste sie aufbrechen. Mit dem hier!" Peter griff in die Tasche und hielt triumphierend seinen verrosteten Schraubenzieher in die Höhe. Fulton betrachtete Peter etwas abschätzig, grunzte kurz und wandte sich wieder dem Flugzeug zu. Arroganter Arsch, dachte Peter.

    Ellmann und seine Männer hatten es schließlich geschafft, die Leiche aus dem Cockpit zu hieven. Fulton stieg wieder auf den Flügel und schaute interessiert in den Innenraum. Peter trat ebenfalls an die geöffnete Kanzel heran. Immerhin lag das Flugzeug auf seinem Grund und Boden. „Und?, fragte er den weit vornüber gebeugten Fulton, „Sehen sie was?

    „Nein. Nichts. Keine Tasche, keine Ausrüstungsgegenstände, keine Papiere... nichts. Moment ..., Fulton beugte sich noch tiefer ins Cockpit, so dass Peter fürchtete, er würde jeden Moment das Gleichgewicht verlieren und hineinfallen. „... was ist denn das? Es klackte kurz, dann tauchte Fultons Kopf wieder aus dem Innern des Flugzeug auf. Als er sich umdrehte, hielt er eine kleine Box aus grauem Metall in der Hand. Zuerst drehte er sie neugierig herum, begutachtete sie von allen Seiten, öffnete sie und entnahm ihr einen gelblich, grauen Stein in der Größe einer Kinderfaust. Er wog ihn in der Hand und an seinem Gesichtsausdruck konnte Peter erkennen, dass damit etwas nicht stimmte. „Ziemlich schwer!", raunte er, mehr an sich selbst als an die Umstehenden gerichtet. Peter jedenfalls war enttäuscht. Nur ein Stein.

    „Was kann das sein?", fragte er dennoch laut, als die Umstehenden hinzutraten und versuchten, ebenfalls einen Blick auf den Inhalt der Schachtel zu werfen.

    „Keine Ahnung, Mr. St. Giles. Das wird man in London klären. Allerdings scheint es mir nichts besonders Wichtiges zu sein. Vielleicht ein Erinnerungsstück!" Fulton packte den Stein in die Schachtel und verstaute diese in seiner Manteltasche.

    Er ging noch mehrere Male aufmerksam um das Wrack herum und erteilte dann Befehl, es abzutransportieren. Die Untersuchung war abgeschlossen.

    Nach einer Stunde war das Wrack auf den mitgebrachten LKW verladen und die ganze Aufregung vorbei. Nur die Furche im Feld erinnerte an den Absturz. Peter St. Giles dachte an die schöne rothaarige Frau, als er endlich in den trockenen Schweinestall schlurfte. Verdammter Regen. Welche Verschwendung, dachte er. Verdammter Krieg.

    *

    Fulton und Ellmann erreichten gegen Mittag die Filiale des MI5 in Norwich. Unterwegs hatten sie das Wrack zu einem Stützpunkt der Royal Airforce ganz in der Nähe gebracht. Die Leiche des Mädchens wurde in einen Sanitätswagen umgebettet, der ihnen folgte, als sie auf den Hof ihrer Dienststelle einbogen.

    Fulton ließ den Gerichtsmediziner die Leiche begutachten. Dieser stellte Genickbruch als Todesursache fest. Anschließend entkleidete man sie und Ellman schoss ein paar Fotos, die eine spätere Identifizierung möglich machen sollten. Wenn diese denn gefordert wurde. Wenn überhaupt jemals irgendjemand nach der Frau fragen würde. Zum Schluss der Autopsie zog ihr Fulton einen kleinen silbernen Ring vom Finger.

    Etwas selbstherrlich, wie Ellman fand, erklärte Fulton das Mädchen schließlich zu einem Flüchtling. Vielleicht aus Holland oder Belgien. Das Flugzeug hatte sie, wer weiß wie, an sich gebracht. Wahrscheinlich eine Gelegenheitsflucht. Mehr nicht. Ellmann fragte Fulton nach der Schachtel, die sich nach eingehender Begutachtung als Bleibox herausgestellt hatte, und dem faustgroßen, gelblichen Brocken darin. Zufall, meinte Fulton. Vielleicht war ein ehemaliger Besitzer des Flugzeugs Mineraliensammler oder so etwas gewesen. Der kleine Kasten aus Blei samt Inhalt lag wahrscheinlich zufällig im Cockpit. Wer weiß, wer ihn da verstaut hatte? Oder vielleicht war es ein Erinnerungsstück an Oma, Mama, Papa oder wen auch immer. Auf jeden Fall nichts Besonderes, meinte Fulton und schloss den Bericht für London ab.

    Am nächsten Tag wurde das Mädchen aus dem Flugzeug dem örtlichen Bestatter übergeben. Der Blechkasten wanderte zusammen mit dem Stein, dem Ring und der viel zu großen Fliegerkombination des Mädchens in die Asservatenkammer des Gerichtsgebäudes von Norwich.

    Fulton ließ Ellmann seinen Bericht sauber abtippen, in dem die Schachtel unerwähnt blieb, so unwichtig schien sie zu sein.

    Am Ende der Woche schickten sie dann die wöchentlichen Berichte in einem versiegelten Koffer nach London zur Hauptzentrale im Thames House. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Das Mädchen wurde nahe dem kleinen Friedhof in Norwich beigesetzt. Der Priester weigerte sich zuerst, denn es könnte sich ja um eine Jüdin oder Katholikin handeln. Aber Fulton erfand irgendeinen Hinweis, der dem Priester die Beerdigung gestattete. Auf dem schmucklosen Holzkreuz stand nur das Sterbedatum:

    Unbekanntes Mädchen. 1. Juni 1944.

    Das war alles.

    Kapitel 2

    Im Dunst des frühen Morgens setzte eine schwarz gestrichene dreimotorige Ju 52 wie ein schwarzer Schatten mit weit ausgebreiteten Schwingen zur Landung auf dem kleinen Insel-Flugplatz an. Nach dem Sturm der vergangenen Nacht fegten noch immer böige Scherwinde über die Piste und ließen die Maschine während des Anfluges beträchtlich schaukeln.

    Die Lackierung des Flugzeugs war seltsam. Das matte Schwarz betraf das ganze Flugzeug: Die Verkleidung der Motoren, das Fahrwerk, selbst die Scheiben schienen nicht zu reflektieren. Auf dem Leitwerk trug es ein leuchtend weißes Hakenkreuz mit einem mittig drüber platzierten Totenkopf. Gut sichtbar in all dem dominierenden Schwarz. Auf den Tragflächen fehlte das übliche Balkenkreuz und die Kennzeichen der Wehrmacht, stattdessen trug es nur eine SS-Rune auf dem rechten Flügel.

    Mit einem kurzen Quietschen setzte das Flugzeug auf der Betonpiste auf. Am Ende der Landebahn wendete es und rollte auf das kleine Steingebäude der Flugplatz-Kommandantur zu. Dort bremste es abrupt ab und das donnernde Geräusch der Motoren erstarb. Eine Tür an der hinteren Rumpfseite wurde mit einem Ruck aufgestoßen, und über eine herunter geklappte Treppe traten zwei Männer in langen schwarzen Ledermänteln und grauen Filzhüten auf das Flugfeld. Gefolgt von fünf Soldaten in schwarzen SS-Uniformen, bewaffnet mit Maschinenpistolen.

    Das Schwarz der Maschine, die schwarzen Mäntel und Uniformen der Männer; das alles hatte den Beigeschmack einer dunklen Vorahnung und Inselkommandant Leuschwitz, der, im Windschatten der Kommandantur stehend, die Ankunft verfolgt hatte, fühlte sich unwohl. Er war über die Ankunft des Flugzeugs informiert worden. Ein Sonderflug, direkt aus der Reichshauptstadt. Ein Grund für den Besuch der Gestapo aber war ihm nicht mitgeteilt worden. Beklommen betrachtete er die bedrohliche Ansammlung schwarzer Uniformen, die ihm gegenüber in einem Halbkreis Aufstellung nahmen. Zwei Männer in Zivil standen in der Mitte.

    Der Inselkommandant schluckte kurz und hart, riss die Hand zum Hitlergruß in die Luft und schmetterte: „Heil Hitler! Leuschwitz! Ich meine, Major Leuschwitz, der Inselkommandant. Ich begrüße sie auf Borkum, Herr ...". Leuschwitz blickte die beiden Männer in Zivil fragend an und wartete darauf, das die Angesprochenen ihre Namen ergänzten.

    „Kriminalkommissar Skorni, und das ist Kriminalassistent Radke, antwortete blechern der Ältere, der ihm aufgrund seiner schmächtigen Statur vorkam wie ein Ringrichter inmitten einer Horde Schwergewichtsboxer. Kommissar Skorni zog mit einer beiläufigen Geste eine ovale Marke aus der Tasche seines steifen Ledermantels und hielt sie Leuschwitz unter die Nase. Der schielte auf die eingravierte Schrift und musterte anschließend wieder nervös die beiden Männer. Betont entspannt versuchte er sich in Konversation. „Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, meine Herren. Ich habe ein gutes friesisches Frühstück für Sie vorbereitet.

    Der Kommissar blickte ihn fragend an. Er hatte schwarze, seltsam glatte Haare, die eine hohe Stirn frei ließen und durch reichlich Brisk wie Schellack glänzten. Dazu kamen weit auseinander stehende, leicht hervor quellende Augen mit darüberliegenden V-förmigen dünnen Brauen, die auf eine spitze, leicht gebogene Nase deuteten. Augen und Brauen gaben dem Gesicht ein merkwürdig maskenhaftes Aussehen, das durch die schwarz glänzenden Haare noch unterstrichen wurde. Ein voller Mund bildete den fast beiläufigen Abschluss im blassen, länglichen Oval des Gesichts. Blechern, dachte Leuschwitz. Irgendwie metallisch, der Mann. Insgesamt wirkte dieser Kommissar wie ein Automantenwesen aus Metropolis. Unwillkürlich suchte Leuschwitz an seinem Gegenüber ein Stromkabel.

    Sein Begleiter dagegen war ein grobschlächtiger Klotz. Gut einen Kopf größer als sein Vorgesetzter besaß er ein breites, kantiges Gesicht mit einem Unterkiefer wie eine Baggerschaufel. Mehr gab es über ihn nicht zu sagen. Machte Skornis Blick einen intelligenten, wenn auch durchtriebenen Eindruck, so war der Blick seines Assistenten nichtssagend und leer, grob, gewöhnlich. Man sah ihm an, dass er das Denken seinem Vorgesetzten überließ.

    Skorni schien an einem friesischen Frühstück nicht besonders interessiert. Ungeduldig winkte er ab. „Herr Leutnant, leider haben wir keine Zeit für Nettigkeiten. Sie wurden von unserem Kommen unterrichtet. Ich würde gern meinen Befehlen nachkommen. Und das unverzüglich!"

    „Natürlich. Ich dachte nur ..." Leuschwitz fühlte sich überfahren und dieser Skorni unterbrach ihn einfach so.

    „Befindet sich die Nachrichtenhelferin Frauke Hiller in ihrer Flugabwehr-Abteilung?"

    Leuschwitz' Gesicht wurde fahl. Er schien plötzlich geistesabwesend.

    „Major Leuschwitz? ... Der Kommissar war einen Schritt näher getreten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. „ ... alles in Ordnung mit Ihnen?

    „Ähm ja, Herr Kommissar. Die Hiller ist ... sie ist hier als ... als Funkerin beschäftigt. Vor einem Monat ist sie uns zugeteilt worden. Intelligentes Mädchen ..."

    Skorni verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein, schob seinen Kopf hinunter, um in das zu Boden schauende Gesicht von Leuschwitz zu sehen.

    „Ja? ... Und weiter?"

    „Zufälligerweise ... ähm ... ist sie gestern nicht von ihrem Urlaub zurückgekommen. Sie sollte gestern ihren Dienst antreten. Aber ... sie ... sie ist einfach nicht gekommen."

    „Warum haben sie das gestern nicht gesagt, als wir anriefen und sie baten, uns über besondere Vorkommnisse zu informieren?", fragte Skorni betont langsam, als wöge er jedes Wort genau ab. Leuschwitz seufzte hörbar.

    „Ähm, ich dachte, das ist nicht so wichtig, außerdem dachte ich, dass die Hiller heute morgen vielleicht noch auftauchen würde. Ein nettes Mädel. Vielleicht hat sie nur die Fähre verpasst." Durch sein Gestotter fühlte sich Leuschwitz wie ein dummer Fähnrich aber nicht wie ein deutscher Major, und das störte ihn gewaltig.

    „Dachte, dachte! Fähre verpasst, vielleicht, nettes Mädel, häh!" Skorni stellte sich gerade hin und legte seine Hände hinter dem Rücken zusammen. Über Leuschwitz' Schulter hinweg schaute er in die aufgehende Morgensonne, die sich blassgelb durch den morgendlichen Dunst den Horizont hinaufquälte. Erst jetzt erkannte Major Leuschwitz eine lange dünne Narbe an Skorni, die unterhalb des Ohrläppchens begann und von dort über Wange und Mundwinkel bis zum Kinn hinabreichte.

    Der Gestapo-Mann trat einen Schritt näher an den Major heran, dem augenblicklich heiß und kalt wurde. Skorni roch nach Pomande und Kölnisch-Wasser. Übellaunig zischte er: „Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Major! Ich möchte in einer Stunde alle vernehmen, die etwas mit Ihrem netten Mädel zu tun gehabt haben. Heute Abend werde ich diese Scheißinsel wieder verlassen. Wenn ich bis dahin nicht herausgefunden habe, wohin das nette Mädel verschwunden ist, werde ich Sie wegen Sabotage festnehmen und anschließend auf der Flucht erschießen lassen! Wenn ich Leute erschießen lasse, will hinterher niemand wissen, warum. Da hab' ich Narrenfreiheit. Also! Nützliche Informationen oder ihr kleines Scheißleben. Bis heute Abend. Ist das in Ordnung? Sind wir im Geschäft?"

    Die letzten Worte hatte er laut für alle Anwesenden gesprochen und dabei den Kommandanten vergnügt angeschaut.

    Leuschwitz fühlte mit einem Male ein eigenartiges Gefühl der Taubheit in seinen Beinen und taumelte kurz.

    „Hoppla! Herr Leutnant. Noch nicht gefrühstückt? Dann sollten sie das mal. Sonst fallen Sie uns noch um!"

    Leuschwitz riss sich zusammen. Mit einem diesmal brüchig gehaspelten Heil Hitler drehte er sich um, stakste zu einem Auto, hielt die Wagentür auf und ließ die beiden Gestapo-Beamten einsteigen. Der Rest folgte in einem Lastwagen.

    Den ganzen Nachmittag bis in den späten Abend hinein verhörten Skorni und Radke Luftwaffenhelfer, Soldaten, Nachrichtenhelferinnen und Hilfswillige. Einzeln. Das meiste von dem, was sie in Erfahrung brachten, war ihnen bereits bekannt und die Stunden vergingen ergebnislos. Skorni blickte hin und wieder zu Leuschwitz herüber, der bleich wie ein Eimer Löschkalk an der Wand seines Büros lehnte und nervös mit irgendetwas in seiner Hosentasche spielte. In den Verhörpausen trat Skorni nach draußen vor die Dienstbaracke und zündete sich eine Zigarette an.

    Er dachte an das Mädchen. Dass er zu spät gekommen war, machte ihn wütend. Dass er auf dieser Insel saß, machte ihn wütend. Dabei war er sich sicher gewesen, sie heute festnehmen zu können. Diese Hiller war doch nur ein junges Ding, hatte keine Ahnung! Trotzdem war sie weg. Er hatte ein Kind entwischen lassen, und das machte ihn richtig wütend. Er schaute sich kurz um, überzeugte sich, dass er allein vor dem Haus stand und schmiss seine Zigarette mit einem lauten Scheiße in den Dreck. Skorni ließ sich nicht gerne bei Gefühlsregungen beobachten, außer sie dienten zur Einschüchterung. Einzig das sporadische Vorschieben seines Unterkiefers zeigte die Anspannung, unter der er stand. Er musste Kaltenbrunner wenigstens erklären, wo das Mädchen geblieben war. Sonst brauchten sie sich erst gar nicht in Berlin blicken lassen.

    Der ganze Auftrag war dubios. Eigentlich war er mit Radke auf Heimaturlaub. Sie hatten drei Monate in Prag Jagd auf Juden gemacht und waren dabei wie immer recht erfolgreich gewesen. Den Urlaub hatten sie sich jedenfalls verdient. Dann hatte die Gestapoleitstelle Berlin angerufen und ihnen diesen Auftrag zugeteilt.

    Also waren sie in die Albrechtstraße in Berlin gefahren, wo man ihnen erklärt hatte, dass sie lediglich ein junges Mädchen aus Köln suchen und anschließend nach Berlin zur Vernehmung bringen müssten. Die Sache sei aber etwas heikel, da die Gesuchte die Tochter eines bewährten Parteimitglieds sei, und daher könne man es nicht irgendwelchen Beamten vor Ort überlassen, sondern nur Top-Leuten.

    Obwohl sich Skorni durch diese Anrede geschmeichelt gefühlt hatte, war er doch etwas beleidigt nach Köln aufgebrochen. Zumal diese Sache seiner nicht würdig war. Fast war er angenehm überrascht, dass er sie dort nicht vorfand. Sie war verschwunden. Wenigstens schien dies nicht eine einfache Verhaftung zu sein. Denn jetzt war er schon den zweiten Tag hinter ihr her. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Das nagte an seinem Ego.

    „Herr Obersturmführer! ... Radke, der Skorni immer mit seinem SS-Rang ansprach, war hinter ihn getreten, „... da ist so eine fette Trulla, die sich öfters mit der Hiller unterhalten hat. Gute Freundin und so ...

    „Ich komme!" Skorni folgte seinem Assistenten durch einen langen Gang in den Verhörraum. Im Büro saß eine dralle Dunkelhaarige. Hineingezwängt in die blaue Uniform der Blitzmädchen, kleine, fette rosa Hände im Schoß gefaltet.

    „Sie kennen Fräulein Hiller?", fragte Skorni scharf.

    „Ja, is 'ne Freundin von mir", antwortete die Dunkelhaarige und vermied es anscheinend, sie als gute Freundin zu bezeichnen.

    „Schön. Können Sie uns vielleicht sagen, wo sie sich aufhält?"

    „Nein, nicht direkt. Aber sie hat einen Freund drüben auf dem Festland. In Jever, bei den Nachtjägern. Sind schon lange zusammen."

    „Ja, und weiter", bohrte Skorni.

    „Na ja, sie war immer bei ihm, wenn sie keinen Dienst hatte. Hat sich dann wohl mit ihm getroffen. In der Stadt oder so."

    „Wie heißt er?", fragte Skorni

    „Keine Ahnung, aber er sieht gut aus." Das Mädchen schaute ein wenig treudoof drein und grinste verschämt.

    „Sonst noch was?", fragte Skorni gereizt und überlegte sich, ob er ihr eine Ohrfeige verabreichen sollte, damit sie mit dem Grinsen aufhörte.

    „Nein, Herr Kommissar. Mehr weiß ich nicht. Aber die Frauke ist ein nettes ..."

    „Ich weiß! Sie können gehen."

    Skorni schaute der jungen Frau nach, schwieg, bis sie den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Grübelnd blickte er zum Fenster hinaus. Die Sonne stand tief, es dämmerte bereits. „Radke!"

    „Ja, Herr Obersturmführer?"

    „Nehmen Sie bitte dem Major seine Pistole ab."

    „Jawoll!"

    Der Major trat einen erschreckten Schritt zurück. „Das können Sie doch nicht machen!, brachte er stotternd hervor. „Wer sind Sie, dass Sie sich hier einfach als Herr über Leben und Tod auf ...

    Plötzlich verstummte er. Mit einem einzigen gezielten Hieb auf die Brust brachte ihn Skornis Assistent zum Schweigen. Nach Luft japsend, mit hochrotem Kopf stand er vornüber gebeugt vor Radke, der ihm ohne Hast die Pistole aus dem Halfter nahm.

    „Sie sind festgenommen! Wegen Beihilfe zur ... zur ... sagen wir Wehrkraftzersetzung, Begünstigung von Feindaktivitäten usw. usw.", verkündete Skorni in sachlichem Ton und fühlte eine innere Erregung aufsteigen. Leuschwitz war das Opfer, das er jetzt brauchte. Er trat auf den Gang und brüllte nach dem SS-Begleitkommando. Gerade wollte er ihnen befehlen, den Major festzunehmen und ihn auf der Flucht in den Dünen der Insel zu erschießen, als das Telefon klingelte.

    „Radke, gehen Sie mal ran! ..."

    Das Klingeln endete und Skorni hörte auf die Stimme seines Assistenten.

    „... nein, natürlich können Sie das auch mir sagen. Was? Auf dem Flughafen? ... Gestern Abend. ... Warum hören wir erst jetzt davon? ... Gut. Ja. Wiederhören."

    „Das war der Platzwart vom Flugplatz, erklärte Radke. „Hat gehört, dass hier eine Vernehmung durch die Gestapo im Gange ist. Da ist ihm eingefallen, dass hier gestern Abend eine Privatmaschine gelandet ist. Geflogen hat sie ein Leutnant Grewe, der eine Sondererlaubnis für den Flug hatte.

    „Ach was! Eine Privatmaschine mit Sondererlaubnis! Was ist das hier für ein Scheiß-Kommando auf ihrer Scheiß-Insel?", rief Skorni und funkelte dabei den nach Luft schnappenden Leuschwitz böse an. Radke sprach tonlos weiter.

    „Ja. Er hatte wohl technische Probleme. Eine Stunde später ist sie dann wieder gestartet. Nach Jever. Zu den Nachtjägern."

    „Ach was!", stieß Skorni hervor.

    „Das hat den Platzwart gewundert, weil ein Sturmtief angekündigt war. Aber weil's nur ein kurzer Flugweg ist, hat's ihn nicht weiter gestört."

    Skorni setzte sich verkehrt herum auf einen Stuhl und verschränkte die Arme auf der Lehne. Er richtete seinen Blick auf eine Landkarte von Norddeutschland. Am linken Rand war noch die Ostküste Englands zu erkennen. Skorni ergriff das Telefon und ließ sich mit dem Fliegerhorst in Jever verbinden.

    „Ja, Skorni hier, Geheime Staatspolizei. Ist bei Ihnen ein Leutnant Grewe stationiert, und ist er auch auf dem Fliegerhorst anzutreffen? Ja, ich warte ..."

    Während er das Telefon an sein rechtes Ohr gepresst hielt, trommelte er mit den Fingern der linken Hand einen Dreivierteltakt, zu dem er leise O, du schöne blaue Donau summte. Der bleiche Major stand schwer atmend neben der Tür und hielt noch immer seine Hand gegen die Brust gepresst.

    Skorni horchte auf. Am anderen Ende der Leitung raschelte es. „Ja. Ausgezeichnet. Sorgen Sie dafür, dass der Leutnant bleibt wo er ist. Lassen Sie ihn nicht weg... Gestapo, ja. ... Sonderkommando... Wir kommen in gut zwei Stunden ... Wenn Sie damit Probleme haben, rufen sie beim RSHA in Berlin an. Die Nummer kann ich Ihnen geben ... Na sicher ... Sehen Sie, geht doch!"

    Triumphierend knallte Skorni den Hörer auf die Gabel, schnappte nach Mantel und Hut und rief: „Kommen Sie Radke. Wir fliegen nach Jever!. Dann fiel sein Blick auf den Inselkommandanten. „... Na, da haben wir aber noch mal Glück gehabt, was, Herr Major? Müssen wohl doch nicht mit meinen Männern in die Dünen. Das nächste Mal machen Sie über alle Geschehnisse hier eine ordentliche Meldung, nicht wahr? Sie sehen ja, das kann einem schnell Kopf und Kragen kosten. Jetzt gehen Sie erst mal was essen. Sie sind ja ganz blass. Einer Ihrer Männer kann uns ja zum Flugfeld bringen. Und bringen Sie Ihren Saustall hier mal auf Vordermann. Privatflüge! Kaum zu glauben.

    Damit verließen er und Radke den Raum.

    Leuschwitz drückte seinen Rücken an die Wand, bis ihm endgültig seine Beine den Dienst versagten. Langsam rutschte er auf den Boden, steckte seinen Kopf zwischen die Beine und begann leise zu schluchzen. Sein Brustkorb schmerzte höllisch.

    Als Skorni mit seinen Männern auf dem Flugplatz der Nachtjäger in Jever landeten, war es bereits dunkel. Der Platzkommandant, ein steifer blonder Geck mit blauer Fliegeruniform, der trotz seines fortgeschrittenen Alters den Anschein von Jugendlichkeit erwecken wollte, begrüßte sie ebenso nervös wie es zuvor der Inselkommandant von Borkum getan hatte. Wenn die Gestapo auftauchte, noch dazu mit einem Dienstflugzeug der SS, war definitiv mit Ärger zu rechnen. Aber der Kommandant hatte nicht die Absicht, sich von der Gestapo oder SS irgendetwas vorschreiben zu lassen. Nachdem er die beiden Beamten und die SS-Soldaten zu einem mit Tarnanstrich bemalten Verwaltungsgebäude begleitet und ihnen dort einen Raum, der normalerweise für Dienstbesprechungen genutzt wurde, zugewiesen hatte, schickte er nach Leutnant Grewe. Er selbst stellte sich mit verschränkten Armen in eine Ecke des Raums. Als man den jungen Mann in den Raum führte, begrüßte er ihn väterlich und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „N'abend Karl, mein Junge. Was haben wir denn angestellt, dass wir Besuch von der Gestapo bekommen?"

    Auf den ersten Blick erkannte Skorni, dass es sich bei dem jungen Mann um keinen besonders guten Schauspieler handelte. Ängstlich huschte dessen Blick über die Gesichter der beiden Polizisten, dann hinüber zu den Männern in ihren schwarzen Uniformen, die sich bedrohlich an der Wand aufgereiht hatten. Skorni und Radke musterten ihn feindselig. Skorni wusste sofort, dass er mit Grewe ins Schwarze getroffen hatte.

    „Ich weiß es nicht, Herr Major!", beantwortete der junge Mann die Frage des Kommandanten.

    „Leutnant! Skornis Stimme schnitt durch den Raum, als er sich schnell von seinem Stuhl erhob. „Es war ein langer, ziemlich unnützer Tag drüben auf Borkum. Wir wollen fertig werden. Können Sie sich denken, was wir dort gemacht haben? Auf Borkum?

    „Nein!"

    Skorni trat auf den jungen Fliegerleutnant zu. Körperliche Nähe erzeugte bei vielen Menschen Unwohlsein. „Nein?, fragte er spöttisch, kaum ein paar Zentimeter von Grewes Gesicht entfernt. „Herr Leutnant? Kennen sie ein Fräulein Hiller? Sie ist Funkerin drüben auf Borkum. Ne' hübsche Rothaarige. Blitzmädchen. Dienstverpflichtet, nicht wahr, Radke? Skorni drehte sich grinsend zu seinem Assistenten um. Der hatte sich ebenfalls erhoben und stand breitbeinig mitten im Raum. Sein großer Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen.

    „Ja! Ein kleiner, rothaariger Blitzfick!"

    Der Major ließ empört seine verschränkten Arme sinken und schaute böse zu Radke herüber. „Mein Herren, bitte nicht solch' einen Ton. Den verbitte ich mir auf meinem Flugplatz."

    Skorni spürte Wut in sich aufsteigen. In seinem Hals würgte es. Er schluckte kurz, dann brüllte er los, so dass sich seine Stimme dabei überschlug. „Und ich verbitte mir jegliche Einmischung von Seiten der Luftwaffe, Herr Major. Die steht beim Führer sowieso nicht mehr hoch im Kurs. Dies ist ein Sonderkommando der Gestapo, vom Chef des Reichssicherheitshauptamtes direkt angeordnet. Ich rede mit dem Leutnant, wie ich es will! Wenn Sie nicht augenblicklich still sind, werde ich Sie in Berlin an höchster Stelle melden. Denen ist Ihr Dienstgrad und Ihre Auszeichnungen so egal, wie'n Pickel an 'nem Russenarsch. Also Schnauze! Wenn Sie das nicht können, dann verschwinden Sie."

    Skorni hatte bei seiner Tirade nicht den Horstkommandanten angesehen, sondern den Leutnant, der leicht zitterte. Skorni sah so was, er witterte Angst. Dafür hatte er feine Antennen. In normalem Ton, in dem dennoch leichte Befriedigung mitschwang, wiederholte er seine Frage. „Also, Herr Leutnant. Fräulein Hiller. Sie waren doch gestern mit einer Privatmaschine kurz auf Borkum. Der Platzwart kann es bestätigen. Mal davon abgesehen, das Privatflüge verboten sind und ich Sie allein deshalb verhaften lassen kann, denke ich, dass ich das Flugzeug hier auf dem Horst nicht finden werde. Also? Wo ist die Maschine? Und wo ist Fräulein Hiller?"

    Skroni sah, wie Grewes Gesicht sich fahl färbte.

    „Ich habe mich mit einem Freund getroffen. Zusammen haben wir das Flugzeug seines Vaters aus Holland in Sicherheit bringen wollen. Wo doch jetzt die Alliierten gelandet sind ..."

    „Lüge!", peitschte Skornis Stimme durch den Raum.

    „Nein wirklich ... ich habe ..."

    „Lüge! Sie sind auf die Insel geflogen und haben das Flugzeug Frauke Hiller überlassen, nicht wahr? Dann sind Sie mit der Fähre nach Jever zurück. Ist es nicht so? Hä? Sonst können Sie mir ja den Namen Ihres angeblichen Freundes sagen. Ich rufe ihn an. Gleich jetzt. Dann sind Sie aus dem Schneider und wir verschwinden!"

    „Nein ich ... ich ..."

    „Nein ich ... ich ...", äffte ihn Skorni nach.

    Mit gespielter Empörung mischte sich der Horstkommandant ein. „Ja, Herr Leutnant? Stimmt das? Sie waren gestern auf Borkum. Privat? Mit welchem Flugzeug?"

    Skorni schielte über seine Schulter auf den Horstkommandanten. Sieh an, sieh an, dachte er, die Ratte verlässt das sinkende Schiff.

    Der junge Leutnant schloss die Augen. Jetzt begreift er, dass er keine Chance mehr hat, dachte Skorni. Er liebte es, wenn Verdächtige zusammenbrachen. Mit dem Zeigefinger tippte er Grewe fest auf die Schulter und keifte: „Die Hiller ist damit verschwunden, nicht wahr, Leutnant? Sie haben sich das Flugzeug hier fertig gemacht und sind nach Borkum geflogen. Dann hat die Kleine das Ding übernommen und ist damit nach England geflüchtet. Nicht wahr? Nicken Sie, wenn Sie nicht sprechen können."

    Grewe nickte. Der Horstkommandant war plötzlich außer sich. Hatte wohl Schiss, da mit reingezogen zu werden.

    „Herr Leutnant, verdammt noch mal! Was soll das alles? Das ist Hochverrat! Welches Flugzeug?" Seine väterliche Attitüde war verschwunden.

    „Einer der Kuriermaschinen", hauchte Grewe.

    „Was? Das ist ja unglaublich. Da kann ich jetzt nichts mehr für Sie tun!"

    Skorni schnalzte mit der Zunge. „Packen Sie ihre Sachen, Grewe. Sie sind festgenommen. Den Rest können Sie in Berlin erzählen. Sie wissen, was die Hiller in England will. Sie werden noch einiges ausplaudern, nicht wahr? Radke wird Ihnen beim Packen helfen."

    Grewe wendete sich zum Gehen. Als er auf der Türschwelle stand, hörte er Skorni beiläufig sagen: „Ich hoffe, sie war es wert."

    Zitternd wandte sich Grewe um. In seinen Augen standen Tränen. Mit belegter Stimme, aber dennoch fest, antwortete er: „Mehr als Sie es sich in Ihrer kleinen braunen Welt vorstellen können, Sie Dreckschwein! Das Gesicht leicht anhebend, brüllte er ein spöttisches „Heil Hitler!, machte zackig kehrt und verließ mit Radke den Raum.

    Skornis Augenbrauen hoben sich. Sein Unterkiefer schob sich nach vorn.

    Radke und der Leutnant stampften allein über den stockdunklen Flugplatz, überquerten eine Straße und betraten die Unterkünfte der Piloten, in denen nachts nur blaues Licht brannte. Das blaue Licht war eine Idee Hitlers, der aus unerfindlichen Gründen daran glaubte, es sei in der Nacht weniger sichtbar als rotes.

    Einige junge Männer schauten müde auf, als Grewe den Schlafsaal betrat und zum Spint ging. Radke blieb in der Tür stehen und griff nach seiner Dienstwaffe, die unter seiner Anzugjacke verborgen in einem Halfter steckte.

    Ein kleiner blonder Kerl stellte sich neben Grewe und sprach ihn an. „Was ist den los, Mille? Haste Spielschulden?"

    Ein kräftiger Bursche mit einem von Akne verunstalteten Gesicht, der an einem Tisch saß und seine Stiefel mit einer Bürste bearbeitete, lachte höhnisch. Grewe ging nicht auf die Frage ein.

    „Halt die Schnauze, Kolke!", drohte eine Stimme aus dem Halbdunkel des hinteren Schlafraumes. Ein Mann, der in einer alten Polstergarnitur gesessen hatte, trat rauchend in die Mitte des Raums. In seiner Hand hielt er ein Feuerzeug, mit dem er herumspielte. Er war älter als seine Kameraden. Aber nicht viel. Er trug die Fliegerkombination der Nachtjäger. Seine dunkelbraunen Haare hatte er streng zurück gekämmt. Sie glänzten, als er direkt unter der Stubenlampe stehenblieb.

    „Was soll das, Mille?, fragte er Grewe ohne den Blick von Radke zu nehmen, der lässig im Türrahmen lehnte. „Wer ist der Kerl?

    „Gestapo", sagte Grewe kurz. Bei der Nennung des Wortes Gestapo blickten die Anwesenden zuerst hinüber zu Radke, dann zu Grewe, der eine Tasche aus seinem Spint hervorholte und einige Sachen hineinwarf. Der Mann in der Fliegerkombination ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wieso?", fragte er Grewe.

    „Das geht Sie einen feuchten Kehricht an, rief Radke durch den Raum. Grewe störte sich nicht daran. Als er fertig gepackt hatte, wandte er sich dem Mann in der Fliegerkombination zu. „Sag meiner Familie, dass ich sie liebe, ja?

    „Schnauze, Leutnant", schrie Radke nochmals und zog dabei seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter.

    „Mach keinen Scheiß, Karl", antwortete der Angesprochene.

    Grewe schüttelte unmerklich den Kopf, nahm die Tasche und verließ den Raum. Laut fiel sie ins Schloss.

    Grewe schritt voran durch den Flur und noch bevor er den Ausgang der Baracke erreichte, drehte er sich unvermittelt um und sprang auf Radke zu. Verdutzt schaute der auf das wutverzerrte Gesicht des jungen Mannes, hob ohne viel nachzudenken seine Waffe und drückte ab. Der Schuss hallte ohrenbetäubend im Flur wieder. Grewe griff sich an den Bauch, seine Augen wurden groß, aber er versuchte weiter Radke zu erreichen. Der schoss noch einmal. Diesmal in den Kopf.

    Grewe war tot.

    Kapitel 3

    Gegen Mitternacht waren Skorni und Radke zurück in Berlin. Von Tempelhof aus fuhren sie auf direktem Weg zum RSHA in der Prinz-Albrecht-Straße. Sofern das überhaupt möglich war, denn ganze Stadtviertel, mitsamt ihrer Straßen waren verschwunden oder unpassierbar. Seit einem Jahr lag Berlin nun schon im Zielbereich alliierter Bomberverbände und starb einen langsamen und qualvollen Tod. Sprengbomben, Luftminen, Phosphorbomben und Splitterbomben rissen die einstige Weltstadt entzwei und verwandelten sie allmählich in eine unablässig brennende und qualmende Müllhalde.

    Schweigend lotste der Fahrer die schwarze Limousine durch die verdunkelte Stadt. Vorbei an ausgebrannten Häuserskeletten, die sich drohend zu beiden Seiten der Straße aneinanderreihten. Vorbei an Kratern, ausgebrannten Straßenbahnwagen, hastig gerettetem Hausrat, der auf Schutthügeln eingestürzter Häuser lagerte und darauf wartete, von irgendeinem Besitzer, der vielleicht längst tot war, abgeholt zu werden. Auf halbem Weg begann das Heulen der Sirenen, die Fliegeralarm gaben. Kurz darauf erhellten erste Scheinwerfer, weißen feingliedrigen Fingern aus Licht gleich, den Himmel und suchten nach den dunklen Konturen anfliegender Bomber.

    Skorni trieb den Fahrer zur Eile an. Er war enttäuscht und müde. Sie hatten zwar schnell reagiert, aber trotz des Einsatzes aller Mittel war ihnen das Mädchen entwischt. Als Skorni geglaubt hatte, dass sie die Scharte vielleicht durch die Festnahme Grewes wieder hätten auswetzen können, war dieser in selbstmörderischer Absicht auf Radke losgegangen. Der hatte Grewe dummerweise erschossen. In Notwehr, wie er während des Rückflugs ungewohnt wortreich beteuert hatte. Aber es war wohl eher Dämlichkeit gewesen. Skorni hatte seine Wut hinuntergeschluckt und die Sache auf sich beruhen lassen. Radke war ein dummer Mensch und nur bedingt einsetzbar. Er hatte allerdings Qualitäten, deren sich Skorni gerne bediente, wenn er mit Worten nicht mehr weiterkam.

    Noch bevor das Trommelfeuer der Flak begann, erreichten sie das RSHA und fuhren nach einer Kontrolle in die unter dem Gebäude liegende Tiefgarage. Dort kamen ihnen Bedienstete, Männer und Frauen, teils in Uniform, teils in Zivil entgegen, die den Luftschutzkeller aufsuchten. Alles lief äußerst gelassen ab. Hin und wieder hörte man Lachen. Skorni und Radke schlossen sich den Schutzsuchenden an und blieben während des Bombenangriffs im Bunker des Amtes und legten sich schlafen. Jetzt würden sie sowieso keine Audienz bei Kaltenbrunner bekommen. Wenn der überhaupt da war.

    Skorni fiel müde auf ein Feldbett und ließ den vergangenen Tag kurz Revue passieren. Erfolgreich war er nicht gewesen. Ein Kratzer am Nimbus des erfolgreichen Jägers. Zwar hatte es immer wieder Juden gegeben, die sich der Verhaftung gerade noch entzogen hatten, aber das waren die wenigsten. Die Zahl der Verhaftungen überwog bei Weitem. Was ihm aber Kopfschmerzen bereitete war, dass man sich an so hoher Stelle mit dieser Geschichte befasste. Immerhin machte er morgen dem Chef des RSHA persönlich Meldung. Das war nur eine Stufe unter dem Reichsführer SS, Himmler, und zwei unter dem Führer des deutschen Reiches, Hitler. Skorni fühlte sich unwohl. Fehler bei der Jagd auf Reichsfeinde zu machen war nicht seine Art. Er seufzte sorgenvoll und drehte sich immer wieder von einer Seite auf die andere. Nach Stunden deprimierenden Grübelns forderte die Erschöpfung ihren Tribut und er schlief ein.

    Gegen acht Uhr morgens warteten Skorni und Radke schließlich vor dem Büro Kaltenbrunners. Radke hatte sich rasiert und sah frisch und erholt aus. Skorni hingegen war der kurze Schlaf und die Übermüdung anzusehen. Gott sei Dank hatte er den Bartwuchs eines Fünfzehnjährigen. Der zarte Flaum war kaum auszumachen.

    Überrascht stellte Skorni fest, dass man sie nicht lange warten ließ. Beim Chef des RSHA saß man schnell einige Stunden im Vorzimmer. Das war Teil des Rituals. Es unterstrich die Wichtigkeit der höheren Chargen. Ein Sekretär öffnete die schwere Eichentür zum Amtszimmer und forderte sie mit einem salbungsvollen „Bitte, meine Herren" auf, einzutreten.

    Über einen weichen karminroten Perser, der ihre Schritte gänzlich verschluckte, traten sie ein. Kaltenbrunner saß hinter einem wuchtigen dunklen Eichenschreibtisch, auf dem rechts eine kleine Bronze-Büste Hitlers als Briefbeschwerer stand. Hinter ihm hing noch ein Bild des Führers. Kein Zweifel, der Führer war anwesend. Die Wände waren mit dunklem Holz verkleidet, an denen großflächige Gobelins hingen. Über ihren Köpfen wölbte sich dazu eine ebenso dunkle Kassettendecke, die den Eindruck erweckte, man befände sich in einem Schildkrötenpanzer. Vor den Fenstern hingen dunkelrote Vorhänge aus Brokat. Skorni hatte das Gefühl, in ein farbenbefreites Vakuum zu treten.

    Das längliche Gesicht Kaltenbrunners blickte langsam von seiner Schreibarbeit auf. Mit tiefer Stimme und leichtem österreichischem Akzent fragte er, ohne sie zu begrüßen, nach den Ergebnissen des Auftrags.

    Skorni saugte die abgestandene Luft des Raumes tief ein und begann die Ereignisse des vergangenen Tages schnell und bündig vorzutragen. Dabei schluckte er mehrmals, als er sah, dass Kaltenbrunners Augen sich mehr und mehr zu schmalen Schlitzen verengten. Als er schließlich geendet hatte, blickte er stumm zu Boden. Ein Weile war es ruhig, dann sprach der Chef des RSHA Radke an.

    „Und sie, Radke? Haben sie noch etwas hinzuzufügen?"

    „Nein, Herr Obergruppenführer. Der Verräter hatte plötzlich eine Waffe in den Händen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu erschießen ... in Notwehr!", fügte er noch hinzu.

    Skorni biss sich auf die Lippen. Von einer Bewaffnung Grewes konnte nun wirklich nicht die Rede sein. Radke hatte einfach Mist gebaut, und er log wie gedruckt. Skorni hatte große Lust, Radke zu verpfeifen. Kaltenbrunners Kopf nickte unmerklich. Gegen Erschießungen hatten diese Herren im Allgemeinen nichts einzuwenden.

    „Meine Herren, meine Herren! Das war nun wirklich kein besonders schwieriger Auftrag. Sie sollten nur ein Mädchen festnehmen ..., seine Stimme wurde mit jeder Silbe lauter „... und was machen Sie? Sie lassen es entkommen, noch dazu von einer Insel. Aber nicht nur das. Durch eine glückliche Fügung des Schicksals bekommen sie eine weitere verdächtige Person genannt und auch diese entzieht sich durch Freitod ihren Ermittlungen. Wie wollen wir jetzt weitermachen? Nach so vielen Pleiten?

    Kaltenbrunner stand auf und stolzierte um den schweren Eichenschreibtisch herum. Mit hinter dem Rücken zusammengelegten Händen und leicht vorn über gebeugt ging er anschließend im Raum auf und ab. Seit einiger Zeit war Skorni aufgefallen, dass diese Haltung, die untrüglich an das Gemälde des alten Fritz erinnerte, zu einer beliebten Pose in militärischen Kreisen geworden war. Oder imitierten sie nur den Führer, der sich seinerseits durch den alten Fritz inspiriert fühlte? Nervös verfolgte er die blank gewichsten Schaftstiefel Kaltenbrunners, die auf dem weichen Teppich helle Druckstellen hinterließen. „Wir können also davon ausgehen, sagte er schließlich, „dass die Hiller nach England geflohen ist. Ist das richtig? Wollen Sie mir das sagen?

    „Jawoll, Herr Obergruppenführer", antwortete Skorni zackig.

    „Und was soll ich jetzt mit Ihnen machen?"

    Diese Frage ließ Radke, der neben ihm stand, merklich zusammenzucken. Also wurde diesem Dummkopf endlich bewusst, in welchen Schlamassel sie da hinein geraten waren. Skorni glaubte, irgendetwas sagen zu müssen. Er wählte seine Worte mit Bedacht. „Leider sind wir schlecht für diesen Fall instruiert worden, Herr Obergruppenführer! Frauke Hiller, will mir scheinen, war doch mehr als nur eine einfache Luftwaffenhelferin. Allein, dass sie fliegen konnte, war uns nicht bekannt. Wenn uns dieses Detail bekannt gewesen wäre, hätten wir andere Maßnahmen zu ihrer Ergreifung beschlossen. So waren wir vollkommen unvorbereitet. Außerdem zeigt schon Ihr persönliches Interesse, dass es sich bei ihr nicht um eine gewöhnliche Kriminelle oder Agentin handeln kann."

    Kaltenbrunner war stehengeblieben und schaute missmutig zu Skorni herüber. Dessen Gehirn arbeitete fieberhaft. Was wurde hier gespielt? Wer war diese Frauke Hiller? Der Chef des RSHA sprach unvermittelt mit lauter, aggressiver Stimme, die Skorni verriet, dass auch seinem Vorgesetzten nicht wohl in seiner Haut war.

    „Hätte ..., Wäre... ! Ach, was wissen Sie schon! Versuchen hier ein ganz Schlauer zu sein, was!"

    Kaltenbrunner hatte sein auf- und abmarschieren wieder aufgenommen und trat an eines der großen Fenster. Dort blieb er, auf Zehenspitzen wippend stehen. Skorni schluckte schwer und blickte zu Radke herüber, auf dessen Stirn sich kleine Schweißperlen gebildet hatten. Radke funkelte ihn aus den Augenwinkeln böse an. War er zu weit gegangen?

    Es herrschte Grabesstille. Passt irgendwie zu diesem Mausoleum, dachte Skorni. Die Fenster und Türen von Kaltenbrunners Büro waren erstaunlich dicht. Kein Geräusch drang hinein. Die Zeit schien stillzustehen. Nach einer kleinen Ewigkeit drehte sich Kaltenbrunner auf dem Absatz um und ging langsam zu Skorni und Radke zurück. Seine Gesichtszüge wirkten jetzt entspannter.

    „Vielleicht haben Sie Recht und wir haben Sie dürftig mit Informationen über die Hiller ausgerüstet. Wir haben diese Verräterin wohl selbst unterschätzt. Nun, da das Mädel geflohen ist, ist es um so wichtiger, die Operation noch besser zu schützen. Wir haben in letzter Zeit versucht, den Kreis der Eingeweihten klein zu halten. Mit der Flucht des Mädchens wird sich dieser Kreis wohl oder übel um die Westalliierten erweitern, wenn nicht ein Wunder geschehen ist und dieses Weib über dem Atlantik abgestürzt oder abgeschossen worden ist. Wie ich Ihrem Bericht entnehme, herrschte ja Sturm während ihrer Flucht."

    Kaltenbrunner blickte, oder besser starrte geistesabwesend zu Boden, als er für einen Moment schwieg. Skorni fragte sich verwundert, um welche Operation es sich denn da handeln könnte. Unvermittelt sprach der Chef des RSHA weiter: „... Da können wir wohl jetzt nichts mehr machen. Also heben wir das Ganze auf eine neue Sicherheitsstufe. Und ich mache Sie beide dafür verantwortlich, dass nicht noch mehr Informationen nach außen gelangen. Das ist Ihre Chance sich zu rehabilitieren. Machen Sie keine Fehler! Wir leben in schweren Zeiten. Mit Versagern machen wir kurzen Prozess. Die können wir nicht gebrauchen ..."

    „Könnte ich erfahren, worum es sich bei dieser Operation, von der Sie eben sprachen, handelt?"

    „Natürlich werden Sie das. Sie stecken ja jetzt richtig mit drin. Sie und der dumme August hier. Richtig mit drin ..."

    Kaltenbrunner stampfte zurück hinter seinen Schreibtisch, zog eine Schublade auf und zog eine rote Kladde hervor, die er Skorni in die Hand drückte:

    „Dies ist das Dossier über Fritz Hiller, Onkel von Frauke Hiller. Grund allen Übels. Lesen Sie es, Kommissar Skorni. Und dann melden Sie sich heute Nachmittag um drei bei dieser Adresse in Potsdam. Dort werden Sie die verantwortlichen Leiter der Operation Nemesis kennenlernen. Man wird Sie einweisen. Heil Hitler." Kaltenbrunner wendete sich zum Gehen.

    „Und was mache ich solange, Herr Obergruppenführer?", fragte Radke mit einem leichten Zittern in der Stimme.

    „Sie? Kaltenbrunner schaute Radke amüsiert an. „Kaufen Sie sich ein Eis und gehen Sie in den Zoo.

    Skorni und Radke grüßten militärisch zackig, drehten sich wie nach einem Apell um und verließen den Raum. Vor der Tür schnaufte Radke: „Das war eine Ungeheuerlichkeit von Ihnen, Herr Obersturmführer! Den Obergruppenführer so zu bedrängen! Kein Wunder, dass er uns so behandelt."

    Skorni schaute seinen Assistenten nur grinsend an und sagte:

    „Radke. Sie brauchen nicht mehr Arschkriechen. Kaltenbrunner kann Sie nicht mehr hören. Und jetzt Heil Hitler und viel Spaß im Zoo, wenn's den überhaupt noch gibt."

    Um drei stand Skorni vor der angegebenen Adresse. Eine Gründerzeit-Villa, außerhalb von Berlin, in einem weitläufigen Park gelegen, umgeben von einer fast drei Meter hohen Mauer. Vogelgezwitscher drang aus den Bäumen und eine grünlich goldene Sonne schimmerte durch das Blätterdach der hohen Eichen und Platanen. Friedfertigkeit lag über dem Ort. Eine Friedfertigkeit, die Skorni schon lange nicht mehr gespürt hatte und ihm seltsam unwirklich erschien. Vor allem, wenn man gerade durch das von Bomben geschundene, zerstörte Berlin gefahren war.

    Er zog die Klingel des schmiedeeisernen Tores und wartete. Nach einer Weile erschienen zwei Männer in Zivil, die Marke und Dienstausweis sehen wollten. Nach genauer Prüfung öffneten sie das Tor.

    Schweigend spazierten Skorni und seine Begleiter etwa hundert Meter durch eine gewundene Allee bis zum Hauptportal der Villa. Dort wurde die Tür von einem ältlichen Diener in Livree geöffnet, der ihn wortlos in einen eleganten, mit Jugendstilornamenten verzierten Raum führte, in dessen Mitte ein Billardtisch im Licht einer breiten Fensterfront stand, die sich zum Park hin öffnete. An den Wänden hingen alte, gerahmte Seekarten und Ölgemälde von Segelschiffen. Dazu diverse Sextanten, Zirkel, Winkelmesser auf kleinen Beistelltischen und ein wurmstichiger Jakobsstab in einer wurmstichigen Vitrine. Der Besitzer schien sich fürs Maritime zu interessieren. Wenn er noch lebte. Die SS bezog gerne die enteigneten Wohnsitze reicher Juden.

    Skorni hatte sich gerade interessiert über einen alten Kompass gebeugt, als hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Vier Männer betraten den Raum. Ein Zivilist und drei Offiziere der SS. Die Männer verteilten sich rund um den Billardtisch.

    Der Zivilist, hager, glattes blondes Haar, in einem perfekt sitzenden schwarzen Anzug kam mit federndem Schritt auf ihn zu. Er war etwa Mitte Vierzig und trug eine randlose Nickelbrille auf der schmalen Adlernase. Dahinter tief liegende dunkle Augen, die ihn unruhig flackernd abzutasten schienen. Er streckte Skorni seine Hand zum Gruß entgegen.

    „Kriminalkommissar Skorni, nehme ich an?"

    Seine Stimme war mädchenhaft hoch und eigentümlich arrogant. Der Händedruck seltsam schlaff und feucht. Die Haltung die eines britischen Aristokraten.

    „Jawoll. Angenehm. Otto Skorni."

    „Schön, das Sie kommen konnten, Herr Kommissar!"

    Skorni wunderte sich etwas über den betont unmilitärischen Umgang, den sein Gegenüber an den Tag legte. Überhaupt wurde er das Gefühl nicht los, dass dieser Mensch versuchte, ihm auf impertinente Weise elitäre Weltläufigkeit vorzugauckeln, die sich jenseits roher Alltäglichkeit befand.

    „Man hat wohl keine andere Wahl, wenn Kaltenbrunner einem befiehlt, lächelte Skorni. „Aber auch so bin ich selbstverständlich gern gekommen.

    „Ja, ja. Der Kaltenbrunner! Ein roher Mensch. Das war noch etwas anderes, als Heydrich der Chef des RSHA war, nicht wahr?! Der war erst in zweiter Linie Militär. In erster ein Kulturmensch sondergleichen. Das Soldatische ist sicherlich nötig, um unserer Sache zum Sieg zu verhelfen, aber danach können wir hoffentlich zu gegebener Zeit darauf verzichten. Das Schöngeistige sollte dann wieder den Vorrang haben, nicht wahr?"

    Skorni, der sich nicht in Nachkriegsphantasien ergehen wollte, schaute sich unsicher um. „Ja, sicher", hauchte er schließlich.

    „Ich sollte mich wohl besser vorstellen, sagte der Aristokrat, und es hörte sich an wie eine Drohung. „Dr. Mannerheim, Kaiser Wilhelm Institut. Mit einem Gesichtsausdruck, als habe er etwas vergessen, drehte er sich leicht seitlich und deutete auf den ersten der drei Männer, die mit ihm den Raum betreten hatten. „Und das ist SS-Gruppenführer Kammler vom SS-Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt. Amt C. Der Gruppenführer hob leicht die Hand zum Gruß, verschränkte sie aber anschließend wieder vor der Brust. Mannerheim deutete auf den nächsten, der sich bereits auf einen Stuhl gesetzt und die Beine übereinander geschlagen hatte. Jünger. Vielleicht Ende Zwanzig, Frauentyp. „Hauptsturmführer von Baselitz. Verbindungsoffizier beim Reichsleiter SS. Und zu guter Letzt ..., die Hand Mannerheims verschwand in seinen Hosentaschen und ein nicht eben freundliches Nicken deutete auf den dritten SS-Mann „... Hauptsturmführer Schaffell".

    Schaffell, dick, Ende Vierzig. Der Kopf rot, ohne Hals. Der schwarze Kragenspiegel schnitt ihm in die Wabbelwangen.

    Mannerheim setzte sich auf ein mit grünem Samt bezogenes Sofa, das leicht quietschte und zog er ein goldenes Etui aus seiner Anzugtasche hervor.

    „Sie wollen uns also unterstützen, Herr Kriminalkommissar?", fragte Mannerheim und deutete mit einer Handbewegung, die für Skorni etwas herablassend wirkte, auf einen leeren Stuhl.

    „Jawoll. Mein Kollege Radke und ich haben mit der Verhaftung von Frauke Hiller etwas Pech gehabt ..."

    „Sie haben sie entkommen lassen ...", unterbrach ihn der dicke Schaffell scharf. Mannerheim gebot ihm mit einer schnellen Bewegung seiner Hand zu schweigen.

    „Diese Tatsache lässt sich in der Tat nicht leugnen, mein lieber Kommissar. Allerdings tragen Sie und ihr Kollege daran nicht die alleinige Schuld. Die liegt wohl zum Teil bei uns. Wir hätten Sie besser über die Hintergründe informieren sollen."

    Skorni versuchte ein Lächeln. „Wenn Sie es so offen sagen, bleibt mir nichts anderes übrig, als dies zu bestätigen." So einfach schiebt ihr mir nicht den schwarzen Peter zu, dachte Skorni grimmig.

    „Fakt bleibt, sprach Mannerheim weiter, „dass wir da alle, entschuldigen sie das Wort, mächtige Scheiße gebaut haben. Scheiße, die sich nicht wiederholen darf, Kommissar. Ihr Auftauchen hier indessen scheint allerdings bered' Zeugnis davon abzulegen, dass Sie gewillt sind, die Scharte wieder auszuwetzen.

    Skorni brummte verstimmt. Damit war der schwarze Peter wieder da, wo er hin gehörte. Bei ihm.

    „Nun gut, fuhr Mannerheim fort, wechselte aber das Thema. „Dann will ich Sie mal ins Bild setzen. Er schlug seine langen, dürren Beine übereinander und legte lässig die Arme auf die Lehne des Stuhls. Entspannt schaute er zur Decke des Raums empor, während er im eintönigen Singsang berichtete: „Im Dezember vergangenen Jahres entdeckte eine Aufklärungseinheit, die damit beschäftigt war, mögliche Fabrikanlagen, Infrastruktur, Rohstoffquellen etc. für den Fall eines Rückzuges unbrauchbar zu machen, einen offen gelassenen alten Stollen in den südlichen Karparten, Nähe Lemberg. Die Männer untersuchten den Stollen hinsichtlich seines militärischen Nutzen und schickten Gesteinsproben zum Kaiser-Wilhelms-Institut. Hier nach Berlin.

    Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um Urangestein. Allerdings mit einem ungewöhnlich hohen Anteil an Uran 235. Einem Isotop. Sehr ungewöhnlich."

    Skorni versuchte sich nicht ansehen zu lassen, dass er nur Bahnhof verstand. Er hatte nicht die geringste Ahnung von Naturwissenschaften.

    „Ich flog sofort mit einem Kollegen zu diesem Bergwerk. Es handelte sich wohl um ein wildes Bergwerk, in dem niemals ernsthaft geschürft worden ist. Der Tunnel war ein reiner Vortrieb. Die Arbeiten daran waren recht schnell aufgegeben worden, als man durch Zufall auf Uranerz gestoßen war. Was dann geschah ist nicht weiter schwer zu erraten. Uranerz setzt beim Abbau feinen Staub frei. Eingeatmet kommt es durch seine Radioaktivität schnell zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen: Nasenbluten, Erbrechen, Haarverlust, organische Schäden, schließlich der Tod. Der ungewöhnlich hohe Anteil an U-235 hat diese Vergiftung noch verstärkt. Der Betrieb wurde also vorzeitig eingestellt und der Stollen vergessen."

    „Ich bin leider nicht sehr bewandert in diesen Dingen", unterbrach ihn Skorni.

    „Das brauchen Sie auch nicht, mein Lieber! Lassen Sie mich fortfahren. Nur soviel. Uran ist nichts besonderes, es kommt überall in der Welt vor, auf den Straßen, im Boden, im Meer, in Zahnpasta. Kaum zu entdecken, aber es ist da. Man kann es auch in größerer Menge in Bergwerken fördern. Aber da ist noch etwas, was im Uran enthalten ist. Besagtes Uran 235. In Spuren nur. Etwa 0,7 Prozent um genau zu sein. Das Uran aus Lemberg enthält aber fast 15 Prozent. Das ist geradezu sensationell. In Friedenszeiten wäre mir der Nobelpreis sicher gewesen, aber so ..."

    Mannerheim ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und Skorni wurde klar, wonach es diesem Menschen gierte. Nach Ruhm.

    „... aber so ist es auch ein Glücksfall, der mich in die Lage versetzt, das Reich, unserem Volk und dem Führer aus ihrer momentanen prekären militärischen Lage zu retten."

    Pause. Mannerheim gab Skorni Zeit für eine Zwischenfrage. Der Mann liebte anscheinend dramatische Momente.

    „Und wie wollen Sie ...?", hüstelte Skorni etwas beklommen.

    „Durch den Bau einer revolutionären Bombe, unterbrach ihn Mannerheim ungeduldig. „Einer, möchte sagen, evolutionären Bombe. Sie steht am Ende der Entwicklung der Kriegstechnik. Sie ist sozusagen deren Vollendung. Nach ihr kommt nichts mehr. Nur noch die absolute Vernichtung.

    Skorni sah, dass Kammler sich umgedreht hatte und unbeteiligt aus dem Fenster in den Park schaute. Himmlers Verbindungsoffizier hantierte an einer Flasche herum und goss sich ein Glas ein. Schaffell sah Skorni nicht. Er stand wohl hinter ihm. Von dort hörte er kurzatmiges Grunzen. Mannerheim, der einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nahm, sprach weiter.

    „Dieses Uran-235 ist der Grundstoff für unsere Bombe. Aber die Forschungen auf dem Gebiet der Atomphysik, die von unseren zugegeben brillanten Physikern in den letzten Jahren durchgeführt wurden und noch werden, haben etwas an Biss verloren. Dazu kommt, dass der Führer der ganzen Sache wenig Liebe entgegengebracht hat. Liegt wohl an seiner Abneigung der Physik als eine jüdische Wissenschaft. Der Fund dieses Urans aber hat seine Sicht der Dinge verändert. Ich konnte ihm mit Hilfe von Obergruppenführer Kammler klar machen, dass wir schon bald in der Lage sein werden, einen neuen Supersprengstoff zu entwickeln. Obergruppenführer?"

    Kammler drehte sich um und trat ein paar Schritte auf Skorni zu. Lässig lehnte er sich an den Billardtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben sicher schon von der V1 gehört?", fragte er Skorni.

    „Ja. Natürlich. Die schießen wir doch gerade auf England ab."

    „Genau. Aber nicht besonders erfolgreich. Zu langsam, zu ungenau, zu kleiner Gefechtskopf. Kurz, das Ganze ist ein gottverdammter Beschiss von einigen Phantasten, die eher an den Weltraum denken, als an die Kriegswichtigkeit ihrer Forschungen. Kammlers Stimme schwoll wütend an. Er schien sich persönlich beleidigt zu fühlen. „Ich habe daher auf direkten Befehl des Führers damit begonnen, die Leitung dieses Spinnervereins zu übernehmen und die nächste Weiterentwicklung der V1, die A4 unter die Fittiche der SS gestellt. Für diese Rakete wird es keine Abwehr geben. Sie flieg unerreichbar hoch und stürzt sich dann mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit auf ihr Ziel. Sie ist praktisch unsichtbar, lautlos und tödlich.

    „Das ist ja fantastisch!", warf Skorni pflichtbewusst ein.

    „Natürlich. Ein gewaltiger Sprung der Militärtechnik. Es gibt da allerdings noch einige technische Hürden zu nehmen. Aber das kriegen wir hin. Eines aber haben wir nicht: Einen Sprengstoff, der in den Gefechtskopf passt und die Zerstörung anrichtet, die wir brauchen, um die Alliierten in ihre Schranken zu weisen."

    „Und dieses ... Uran-Zeug, liefert ihnen den Sprengstoff?"

    Mannerheim schaltete sich wieder ein. „Ja. Verkürzt gesagt: Wir konnten den Führer davon überzeugen, der Entwicklung dieses neuen Sprengstoffes zuzustimmen. Er hat alle mögliche Unterstützung gewährt und unser Projekt auf der Prioritätenliste nach oben gesetzt. Damit haben wir Zugriff auf alle wichtigen Ressourcen. Materielle wie humane."

    Wieder machte Mannerheim eine dramatische Pause „Leider ..., fuhr er mit leiser Stimme fort, „leider ist uns ein Fehler unterlaufen, was die Sicherheit des Projektes angeht. Denn ich habe den Kollegen Hiller, den ich nur als einen Fachmann für Strahlungsphysik kannte, mit nach Lemberg genommen. Ich wusste nichts von seiner mehr als dubiosen Vergangenheit!

    Schaffell hüstelte vernehmlich und Mannerheim warf ihm einen bösen Blick zu. Das Verhältnis der beiden schien nicht das Beste zu sein. Skorni nahm sich vor, sofort die Akte über Hiller zu lesen, wenn er zu Hause war.

    „Dieser Hiller hat mein Vertrauen aufs Niedrigste missbraucht und es tatsächlich fertig gebracht, etwas vom diesem Uran aus dem

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