Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Null Jahreszeiten
Null Jahreszeiten
Null Jahreszeiten
eBook410 Seiten5 Stunden

Null Jahreszeiten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Weihnachten in Berlin. Schmuddeliges Wetter,
Menschen ohne Zuhause, Temperaturstürze und ein
Auftrag. Corinna Tillmann soll vier Matrosen töten.
Weil sie als Kind von den Männern missbraucht
worden ist. Angeblich. Der Auftrag kommt von
der Frau Mama. Auch die wurde von den Männern
missbraucht. Angeblich. Corinna sieht nicht, dass sie
manipuliert wird. Weil sie es nicht sehen will. Weil
die Frau Mama recht hat. Weil sie die Frau Mama ist.
Gene, Erziehung, was auch immer. Am Neujahrstag
führt der Auftrag Corinna nach Hamburg.
Und was ist mit deiner Mama?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Dez. 2017
ISBN9783742758972
Null Jahreszeiten

Ähnlich wie Null Jahreszeiten

Ähnliche E-Books

Polizeiverfahren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Null Jahreszeiten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Null Jahreszeiten - Frank Strick

    01. Donnerstag, 21.11.2013 |

    Frank Strick

    Null Jahreszeiten

    Kriminalroman

    Das Buch

    kann man als Krimi lesen. Muss man aber nicht. Im Rahmen einer kriminogenen Handlung agieren die Protagonisten als vielschichtige, großstädtische Charaktere.

    Corinna soll vier Matrosen töten. Ein Auftrag der Frau Mama, die sich und ihre Tochter durch die Tötungen reinwaschen will. Von dem Missbrauch, den die Männer an ihnen begangen haben. Angeblich.

    Auch die Matrosen planen ein Verbrechen. Das Verschieben von Schmuggelware aus dem Hamburger Hafen. Ein Verbrechen, das sie nicht zum ersten Mal begehen. Das letzte Mal haben sie versagt. Das darf nicht wieder passieren.

    Lebprov ist Polizist und ermittelt gegen die Matrosen. Er wartet auf den Fehler. Auf das Verbrechen. Auf den Lohn der Arbeit. Denn die Arbeit ist sein einziges Leben. Bis er den Kellner Schorsch kennenlernt. Lebprov dröhnt sich zu und lacht, bis er sich selber nicht mehr erkennt. Erst er-schrickt er, dann fühlt es sich gut an. Aber die Ermittlung, die ist auch noch da. Und die fühlt sich weniger gut an.

    Außerdem von Frank Strick erschienen: Krimi jetzt, Kunz ist auch noch da

    Bestellbar bei info@x-verlag.com

    Der Autor

    ist 1965 in Düsseldorf geboren. Er hat in München Geografie studiert. Heute arbeitet er dort als Netzwerktechniker. Null Jahreszeiten ist sein dritter Roman.

    chapter1Image1.png

    Ähnlichkeiten der in diesem Roman vorkommenden Personen und Institutionen mit Personen und Institutionen, die real existieren, existiert haben oder existieren werden, sind nicht beabsichtigt.

    1. Auflage 2016

    Copyright © by X-Verlag (self publishing)

    Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, die fotomechanische Wiedergabe, das Speichern auf Tonträgern jeder Art oder die Einspeicherung in Datenverarbeitungsanlagen und die Rückgewinnung sind vorbehalten.

    Umschlaggestaltung: K+ Atelier für Mediendesign, Berlin

    www.kplus.de

    Printed in Germany

    Kontakt: info@x-verlag.com

    ISBN 978-3-943970-03-6

    01. Donnerstag, 21.11.2013 |

    Wen interessiert schon die Jahreszeit! Corinna zieht die Kapuze in den Nacken und hebt den Blick. Hauptsache, das Wetter passt! Ihr Großvater ist Dachdecker, und das Einzige, vor dem er sich fürchtet, sind Eisregen, Orkanböen und seine Tochter. Zwei Flussmöwen fliegen gegen den Wind an. Im obersten Stock des Gebäudes steht eine Gestalt. Umriss und Haltung lassen auf einen Mann schließen. Auf einen Mann mit gewaltigen Ohren und gewaltigem Bart.

    Das Gebäude gehört zum psychologischen Institut der Berliner Humboldt-Universität. Es ist Teil des Campus Adlershof und mit Straßenbahn, Bus und S-Bahn zu erreichen. Corinna hat die Straßenbahn genommen. Die Fassade des Gebäudes hat breite Fensterfronten und ist in der Farbe Grün gehalten. Wer Grün liebt, ist zuverlässig, empathisch und sozial kompetent.

    Hokuspokus, die Welt will getäuscht werden, meine liebe Süße, also täusche die Welt, und die Welt wird dir zu Füßen liegen. Der Organisationsplan hängt neben dem Treppenaufgang. Du wolltest schon als junges Mädchen auf die Universität, meine liebe Süße, weil du nämlich damals schon schlau warst, und jetzt, jetzt holen wir uns mit deiner Schlauheit die Welt zurück, hörst du, unsere Welt, die sie dir und mir genommen haben. Im September hat sie sich eingeschrieben. Heute geht es darum, ein Seminar zu belegen. In der drittletzten Zeile findet sie, was sie sucht. Sie nimmt die Treppe. Sie hat keine Erinnerung an das, was sie als junges Mädchen wollte. Es ist 13 Uhr 20.

    Sie klopft, tritt dann unaufgefordert ein und sieht sich einer jungen Frau gegenüber, die ihr rotblondes Haar nach oben drapiert hat und Kopfhörer trägt. Die Frau zieht ein Polster vom Ohr. „Kann ich etwas für dich tun? Die Musik läuft weiter. Es riecht nach Apfelsine. Corinna macht sich an den Knöpfen ihres Mantels zu schaffen. „Es war aber nicht abgesperrt. Die Frau vermittelt ihr das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. Das Gefühl gefällt ihr nicht. „Die Tür war aber offen. Die Füße der Frau liegen auf dem Schreibtisch und stecken in Cowboystiefeln, wie man sie zuletzt in den 80ern getragen hat. Knallrotes, dickes Rindsleder. Hoher, weiter Schaft, der oben mit einer Stickerei abschließt. „Sind Sie jetzt die Sekretärin hier? Die Frau nimmt die Füße runter und legt den Kopfhörer weg. „Officemanagerin. Corinna glaubt, ein Lächeln zu erkennen. Das Kinn deutet auf den Kassettenrecorder. „Wenn die Maschinerie mal angelaufen ist, dann gibt es nicht mehr viel zu tun in diesem Puff. Das Kinn zeichnet einen Halbkreis in die Luft, der den gesamten Campus mit einschließt. Corinna fixiert das Abspielgerät. Ihre Mutter hat auch so eins gehabt. Vorne eine Reihe schwarzer Tasten, die an ein Klavier erinnern. Ich habe das Geschehen dokumentiert, meine liebe Süße, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Neben dem Recorder steckt ein Küchenmesser in der Schreibtischplatte. „Haben Sie gerade Puff gesagt?"

    „Ich? Die Officemanagerin zieht die Augenbrauen hoch, tut jetzt empört. „Du musst dich verhört haben.

    „Sie haben Puff gesagt und dabei so gelächelt." Corinna macht das Lächeln nach.

    „Was kann ich für dich tun?"

    „Ich brauche ein Seminar, so etwas wie Verhaltensforschung. Und es muss Empirie dabei sein, das unbedingt."

    „Empirie, unbedingt? Die Officemanagerin mustert den Kalender, der hinter Corinna an der Wand hängt. „Das Semester läuft schon eine ganze Weile, meine Liebe.

    „Corinna. Sie setzt sich auf den Besucherstuhl. „Corinna Tillmann. Die Officemanagerin zieht das Küchenmesser aus der Schreibtischplatte und deutet damit auf die Besucherin. „Liebe Corinna, besitzt du Musikkassetten?"

    „Zum Henker mit der Liebe."

    „Und die Kassetten?"

    „Chromdioxid, ein ganzer Umzugskarton. Wie viele?"

    Ihr Gegenüber breitet die Arme aus. „Eine Einkaufstüte. Im wievielten Semester bist du?"

    „Wie viele Kassetten sind eine Einkaufstüte?"

    „Du willst es aber genau wissen."

    „Genau. Corinna hat an Selbstsicherheit gewonnen. Bestechung lässt sich berechnen. „Ich will es genau wissen. Die Finger der Officemanagerin finden eine Haarsträhne und stopfen sie zurück in die Frisur. „Vierzig. Ist das genau genug?" Corinna stützt sich mit den Ellenbogen auf der Schreibtischplatte ab. Ihr Gegenüber kann kaum älter sein als sie selber. Sie hat eine Stupsnase mit Sommersprossen, eine helle Hautfarbe und einen üppigen Busen, über den sich ein T-Shirt spannt. Corinna liest: Das ist ein T-Shirt. Darunter in kleinerer Schrift: Und wenn du ein Mann bist, dann lebst du gerade gefährlich. Über dem Kragen ein kreisrundes Muttermal. Auf den Armen mehr Sommersprossen. Die Augen haben keine Farbe und stehen in einem unnatürlichen Winkel zueinander. Es ist schwer auszumachen, aber wenn man es einmal erkannt hat, ist es deutlich: Die Officemanagerin schielt. Corinna winkelt ihren Unterarm an und lässt den ausgestreckten Mittelfinger in Augenhöhe stehen. „Bin kein Mann. Ihr Gegenüber spitzt die Lippen und lässt hörbar Luft ab. „Erstes Semester, fügt die Besucherin hinzu. Die Officemanagerin nimmt einen Ordner und liest: „Das Grundstudium vermittelt vorwiegend grundlegende theoretische und methodische Kenntnisse sowie eine Orientierung über Forschungsergebnisse. Sie stellt den Ordner zurück. „Gerne ignoriere ich die Studienordnung, wenn es gute Gründe dafür gibt. Gibt es gute Gründe, Corinna Tillmann? Corinna beugt sich ihr entgegen. „Vierzig Kassetten sollten dir Grund genug sein."

    „Und deine Gründe, Corinna Tillmann?"

    Corinnas Lächeln entblößt ihre untere Zahnreihe. Vom linken unteren Eckzahn ist hinten ein Stück weggebrochen. „Die Kassetten und das Bekenntnis, dass mein Interesse der männlichen Gesellschaft gilt." Die Officemanagerin lässt sich in ihren Stuhl zurückfallen. Diese Frau hat was. Sie ist derb und verletzlich und schön und alles zugleich. Der Körper ist obenrum schlank. Untenrum, da wirkt er etwas gedrungen. Große, hellblaue Augen, eine hohe Stirn und hohe Wangenknochen. Das auf zwei Zentimeter gestutzte, wasserstoffblonde Haar steht dornig vom Kopf weg. Vor was tust du dich schützen, Corinna Tillmann? Die Gesichtszüge sind harmonisch, fast weich, bis auf eine tiefe Falte in der Stirn. Das Lächeln wirkt aufgesetzt und entwaffnend zugleich. Keine wirkliche Schönheit, aber was ist schon wirklich, und wer will schon einen Körper, der vollkommen ist, aber ansonsten eine Menge Ärger einbringt. Genaugenommen ist sie zweimal wirklich, obenrum wirklich nordisch und untenrum wirklich südländisch, und sie ist eine Frau, die sich nicht versteckt. Corinna Tillmann, da ist etwas, was ich nicht greifen kann, jenseits von schön und derb und dem Lächeln, ich werde es finden und meine Hand darauf legen. Ihre Geste signalisiert Anerkennung. „Ich habe dich in der Straßenbahn gesehen. Ein schönes Transportmittel, aber träge, aber schön."

    Mit dem Lächeln glättet sich die Falte auf Corinnas Stirn. „Der Weg ist das Ziel."

    „Eine Botschaft." Die Officemanagerin legt ihre Hand auf den Mann unter ihrem Busen. „Was wäre die Welt ohne Botschaften. Sie streckt der Besucherin die Hand entgegen. „Julia Rotbarsch. Kannst den Mittelfinger runternehmen. Corinna zögert und nimmt dann die Hand umso entschlossener. „Ich empfehle dir die Biologie als Ergänzungsfach. Da ist eine Teilnehmerin abgesprungen. Thema Verhaltensmuster in der Humanbiologie. Corinna deutet auf den Kopfhörer, der neben dem Telefon liegt. „Das warst du da oben. Rotbarsch versteht nicht. „Am Fenster. Du hast zu mir runtergeschaut, und ich habe dich für einen Mann gehalten. Rotbarsch lacht. „Für einen Mann mit gewaltigen Ohren und gewaltigem Bart. Rotbarsch stülpt sich die Polster über die Ohren. „Der hat noch ein Gewicht hat der. Der Bügel hängt unter dem Kinn. Corinna zögert und lacht dann umso entschlossener mit. Aus dem Kopfhörer dringt Oldiemusik. „Früher war alles besser?

    „Früher, ja, aber heute ist auch schön. Rotbarsch macht sich daran, eine Apfelsine zu schälen. „W 33, den solltest du dir distal vergolden lassen. Jetzt ist es Corinna, die nicht versteht. „Deinen Eckzahn, die Rückwand, sonst kriegst du es sehr bald mit Karies zu tun, ich kenne mich mit so etwas aus." Corinnas Hand fährt zum Mund, ein Automatismus, und ihre Zunge tastet nach W 33.

    02. Dienstag, 24.12.2013 |

    02. Dienstag, 24.12.2013 |

    Er ist allein. Schleyer wird später kommen, nach seiner Arbeit, die nach dem Dauerregen der letzten Wochen reichlich gewesen sein wird. Reichlich anderer Leute Hecken schneiden und anderer Leute Laub rechen und all die anderen Arbeiten verrichten, für die andere Leute einen Gärtner bezahlen. Er winkt dem Kellner. Fronzek und Albers hat er ebenfalls herbestellt, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob er sie dabei haben will.

    „Ein großes Glas Bier, mit ordentlich Schaum drauf."

    „Flasche oder Hahn?"

    „Na Fass, oder hast du schon mal ordentlichen Schaum in der Flasche gesehen?"

    „Bei uns wird getrunken, was auf den Tisch kommt." Die Mine des Kellners fordert zum Scherzen auf.

    „Bei uns? Sailors Blick wird hart. „Was heißt das?

    „In Berlin, bei uns in Berlin, wussten Sie das nicht?"

    „Da lebt man gefährlich, weiß Sailor, „pass auf, was du sagst.

    „In Ordnung, jawohl, zu Ihren Diensten." Der Kellner deutet eine Verbeugung an und macht sich ans Zapfen. Sailor massiert sich den Nacken. Er hat letzte Nacht einen Zug abbekommen. Er sollte das Fenster abdichten. Und etwas gegen den Schimmel tun, der sich durch das Zimmer frisst. Er spürt die Narbe, die sich vom Daumenballen quer über den Handrücken zieht. Sie hat mit der Kälte, die sie draußen abgekriegt hat, eine violette Färbung angenommen und lässt ihn spüren, was es heißt, vierzig Jahre auf einem Schiff gearbeitet zu haben. Er spreizt die Finger und ballt sie zur Faust. Die Haut strafft sich, und mit ihr die Narbe. Er konzentriert sich auf den Schmerz, der seine Gedanken klar und hart werden lässt. Der Kellner bringt das Bier. Die Sache ist die, dass es zu zweit eng werden wird. Zwei werden sie schon allein für den Fahrerjob brauchen, und noch mindestens einen, der ihnen bei der Übergabe zur Hand geht. Sich auf den Chinesen zu verlassen wäre ein Fehler. Er sieht sich um. Am Ende des Tresens steht eine Handtasche. Eine Frau, denkt Sailor, die auf der Toilette ist oder beim Telefonieren. Er trinkt. Eher beim Telefonieren, überlegt er weiter, auf die Toilette hätte sie wohl die Handtasche mitgenommen. Es ist eine sehr weibliche Handtasche, mit zwei steifen Schlaufen, die im halbkreisförmigen Bogen über der Tasche stehen, und mit einer Stickerei, die das Licht reflektiert. Im Grunde genommen ist jede Handtasche weiblich, denkt Sailor, aber es gibt eben welche, die sind es ganz besonders.

    Hinten spielt ein Mann den Flipperautomaten. Er steht mit gespreizten Beinen davor, und wenn er die Knöpfe drückt, dann geht ein Ruck durch seinen Körper. Am Tisch neben dem Fenster liest ein Mann Zeitung. Er hat Weihnachtseinkäufe neben sich auf der Bank stehen. Der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen hat Feuchtigkeit kondensieren lassen, die an dem Fenster haftet. Jemand hat einen Weihnachtsstern in die Feuchtigkeit gemalt. Der Flipperspieler kommt an die Bar, um einen Schein in Münzgeld zu wechseln. „Was für ein Wetter. Er deutet mit dem Kinn zur Tür und nimmt die Münzen entgegen. „Und morgen kommt der Temperatursturz. Er sieht Sailor auffordernd an. Sailor nickt. Er ist zurück in Berlin. Die Menschen hier wollen Bestätigung. Auf See, da gibt es so etwas nicht. Da gibt es die See, mit allem, was dazugehört, und bei Gott, für was sollte die See eine Bestätigung brauchen?

    „Wird wohl so sein, jawohl." Und meine Narbe, die wird es mir schon stecken, wenn es so ist, ergänzt Sailor in Gedanken, und vielleicht sollte ich mir Handschuhe zulegen, oder zumindest einen rechten Handschuh. Es ist kalt in der Stadt, und der Herbst geht in den Winter über. Sailor mag den Winter, der in diesem Jahr spät dran ist. Er mag ihn, weil er ihn für eine Jahreszeit hält, in der sich die Spreu vom Weizen trennt. Er mag die Kälte, und er mag es, wenn die Feuchtigkeit an den Fenstern zu Eis erstarrt und die Menschen zu Hause bleiben, weil sie den Winter für ihren Feind halten.

    Von der Durchreiche, die den Gastraum mit der Küche verbindet, kommt das Geklapper von Porzellan, das aufeinandergestapelt wird, Besteck, das in den Besteckkasten geworfen wird, die Stimme des Chefkochs, der Anweisungen gibt. Ab 16 Uhr 30 werden Bestellungen entgegengenommen. Die erste Schicht findet heute nicht statt, und die zweite ist bereits seit 14 Uhr 30 zugange. Die meisten Tische sind reserviert. Es ist 15 Uhr 30. Der Mann am Flipperautomaten wirft eine Münze nach. Der Mann am Fenstertisch legt die Zeitung weg. Die Eingangstür öffnet sich, und eine Frau kommt herein. Sie geht an die Bar und lässt ihr Handy in der Handtasche verschwinden.

    Die Frau gefällt ihm. Er nimmt sein Bier und den Filzdeckel, geht zu ihr und stellt fest, dass es eher ein Mädchen als eine Frau ist. Neben dem Barhocker, auf dem sie sitzt, steht ein weiterer, freier Barhocker. Er will sich erst setzen, bleibt dann aber stehen. Er fühlt sich sicherer, wenn er steht. Sie gefällt ihm sehr, auch wenn er nicht genau sagen kann, was es ist, was ihm an ihr gefällt. Er stellt sein Glas ab. „Tolle Handtasche, Sie gefallen mir. Sie zeigt keine Reaktion. „Sie gefallen mir sehr. Er setzt sich auf den freien Barhocker. „Ich will mit Ihnen schlafen. Er glaubt zu erkennen, dass sie zusammenzuckt. „Mein Weihnachtsgeschenk, wenn Sie so wollen. Er spürt keine Angst. Die würde er spüren. Er kennt die Angst, in all ihren Variationen. Er winkt dem Kellner und bestellt einen Bloody Mary. „Mit Eis, Herr Wirt, denn ohne Eis ist ein Bloody Mary nichts wert. Er wendet sich an die Frau. „Sie mögen Bloody Mary? Sie antwortet nicht. „Ich kenne keine Frau, die Bloody Mary nicht mag, wenn er nur mit genug Eis zubereitet wird. Der Kellner stellt den Drink hin. Sailors Blick umfasst das Lokal. „Was macht eine Frau wie Sie am Heiligabend an einem Ort wie diesem?

    „Weihnachtsgeschenk für wen? Ihre Stimme ist sehr hell, sie wirkt fast hysterisch. Ihr Körper spricht nicht mit. „Für Sie, sagt er, „für uns beide. Sie sagt: „Ich studiere Psychologie.

    Sailor ignoriert den schrillen Ton, und die Stummheit ihres Körpers fällt ihm nicht auf. Sie nimmt den Strohhalm aus dem Glas und legt ihn in den Aschenbecher.

    „Kennst du Henry Miller?, geht Sailor unvermittelt zum Du über. Sie nickt, ohne dass er es wahrnimmt. „Ich sage dir, sagt er und hebt den Zeigefinger, „dass dieser Mann keine Ahnung von Sex hat. Ihr Blick folgt der Richtung, die der Zeigefinger anzeigt, und sie stellt sich vor, dass er auf Henry Miller zeigt, und dass Henry Miller keine Ahnung von Sex hat, und sie lacht bei dem Gedanken, weil Henry Miller da oben steht und eigentlich von allem eine Ahnung haben sollte. Ihr Körper lacht nicht mit. Der Mann versteht ihr Lachen als Aufforderung. „Psychologie des Schreibens, sagt er lachend und schüttelt sich ein wenig, „Herr Miller schreibt über das, was er nicht hat, aber gern hätte. Er erkennt sie nicht. Möglich, dass er noch nie eine Frau erkannt hat, sowenig wie man ein Stück Seife oder das Feuer eines Streichholzes erkennt. Sie sieht ihn nicht an. Sie hat ihn die ganze Zeit über nicht angesehen. Sie weiß, dass er es ist. „Fröhliche Weihnachten, sagt der Mann, „ich will mit dir schlafen, und wenn es nicht das ist, was du dir vorstellst, dann hören wir wieder auf damit. Er spürt die Vorfreude. Er sieht sie an und wartet auf ihre Zustimmung. Sie stimmt ihm nicht zu. „Ich muss mit dir schlafen, sagt er und denkt sich, dass er sie bald so weit hat, denn wenn ein Mann etwas muss, dann kann ihm das keiner verwehren.

    „Wo kämen wir hin, wenn das alle müssten? Es ist wieder nur ihre Stimme, die spricht, und er fragt sich, was mit ihr los ist, weil die Stimme das einzige ist, was nicht zu ihr passt, und vielleicht noch dieser Graben über der Nase, der die Stirn in eine untere und eine obere Hälfte teilt. Er winkt dem Kellner. „Einen Bloody Mary, und natürlich auf Eis. Sailor schiebt ihm sein leeres Bierglas hin. „Das auch nochmal vollmachen, und sobald die Dame ihr Glas leer hat, machen Sie ihr ein neues. Der Kellner sieht sie beide an, und man erkennt an seinem Blick, dass er die Gäste, die in seinem Lokal verkehren, weder für Damen noch für Gentlemen hält. „Haben Sie mich verstanden?, hakt Sailor nach, „ich will, dass diese Dame immer ein volles Glas Bloody Mary vor sich stehen hat. Der Kellner nickt. „Ich werde darauf achten. Er wirft sich ein Handtuch über die Schulter und beginnt, die Gläser vom Abtropfgitter zu nehmen und in das Wandregal zu stellen. Sailor ist sich jetzt sicher, dass die Frau nicht ohne Getränk sein wird. Er könnte ihr Geld anbieten, aber lieber macht er sie betrunken. Er sieht an ihr runter und stellt fest, dass ihre Kleidung die einer Nutte sein könnte. Eine eng anliegende Bluse, die keinen tiefen Ausschnitt hat, aber alles zeigt, was ein Mann an einer Frau begehrt, und die so kurz ist, dass man den Bauchnabel sieht, und dazu trägt sie einen Rock, der so tief auf der Hüfte sitzt, dass er glaubt, die Farbe ihres Schamhaares zu erkennen, und Stiefel aus rotem Leder mit Absätzen trägt sie, die nicht größer sind als ein Centstück. Vielleicht ist es das, was mir an ihr gefällt, überlegt Sailor, die Nutte an ihr. Er bietet ihr kein Geld an.

    „Du hast telefoniert? Er erkennt sofort, dass er die falsche Frage gestellt hat. „Ich habe dich gesehen, versucht er die Frage zu erklären, „wie du mit dem Handy hier rein bist." Er deutet auf die Tür und sucht gleichzeitig nach der richtigen Frage. Es gibt viele Fragen, überlegt er, du musst nur eine finden, die richtig ist. Du musst sie hier rausmanövrieren, überlegt er weiter, das wäre richtig. Sie zeigt keine Reaktion, auch nicht auf die falsche Frage, und er denkt sich, dass sie vielleicht doch nicht falsch war. Vielleicht ist es das, worüber sie reden will. Der Anruf, der sie enttäuscht oder verletzt oder sonst wie berührt hat.

    03. Dienstag, 24.12.2013 |

    03. Dienstag, 24.12.2013 |

    Henry Schleyer betritt das Lokal. „Sailor, sagt er und verbeugt sich kurz aber höflich zur Frau hin, „da hat so einer wie du keine Chance. Er wendet den Blick seinem Freund zu. „Außer, du hast sehr viel Geld."

    „Und wenn so einer wie ich das hat, entgegnet Sailor, „und sei es nur für einen Abend? Es ist allen dreien klar, dass die Frage nicht an den Freund, sondern an die Frau gerichtet ist. Die Frau reagiert nicht.

    „Ich spreche von viel Geld", sagt Schleyer, „von sehr viel Geld, und das hat man nicht für eine Nacht."

    Corinna leert ihren Drink. Der Kellner hat einen neuen vorbereitet. Er füllt mit einer Greifzange Eis in das Glas.

    „Du bist früh dran", sagt Sailor.

    „Tut das etwas zur Sache?"

    Und ob es das tut, denkt Sailor, du kommst mir hier in die Quere, jetzt, wo ich sie fast so weit habe. „Trinkst du einen mit?", fragt er laut und legt vier zerknitterte Hundert-Euro-Scheine auf den Tresen.

    „Deine Miete für nächsten Monat?"

    „Und wenn schon, heute ist es das Geld, mit dem ich einen ausgebe." Sailor nimmt einen Hunderter und glättet den Schein, indem er ihn über den Rand des Tresens zieht. Schleyer bestellt ein Bier.

    „Flasche oder Hahn?", will der Kellner wissen.

    „Na gezapft, solange du deine Anlage sauber hältst."

    „Zu Ihren Diensten, jawohl."

    Schleyer wendet sich Sailor zu. „Gibt nicht viel, was einem gezapften Bier den Garaus macht, aber die unsaubere Leitung, die wäre da als Beispiel zu nennen."

    „Und ein schlecht gespültes Glas, ergänzt der Kellner und hält ein Glas ins Licht. „Wir mussten unsere Spülmaschine abstellen, weil wir uns nicht mehr auf sie verlassen konnten.

    „Aha, sagt Sailor, der die Konversation mit dem Kellner kurz halten will, „und jetzt spült die Bedienung. Corinna nimmt den Strohhalm aus dem Glas und legt ihn zu den anderen in den Aschenbecher. Sailor deutet auf den Drink. „Ein damenhaftes Getränk, auch ohne Strohhalm, jawohl. Schleyer nimmt das gezapfte Bier entgegen und hält es zu einem Prost in den Raum, der sowohl Sailor als auch der Dame gilt, und dem heutigen Tag, denn schließlich ist Heiligabend. „Der Dicke und Fronzek, sie kommen auch? Sailor erwidert den Prost, ohne auf die Frage einzugehen. „Blutig oder nicht, sagt Schleyer, „Maria war schon immer eine Dame. Also: Ist das ein Weihnachtstreffen oder hast du was am Haken? Schleyer ist nicht dumm. Ihn für dumm zu halten wäre ein Fehler. Als sie noch aktive Matrosen waren, da konnte er sich auf ihn verlassen. Beim letzten Geschäft haben sie gutes Geld verdient, und es wäre sehr gutes Geld gewesen, wenn nicht der Container über Bord gegangen wäre. Seit dem Unfall hat Sailor Schwierigkeiten, in das Geschäft zurückzufinden. Die Frau entfernt sich, um Zigaretten zu ziehen. Der Unfall ist jetzt zwei Jahre her.

    „Nicht die schönste Schönheit, sagt Schleyer, „aber sie hat was.

    „Eine Dame, meine Dame, und wer will schon die perfekte Frau. Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?"

    „Ein Vollbart, kann nichts Verkehrtes dran finden."

    „Trägt man das so als Gärtner?"

    „Guck dir die modernen Männer an. Brad Pitt wäre da als Beispiel zu nennen."

    „Beispiele sind was für Leute, die nicht wissen, wo es langgeht. Sailor packt den Freund an der Schulter. „Du leckst anderer Leute Speichel, Henry Schleyer, tust das, wofür andere Leute dich bezahlen.

    „Auslieferung von Weihnachtstannen wäre da als Beispiel zu nennen."

    „Der Weihnachtsmann. Schleppt Tannen durch den Heiligen Abend."

    „Ich bin Gärtner, Herrgott, ich habe Kunden, und ja, es gehört dazu, einen gepflegten Eindruck zu machen. Schleyer fährt sich mit der Hand über den auf einen Zentimeter gestutzten Bart. „Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann raus damit, aber lass mein Äußeres aus dem Spiel.

    Sailor legt den Kopf in den Nacken. Lampenschirm und Glühbirne sind mit Fett und Nikotin überzogen. „Halt dein Maul, bärtiger Mann, spricht er zu dem Schirm, „wir wollen uns nicht streiten wie die Weiber. Er wird klein anfangen, mit Zigaretten, vielleicht auch Schnaps, und wenn die Sache läuft, dann wird sich mehr ergeben. Die Chinesen wollen ihn in Hamburg sehen, heute Abend, und er ist bereit, hat den Wagen eine Straße weiter geparkt. Vögeln, Zigarette, Hamburg, das ist der Plan, und morgen ist er wieder hier. „Auf dem Schiff, auch da hast du mehr Wert auf Körperpflege gelegt als die anderen, und ich habe mich da schon gefragt, warum, bärtiger Mann, für die Takelage, für die See, oder etwa für die Matröschen? Schleyer antwortet nicht. „Hast dich schon als Kind schwer getan mit den Weibern.

    „Du hältst mich für schwul, sagt Schleyer und stellt fest, dass es ihm egal ist. „Du hast mich schon damals für schwul gehalten, weil ich das Mädchen nicht mit reinziehen wollte.

    „Marianne wollte alles, was wir auch wollten."

    „Und heute?"

    Sailor schüttelt den Kopf. „Hab sie seit damals nicht gesehen."

    „Du hast sie reingelegt."

    „Wird wohl so sein, jawohl." Er hat sie reingelegt, ja, aber das ist lange her, und heute geht es um andere Dinge, darum, dass er zurück ins Geschäft kommt, darum, wieder Anzuheuern, und dann wird er einen Teufel tun, das Ruder jemals wieder aus der Hand zu geben, denn es ist der Ort in der Welt, der ihm am meisten von allen taugt.

    „Und, wie heißen Sie?, wendet sich Schleyer an die Frau, die mit den Zigaretten zurück ist. Sie ignoriert seine Frage. „Maria, sagt Schleyer, „ist ein hübscher Name."

    Ihr Handy klingelt. Die Frau gleitet vom Barhocker und holt es aus der Handtasche. Sie zögert und nimmt dann auch die Handtasche an sich. Auf dem Weg nach draußen nimmt sie den Anruf entgegen. Die beiden Freunde sehen sich an. „Du trinkst das Bier aus, sagt Sailor, „dann suchst du dir ein anderes Lokal.

    „Wir waren verabredet, erwidert sein Freund, „und überhaupt, du hast bei solchen Frauen keine Chance.

    „Das Bier, und dann lässt du uns allein, jawohl."

    „Und unser Geschäft, sagt Schleyer, „wir wären wohl kaum hier, wenn du nicht was am Haken hättest.

    „Zigaretten, sagt Sailor, „können warten, und du kannst noch ein paar Tage gärtnern. Seine Stimme transportiert Spott.

    „Es ist ein ehrenhafter Beruf."

    Sailor packt ihn erneut an der Schulter. „König des Laubes. Er spürt, wie sich die Muskeln unter seinem Griff verspannen. „Wer hätte das gedacht?

    „Kann nichts Verkehrtes daran finden."

    „Du machst das, wofür die Leute dich bezahlen, sagt Sailor, „und nennst es ehrenhaft.

    „Was ist mit Fronzek?, weicht Schleyer aus, „und mit dem Dicken? Sein Blick dreht eine Runde durch das Lokal, gerade so, als würde er die beiden suchen. „Und wo übernehmen wir die Ware, komm schon, lass endlich was raus. Er tut jetzt großspurig, aber eigentlich will er von Sailors Geschäften nichts wissen. „Zigaretten, macht er weiter, „die lohnen sich nur im großen Stil. Sailor nickt. „Zwei Container im Monat, und jetzt kannst du rechnen. Schleyer rechnet. In einen Container passen fünfzigtausend Stangen. Eine Stange wirft für den, der sie am Hafen abnimmt, fünf Euro ab. Vorausgesetzt, er findet einen, dem er sie verkaufen kann. Macht Zweihundertfünfzigtausend. Im Monat. „Holland?"

    „Hamburg. Die Chinesen suchen neue Soziusse."

    „Soziusse? Sie wollen mich zu ihrem Sozius machen?"

    „Zum Partner, wenn dir das besser passt."

    „Hört sich weniger gefährlich an, sagt Schleyer, „wie kommt so einer wie du an die Chinesen?

    „Tut jetzt nichts zur Sache." Hamburg behält er für sich. Er wird hinfahren und die Sache klarmachen, und morgen holt er die anderen mit ins Boot.

    „Mafia auch dabei?"

    „Na, ohne die wirst du wohl kaum Geschäfte machen." Sailor beugt sich zu ihm hin. „Du kennst mich. Ich suche mir einen raus, und das ist dann mein Partner, kapiert? Der Rest kann dich

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1