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Paukersterben: Frankfurter Schulkrimi: Kommissar Rauscher 5
Paukersterben: Frankfurter Schulkrimi: Kommissar Rauscher 5
Paukersterben: Frankfurter Schulkrimi: Kommissar Rauscher 5
eBook319 Seiten4 Stunden

Paukersterben: Frankfurter Schulkrimi: Kommissar Rauscher 5

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Über dieses E-Book

Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: "Mord auf Bali" 2006 (Neuauflage 2011), "Lauf in den Tod" 2010, "Der Mann mit den zarten Händen" 2010, "Robin Tod" 2011, "Paukersterben" 2012, "Fliegeralarm" 2013, "Abgerippt" 2014, "Bockenheim schreibt ein Buch" (Hrsg.) 2015, "Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi" Februar 2017, "Ebbelwoijunkie" Dezember 2017, "Frau Rauschers Erbe" 2018 und "Der Apfelwein-Botschafter" 2021. Zudem der Thriller "Rotlicht Frankfurt" 2019.

Eine Schülerin wird vergewaltigt.
Ein Lehrer tot aufgefunden.
Ein Schülervideo zirkuliert im Internet.

Frankfurt-Bockenheim. An der Novalis-Schule herrscht Chaos. Der Frankfurter Kommissar und Apfelweinliebhaber Andreas Rauscher ermittelt im Mordfall Ralf Kramer, allseits beliebter Lehrer der Schule. Er stößt dabei auf eine Schulleiterin, die kurz vorm Herzinfarkt steht, eine Lehrerin, die ihre Liebe nicht in den Griff bekommt, auf Eltern, die sich betrügen, Schüler, die sich mobben, und auf ein Video, das Abgründe offenbart. Doch was steckt wirklich hinter dem Tod des Lehrers? Während Rauscher und sein Team der Mordkommission versuchen, die scheinheilige Fassade zu durchbrechen, setzt sich die Reihe der dubiosen Vorfälle fort und die heile Schulwelt bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
SpracheDeutsch
Herausgebermainbook Verlag
Erscheinungsdatum1. Sept. 2012
ISBN9783944124100
Paukersterben: Frankfurter Schulkrimi: Kommissar Rauscher 5

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    Buchvorschau

    Paukersterben - Gerd Fischer

    dreckig.

    Montag, 27.9.

    1

    Konrad Mertens, Hausmeister der Novalis-Schule in Bockenheim, war allergisch gegen Dreck. Wenn er nichts anderes zu tun hatte, was selten genug vorkam, fegte er den Schulhof, den Parkplatz, die Wege, leerte die Mülleimer und räumte unnützes Zeug beiseite. Außerdem war er für alle Fassaden- und Gartenarbeiten zuständig. Der gesamte Außenbereich, der nicht klein war, war sein Revier. Und das seit über dreißig Jahren. Lehrer und Lehrerinnen kamen und gingen, Direktoren wechselten und jedes Jahr ging ein ganzer Schülerjahrgang ab. Nur er blieb. Er war eine Institution. Und das befriedigte ihn.

    „Picobello", sagte er gern, und damit meinte er seine Schule, die in Bockenheim lag, einem der westlichen Stadtteile Frankfurts, dem Herz Hessens.

    Die heutigen Schüler, empfand Mertens, waren auch nicht mehr das, was sie mal waren. Den meisten war alles egal. Sie warfen wahllos Müll auf den Boden und er musste ihnen hinterher räumen. Wo sie gingen und standen, sah es danach aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Mertens fragte sich oft, wie sie das hinkriegten. ‚Ihr Deiwel‘ nannte er sie für sich, wenn er einen bei einer Schandtat erwischte. Aber er meinte es liebevoll, denn eigentlich mochte er seine Schüler. Nur wenn es um Sauberkeit und Ordnung ging, kannte er keine Freunde.

    Insgeheim war es ihm gar nicht so unlieb, dass sie waren, wie sie waren, denn ansonsten hätte er nur halb so viel zu tun gehabt. Fürs Grobe war schließlich er zuständig. Heute früh zum Beispiel war er wie jeden Tag zur Schule geradelt und hatte vom Rad aus entdeckt, dass es gebrannt hatte. Ein Mülleimer war rußgeschwärzt. Einige verkohlte Fetzen lagen davor. Seine Nackenhaare hatten sich sofort aufgestellt. Es tat weh. Er fühlte tatsächlich so etwas wie körperlichen Schmerz, wenn er das mit ansehen musste. Das war wie eine Beleidigung für ihn und sein Ordnungsempfinden bekam eins über die Rübe.

    Sie hatten alles Mögliche probiert: Anzeigen, Sicherheitsdienst, Nachtwächter. Aber die Schüler oder andere Krawallmacher und Rabauken waren nicht in den Griff zu kriegen. Es gab einfach zu viele. Sie konnten ihrer nicht Herr werden.

    Für heute hatte Mertens sein Pensum bereits überschritten. Er war ja nicht mehr der Jüngste, hatte das eine oder andere Kilo zu viel auf den Rippen und das Säubern des Mülleimers, mit gefletschten Zähnen, hatte ihn Kraft gekostet.

    Dennoch nahm er sich nun den Parkplatz vor. Seine eigentliche Aufgabe für den Vormittag. Die Büsche und Hecken mussten zurückgeschnitten werden, das Grünzeug weggebracht und dann musste er, wohl oder übel, fegen. Er musste es erledigen, sonst würde er nachts kein Auge zubekommen. Es war kurz nach zehn. Um eins wollte er durch sein und seinen freien Nachmittag genießen. Er nahm sich vor, dem Kiosk am Weingarten einen Besuch abzustatten und eine Flasche Ebbelwoi – oder auch zwei –mitzunehmen.

    Konrad Mertens stand gerade auf der Leiter und schnitt Äste, als er einen Aufschrei hörte, anschließend ein dumpfes Geräusch und Trippelschritte.

    Er setzte die Heckenschere ab und blickte sich um, aber es war niemand zu sehen. Dann meinte er ein Stöhnen zu hören oder ein Wimmern, als sei jemand gefallen und habe sich weh getan.

    Er entschied nachzusehen. Auf Leitern klettern und wieder absteigen gehörte wahrlich nicht zu seinen Lieblingsaufgaben, zu beschwerlich und mühsam war es, die Knie machten nicht mehr mit und diese verdammte Schwerkraft zog mächtig, schließlich musste der robuste Leib hinauf und hinab bewegt werden.

    Er kam heil auf den Pflastersteinen an und wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn. Puhhhh, die Hitze machte ihm schwer zu schaffen. Unnatürlich heiß für Ende September. Sein Biorhythmus hatte sich längst auf Herbst und ruhige Tage eingestellt.

    Er legte sämtliche Gerätschaften und Werkzeuge auf einen Haufen, spähte umher und legte eine Hand ans Ohr wie eine Muschel. Nichts zu hören. Hatte er sich getäuscht? War er mittlerweile senil? Nahm er Sachen wahr, die es nicht gab? Das konnte und wollte er nicht glauben und ging weiter, um sich zu überzeugen.

    Vom Parkplatz führte ein Weg zum Schulhof. Die Umgebung war nicht einsehbar, hohe Hecken, dichte Büsche und großblättrige Bäume verhinderten einen guten Blick. Das viele Grün mochte er, es war nicht so trostlos grau wie an anderen Schulen der Stadt.

    Mertens bog auf den Weg ein und bewunderte die Sauberkeit. Sein Herz schlug höher. Lediglich ein Stück Silberpapier, die Verpackung eines Schokoriegels, störte sein Empfinden. Er hob es auf und steckte es in die Tasche seines Blaumanns. Zufrieden konzentrierte er sich wieder.

    Doch je weiter er ging, desto unsicherer wurde er. Da war was. Er hatte sich nicht getäuscht, hielt die Hand an den Mund und rief: „Hallo. Is da wer? Ein Vogel antwortete mit Zwitschern, doch das war nicht das, worauf Mertens gehofft hatte. Also rief er wieder: „Hallo. Kann isch helfe?

    Er setzte einen Fuß vor den anderen und ihm wurde etwas mulmig. Es war keine Angst, die er verspürte, aber dennoch packte ihn ein sonderbares Gefühl.

    Langsam und bedächtig ging er weiter und hielt die Augen offen. Immer noch war niemand zu sehen. Der Weg machte eine kleine Kurve, durch die er ging, bevor etwas durch die Büsche schimmerte. Dort lag etwas. Auf dem Boden. Es war rot und blau. Mertens rückte seine Brille zurecht, schlich weiter und reckte seinen Hals um die Ecke. Seine Augen weiteten sich. Er erkannte einen Kopf mit blonden Haaren, einen leblosen Körper und starre Augen. Blut blubberte aus einer Wunde. Ein Schrei verpuffte in Mertens‘ Hals.

    2

    Es war schon fast Mittag als Kommissar Andreas Rauscher von der Frankfurter Mordkommission den Schulhof seiner alten Schule betrat. Das erste Mal nach neunzehn Jahren.

    Er fühlte sich sofort jünger. Erinnerungen schwappten hoch und hinterließen eine Gänsehaut. Am letzten Tag vor den großen Ferien zwischen der achten und neunten Klasse hatte er hinter der Turnhalle zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Anja hieß sie. Oder Anne? Er erinnerte sich noch an ihre rosigen Wangen und den Geschmack von Hubba Bubba-Erdbeer. Nach den Ferien hatte sie einen anderen geküsst.

    Rauscher schaute sich um. Die Novalis-Schule hatte sich verändert. Die Gebäude waren älter, die Bäume höher, die Schüler größer geworden. So kam es ihm jedenfalls vor. Das Hauptgebäude, in dem die Verwaltung und das Lehrerzimmer untergebracht waren und in dem sich die Aula befand, ragte empor wie eh und je. Säulen zierten den Eingang, die Tür wirkte majestätisch. Es vermittelte den Eindruck einer Einrichtung für klassische Bildung. Rauscher deutete auf den großen Schulhof, den sie gerade hinter sich gelassen hatten.

    „Den Basketballkorb gab’s damals noch nicht", sagte Rauscher zu Jan Krause, Kommissar in seinem Team, der einen braunen Teint aus seinem zweiwöchigen Dänemarkurlaub auf Bornholm mitgebracht hatte. Und auch die eine oder andere Sommersprosse.

    Sie liefen weiter Richtung Parkplatz. „Dafür hatten wir einen Bolzplatz mit Toren. Meine glorreichen Zeiten. Drei Dinger hab ich jede Pause gemacht." Krause schüttelte den Kopf.

    „Wie ich diese Glorifizierung vergangener Zeiten liebe, ne! Schau dich doch mal an: Heute hast du zehn Dinger zu viel ... also Kilo natürlich." Rauscher boxte ihm auf den Oberarm.

    „Erzähl nicht so einen Mist!"

    „Na gut, dann halt neun." Er grinste und lief schneller, um Rauschers Schlägen zu entkommen.

    Die Szene, die sie dann sahen, holte sie schlagartig auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie steuerten auf eine Gruppe Menschen in weißen Overalls zu. Die Spurensicherung, allen voran Wolfgang Andres, ging bereits ihrem Job nach. Andres sah die beiden Kommissare und sagte: „Das Opfer heißt Ralf Kramer."

    Rauscher ging um den Toten herum. Er lag bäuchlings in einer Blutlache auf einem Steinweg, der den Lehrerparkplatz mit dem Schulgelände verband. Hohe Büsche und dichte Bäume säumten den Weg, der von rechts und links nicht einsehbar war. Ideale Stelle, dachte Rauscher.

    Ein Mann im Blaumann, graue Schläfen und Oberlippenbart, stand etwas abseits und rief: „Unser Vertrauenslehrer, gell!".

    Rauscher drehte sich zu ihm und blickte ihn an. Von der anderen Seite kam Karsten Quast angelaufen. „Vertrauen ist ein großes Wort", rief der Gerichtsmediziner und Pathologe in die Runde.

    „Wer ist denn der Mann mit Schnauzer?", fragte Rauscher.

    „Konrad Mertens, der Hausmeister, antwortete Andres. „Hat den Toten entdeckt.

    „Aha, nickte Rauscher, „mit ihm spreche ich gleich.

    „Wo darf ich anfangen?", fragte Quast, packte seine Handschuhe aus und zog sie über. Andres lotste ihn an die Seite des Opfers.

    „Ein Einstich auf dem Rücken. Von der Tatwaffe fehlt bislang jede Spur. Sieht so aus, als sei der Täter von hinten gekommen und Kramer auf dem Bauch gelandet."

    „Na, dann haben wir ja schon das Täterprofil, meinte Quast, „ein mieses, feiges Schwein! Irgendwelche Einwände? Krause erhob seine Stimme: „Kannst du ungefähr sagen, wie lange er schon da liegt?" Quast ging in die Knie und inspizierte Augen und Haut des Toten.

    „Genau nicht, aber der rigor mortis ist noch nicht voll ausgeprägt, also sicher keine sechs Stunden."

    „Der was?", fragte Krause.

    „Die Leichenstarre, antwortete Rauscher, „kannst mich auch Cäsar nennen! Krause zeigte ihm einen Vogel.

    „Würden die Herren Kommissare bitte langsam ernst werden?, stöhnte Quast und sprach weiter: „Ich kann keine Kampfspuren ausmachen. Scheint sich nicht gewehrt zu haben. Oder anders ausgedrückt: Er ist eiskalt erwischt worden.

    „Hinterrücks erstochen, Krause pfiff durch die Zähne. „Wer macht sowas? Und vor allem am helllichten Tag auf einem Schulgelände.

    „Übrigens, die gehört ihm, schaltete sich Andres wieder ein. Er hielt eine Ledertasche hoch. „Handy und Terminkalender sind drin. Werden wir sofort checken. Außerdem ein Satz Klassenarbeiten. Deutsch, neunte Klasse. Ein Raubmord ist sehr unwahrscheinlich, denn sein Portemonnaie steckt noch in der Hose. Ebenso sein Schlüsselbund. Am Finger trägt er einen Ring, der offensichtlich ein paar Euro gekostet hat.

    Rauscher nickte, umrundete die Leiche, betrachtete sie aus allen Perspektiven und ging in die Knie. Die Einstichstelle war deutlich zu erkennen.

    „Meinst du, er war sofort tot?"

    „Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Quast legte den Kopf etwas schief, als denke er darüber nach. „Sieht jedenfalls so aus, als habe der Täter ziemlich gut getroffen.

    Auf den ersten Blick schien der Tote unerwartet seiner irdischen Existenz beraubt worden, sein Gesicht wirkte, als sei er sich keiner Schuld bewusst. Rauscher nahm seine Jeans und sein blutbespritztes Sweat-Shirt, unter dem ein Hemdkragen hervorschaute, in Augenschein. Markenware, gebügelt und gepflegt. Der Tote war auffallend blond, glattrasiert, die Haut schien eingecremt und sein Haar vor nicht allzu langer Zeit einen Friseur gesehen zu haben. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, hier ein Exemplar der Sorte Muttersöhnchen oder auch idealem Schwiegersohn vor sich zu haben.

    „Sieht aus, als könne er kein Wässerchen trüben, sagte Rauscher. Ihm fiel auf, dass der Tote mit dem Kopf Richtung Parkplatz lag. Konnte nur bedeuten, dass er ans Auto wollte. Es sei denn: „Wurde der Mann gedreht?

    „Auf den Bauch?", fragte Quast.

    „Nein. Ich meine, kann es sein, dass sein Kopf erst Richtung Schulhof lag."

    „Theoretisch ja, aber die Spuren deuten nicht darauf hin. Und die Kleidung ist auch nicht verrutscht oder eingerissen." Wollte er wegfahren, fragte sich Rauscher. Hatte er keinen Unterricht?

    In diesem Moment durchbrach ein Schrei die Stille. Im ersten Stock des Hauptgebäudes war eine Frau ans Fenster getreten:

    „Herr Mertens, kommen Sie schnell. Frau Adam ist zusammengebrochen. Der Notarzt ist verständigt. Kommen Sie, kommen Sie schon!"

    „Die Direktorin, sagte Mertens in fragende Gesichter. Rauscher erhob sich und wandte sich an Quast: „Karsten, kannst du nach ihr schauen?

    „Bin für die Toten zuständig!", raunzte der Pathologe und maß Kramers Temperatur.

    Rauscher gab sich einen Ruck, folgte dem aufgeregt davoneilenden Hausmeister und hatte Mühe, Schritt halten zu können.

    3

    In der dritten Stunde hatten sie Deutsch. Frau Huber, die Deutschlehrerin, war noch nicht erschienen. Karlas feine Freundinnen standen im Kreis vor dem Klassenraum und warteten. Jeanette hatte heute Klunkertag. An jedem Finger trug sie Ringe mit bunten Steinen. Außerdem schmückte ein kleines Krokodil sowohl ihr Polo-Shirt als auch ihre Sneaker. Lisa trat heute bauchfrei und wasserstoffblond auf. Manchmal dachte Karla, sie wechselte öfter die Haarfarbe als ihre Slips. Alexa schien die einzig Normale, allerdings war auch sie gut zu erkennen. Ständig tippte sie auf dem Handy herum und ein Kaugummi ploppte vor ihrem Mund.

    Karla trat erst zögerlich, dann zielstrebig hinzu, stellte sich in die Runde und tat, als sei nichts geschehen.

    Eisiges Schweigen.

    Keine ihrer Freundinnen traute sich, sie anzuschauen. Sie blickten verstohlen zu Boden oder in die Luft. Lisa kramte in ihrer Handtasche herum. Alexa verschickte mehrere SMS und ließ einen Song von Lady Gaga laufen. Jeanette tuschelte mit Lisa, sie vermieden jeden Blick in Karlas Richtung.

    Karla blieb still, in sich gekehrt. Sie spürte im Unterleib einen leichten Druck. Ein ungewohntes Gefühl wie beim Blutdruckmessen, wenn das Ding aufgepumpt wird. Nur nicht so fest. Karla meinte, Erics Geschmack noch im Mund zu haben, obwohl sie ihn mehrfach ausgespült hatte. Außerdem erinnerte sie sich an das feuchte Kondom. Und an das, was sie gefühlt hatte. Warum war sie feucht geworden? Im Sexualkundeunterricht hatte sie gelernt, dass Frauen feucht werden, wenn sie erregt sind. Hatte sie die Situation erregt? Es war ihr unangenehm, das merkte sie, aber andererseits hatte sie in einem Girls-Forum gelesen, dass Frauen Sex nur genießen konnten, wenn sie richtig feucht sind. Sie verdrängte den Gedanken und fixierte die Gesichter ihrer Freundinnen.

    Mehrere Mitschüler liefen an ihnen vorbei in den Klassenraum oder hinaus, tollten herum. Wie immer. Sie ahnten nicht, was passiert war. Wie sollten sie auch?

    Plötzlich hörte sich Karla sagen: „Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Ihre Stimme klang ruhig und gleichmäßig. Die Worte kamen wie automatisch über ihre Lippen, waren nicht zu stoppen. Einen Augenblick bereute sie, überhaupt etwas gesagt zu haben. Doch als sie ihre besten Freundinnen anblickte, war sie froh darüber. Jeanette lief rot an und stöhnte so laut, dass es ihr kurz darauf peinlich war und sie verlegen wegschaute. Alexa tippte auf ihrem Handy herum, bis ein Song von Usher begann, und fing plötzlich hysterisch an zu lachen. Lisa boxte Karla auf den Oberarm und verzog ärgerlich das Gesicht, bevor sie sagte: „Ey, deine schmachtenden Blicke waren echt nicht länger zu ertragen, besonders die zum Kramer. Sie gickelte wie ein Huhn beim Eierlegen. Karla zögerte, rang sich dann aber doch eine Antwort ab: „Warum hat es Eric dir nicht besorgt? Trauste dich nicht?" Sie konnte einen Moment nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte, merkte aber, dass ihre Worte nicht schlecht gewählt waren. Lisas Mund stand offen.

    „Fandstes etwa nicht geil?", platzte Lisa heraus.

    „Obergeil, könnt´ schon wieder, erwiderte Karla, was Lisa umso mehr erboste: „Föhn hier nicht so rum, okay?

    In diesem Moment hielt es Alexa offensichtlich nicht länger aus, drehte sich auf dem Absatz herum und rannte davon, die Treppe hinunter. Sie sahen erschrocken hinterher. Jetzt waren sie noch zu dritt.

    Täuschte sie sich oder standen Jeanette Schweißperlen auf der Stirn? Und bei Lisa? War das eine kleine Träne im Augenwinkel? Ihre besten Freundinnen schienen mit der Sache nicht klar zu kommen. Na wartet, dachte Karla, dafür werdet ihr bezahlen. In diesem Moment schoss Frau Huber um die Ecke und trieb sie in den Klassenraum. „Wie oft soll ich euch noch sagen, dass ihr drinnen warten sollt und nicht davor? Setzen, los! Wo ist Alexa?"

    „Weggerannt", rief Jeanette von hinten. Frau Huber zuckte mit den Achseln, tat etwas pikiert und fummelte mit der rechten Hand in ihrem modernen Pagenschnitt, der sich mit dem Rest gar nicht vertrug, denn ihr Klamottenstil, braunes Kleid mit angedeuteten Rüschen, war nicht mehr der Frischeste. Besonders der lange gerade Pony, der zart zur Seite geföhnt war, hätte einer 20-jährigen gut gestanden. Bei Frau Huber wirkte er deplaziert. Oder anders ausgedrückt: Die Friseurin hatte sie wohl letzten Samstag überredet, sich mal was zu trauen, dabei aber vergessen, dass Frau Huber keine Modeberaterin an der Hand hatte, die ihren gesamten Stil aufhübschen und erneuern würde.

    Völlig verpeilt, die Frau Lehrerin, dachte Karla, wie immer halt. Sie grinste, saß auf ihrem Platz und versuchte, ihre Umgebung auszublenden. Andauernd musste sie an Eric denken. Und an das Video. Verflixt, das hatte sie ganz vergessen. Sie musste an Lisas Handy herankommen.

    Kai, ein Mitschüler, der immer eine Basecap trug und am Fenster saß, holte sie aus ihren Gedanken: „Hey, da unten ist die Polizei. Die sperren den Weg zum Parkplatz ab. Im Nu sprangen alle auf und schauten hinaus, bis auf Karla. Frau Huber fuchtelte wild mit den Armen und rief immer wieder: „Setzen! Sofort setzen! Niemand scherte sich darum. Nils, der schmächtigste unter den Jungs, deutete mit dem Finger auf mehrere Männer in weißen Overalls: „Das ist die Spurensicherung. Scheiße, Mann. Die kommen doch nur, wenn es ein Verbrechen gegeben hat. Da unten muss ein Tatort sein." Frau Huber postierte sich in zweiter Reihe und wollte ebenfalls einige Blicke aus dem Fenster erhaschen.

    „Beruhigt euch, bitte. Ich werde sofort nachfragen, was da los ist. Sie lief kopfschüttelnd hinaus. „So kann ich doch keinen Unterricht halten!

    In der Zwischenzeit hatte Karla einen Zettel geschrieben und ihn auf Jeanettes Handy gelegt. Sobald sie es in die Hand nahm und anschaltete, würde sie ihn entdecken. Er enthielt nur eine Zeile: „Geiler Typ! Lass es dir auch von ihm machen!"

    4

    „Umgekippt..., sagte eine Frau, „...als ich ihr eben von Kramer erzählt habe. Ihre Haare waren hochgesteckt, ihr Gesicht kreidebleich. Rauscher schätzte sie auf Anfang 50.

    „Und wer sind Sie, bitte?", wollte er wissen und sah sie mit forschendem Blick an. Er ließ seine Augen über eine wohlproportionierte Figur wandern, die in einem klassischen beigen Kostüm steckte. Ein Hauch Jil Sander Woman schwebte ihm in die Nase.

    „Helga Fried, die Schulsekretärin. Die Frau setzte sich auf einen Stuhl, fächelte sich mit einer Zeitschrift Luft zu und schaute sorgenvoll zu ihrer Chefin. „Die Direktorin hatte heute früh einen Termin außer Haus und ist später gekommen. Und Herr Mertens war so freundlich, uns gleich zu informieren, nachdem er die Polizei verständigt hatte. Das hat Frau Adam wohl nicht verkraftet.

    Die Schulleiterin lag auf einem Sofa in ihrem Büro. Ein nasses Handtuch lag auf ihrer Stirn. Sie hielt die Augen geschlossen. Ein junger Mann mit kurzen braunen Haaren kümmerte sich um sie. Als Rauscher ihn sah, trat er näher.

    „Herr ...?"

    „Arnold, sagte er, „Englisch und Deutsch-LiV.

    „Deutsch was?"

    „LiV, die Abkürzung für Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst. Hieß früher Referendar."

    „Ach so. Andreas Rauscher, Mordkommission", stellte er sich vor. Er schätzte Herrn Arnold auf Ende 20 und wunderte sich, wie leichenblass er war. Entweder hatte Frau Adams Zusammenbruch ihm das Blut aus dem Gesicht weichen lassen oder er war anämisch.

    „Kennen Sie sich medizinisch aus, Herr Arnold?"

    „Nicht professionell, aber ich habe mehrere Erste Hilfe-Kurse gemacht. So `ne Art Tick von mir."

    „Und können Sie was sagen?"

    „Ist nur der Kreislauf. Wäre aber gut, wenn bald jemand käme."

    Herr Mertens blieb im Hintergrund und ließ den angehenden Lehrer machen.

    „Haben Sie jemanden gesehen auf dem Parkplatzweg?, wandte sich Rauscher an den Hausmeister. „Wegrennen zum Beispiel.

    „Nee!"

    „Oder irgendwas beobachtet?"

    „Isch hab nur mei Hegge geschnidde." Rauscher hörte von weitem den Notarztwagen und war erleichtert, dass Frau Adam endlich medizinische Hilfe bekommen würde. Er ging zum Fenster, blieb stehen, strich sich durch die kurzen schwarzen Haare und ließ seinen Blick schweifen. Auf dem Areal um den Parkplatz hantierte noch die Spurensicherung. Die Stelle war mittlerweile weiträumig abgesperrt. Auf dem Schulhof tummelten sich ein paar Schüler und versuchten einige Blicke zu erhaschen. Ansonsten war niemand zu sehen.

    Verrückt, dachte er, nach neunzehn Jahren hatte er zum ersten Mal wieder seine alte Schule betreten und ausgerechnet wegen eines Mordfalls. Er nahm den Geruch wahr, der in den Räumen hing und der, so glaubte er jedenfalls, sich nicht im Geringsten verändert hatte. Muffig und abgestanden. Das alte Gebäude hatte nicht nur sein Äußeres bewahrt. Die hohen, kalten Räume. Die Leere. Außer ein paar Regalen und einem Schreibtisch stand nichts im Büro der Schulleiterin. Auf dem Schreibtisch hielt er vergeblich Ausschau nach einem Familienbild oder einem Foto ihres Ehemannes. Überhaupt wirkten der Raum und die Einrichtung sehr unpersönlich. An der Wand hingen exakt dieselben drei Gemälde wie früher. Die Bockenheimer Warte, als sie noch Straßenbahndepot war. Die Novalis-Schule beim 50-jährigen Jubiläum und der Fernsehturm, der inmitten eines Häusermeeres emporragte.

    Alles war wie früher. Und doch war alles anders.

    5

    Frau Huber ließ auf sich warten. In der Klasse herrschte neugierige Anspannung. Polizei in der Schule kam nicht jeden Tag vor. Die Blässe in einigen Gesichtern deutete Unsicherheit an. Manchen schien es etwas flau im Magen zu sein. Andere überspielten ihre Gefühle, indem sie wild durch den Klassenraum rannten und herumschrien. Einer schrieb das Wort „PolizeiPussy" an die Tafel und lachte über seinen Einfall. Eine Schülerin wischte es mit dem Schwamm ab und zeigte ihm voller Empörung einen Vogel.

    Als Jeanette den Zettel auf ihrem Handy las, weiteten sich ihre Augen, doch dann verengte sie sie zu Schlitzen. Sie blickte Karla an, zerriss den Zettel, erhob sich und warf die Reste in den Papierkorb. Mit den Händen in den Taschen schlenderte sie durch die Reihe bis vor Karlas Platz und blieb direkt vor ihr stehen.

    Karla schaute hoch und lehnte sich entspannt zurück.

    „Hey, sagte Jeanette, „wir dachten echt, du freust dich.

    „Spitzenidee von euch, hörte sich Karla sagen. „Kurz und schmerzlos. Shit, dachte sie sofort danach, der Satz war danebengegangen. Sie wollte sich möglichst cool geben, aber es war misslungen. Darum fügte sie an: „Daran könnte ich mich gewöhnen." Sie zwinkerte mit den Augen.

    „Sag mal, spinnst du jetzt?, fragte Jeanette. „Mach bitte kein Drama daraus.

    „Soll ich mich etwa bei euch bedanken?"

    „Warum nicht? Irgendwann musste es ja passieren." Karla schüttelte den Kopf. So einfältig konnte Jeanette nicht sein. So ganz ohne Gefühl. Nein, das war nicht ihre Freundin. Oder hatte sie sich so in ihr und den anderen getäuscht?

    „Stimmt!, beeilte sie sich deshalb zu sagen. „Aber wann, wo und vor allem mit wem hätte ich mir gerne selbst ausgesucht. Ihr seid keine Freundinnen, ihr seid Scheiße!

    Karla stand auf, spuckte vor ihr auf den Boden, machte kehrt und ging. Draußen holte sie ihr Handy aus der Tasche und tippte eine SMS an Dennis, der seit einem Jahr auf sie stand. Treffen halb eins unter dem Lindenbaum. Wäre doch gelacht, wenn er ihr nicht helfen würde.

    6

    Rauscher überlegte, wo er ansetzen sollte. Er fragte die Sekretärin, ob es möglich sei, alle Lehrer per Lautsprecher ins Lehrerzimmer zu beordern.

    Frau Fried ging zu Frau Adam und wechselte einige Worte mit ihr. Kurz darauf stand die Sekretärin vor Rauscher: „Wir geben den Schülern frei und rufen die Lehrer im Lehrerzimmer zusammen. Dauert nicht lange." Sie ging in den Nebenraum und keine Minute

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