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Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind: Kriminalroman
Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind: Kriminalroman
Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind: Kriminalroman
eBook520 Seiten6 Stunden

Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Auf dem Friedhof eines ostwestfälischen Dorfes werden zwei Kinder tot aufgefunden. Ein langes Wochenende steht bevor, das fünf Frauen nutzen, um ihr 30-jähriges Abitur-Jubiläum zu feiern. In zahlreichen Rückblicken, vor allem in die Siebziger und Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wird ihre gemeinsame Geschichte erzählt. Aber was hat der gemeine Dorfzickenterror
mit den beiden Morden zu tun?
Das Ermittler-Duo Keller und Kerkenbrock machen sich auf die Suche, lüften Geheimnisse, sitzen Irrtümern auf und begegnen ungewöhnlichen Menschen, um am Ende einer verstörenden Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Kellers und Kerkenbrocks 2. Fall im Kreis Minden-Lübbecke
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Juni 2016
ISBN9783738074215
Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind - Cristina Fabry

    Prolog

    „Jetzt lass ich dich da oben verhungern!", krakeelte der große Junge und sie glaubte ihm, denn er war viel größer und schwerer als sie und sie hatte keine Chance von der riesigen Wippe herunter zu klettern.

    „Is' doch langweilig., maulte das große Mädchen von unten. „Wieso spielen wir nicht woanders?

    „Au ja, ich weiß was!", rief der Junge und stieg so schnell von der Wippe, dass sie krachend hinunter sauste. Es fühlte sich so an, als würde alles in ihrem Bauch von unten nach oben bis in den Kopf gedrückt.

    „Los, wir klettern auf den Heuboden!", rief er.

    „Wie denn?", fragte das große Mädchen.

    „Über die Schweinewaage. Ich mach Räuberleiter für dich. Vom Dach aus kriechen wir unters Scheunendach und dann sind wir schon oben."

    „Und die Kleine?"

    „Na, dann nehmen wir die eben mit."

    „Ich darf aber nicht aufs Dach klettern."

    „Egal. Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen. Müssen wir eben leise sein."

    Die großen Kinder schnappten sie. Ihre Beine zitterten noch vom Wippen-Absturz, sie wollte nicht klettern, hatte Angst, herunter zu fallen. Doch alles ging so schnell: Mit der Räuberleiter half der große Junge dem großen Mädchen aufs Dach, dann hob er das kleine Mädchen hoch und das große Mädchen zog an ihren Händen.

    „Los, streng dich mal ‘n bisschen an!", keuchte der Junge. Das kleine Mädchen gab alles. Sie war es nicht gewohnt, Widerstand zu leisten.

    Schließlich krochen die Kinder zwischen dem Bitumen-gedeckten Dach der Schweinewaage und dem Überstand des Scheunendachs auf den Heuboden. Hier war es ein bisschen unheimlich, aber auch gemütlich. Die Heuballen dämpften jedes Geräusch, durch die kleinen Giebelfenster drang nur ein Bruchteil des draußen gleißenden Sonnenlichts ein, die Luft war dämmrig, staubig und duftete nach Sommerhitze. Das kleine Mädchen war aufgeregt, beeindruckt von der eigenen Leistung, an so einen spannenden Ort gelangt zu sein. Sie plapperte mit lauter Stimme drauf los: „Hier können wir klettern und von oben ins Heu springen oder ein Sofa bauen." Sie hüpfte begeistert wie ein Gummiball.

    „Sei still!, zischte der große Junge. „Wenn die Großen uns hören, werden wir erwischt und dann verkloppt Mama mich mit dem Teppichklopfer.

    „Unser Papa macht das bei mir immer mit der Zeitung.", erwiderte das große Mädchen.

    „Wenn ich sie von Papa kriege, sagte der Junge, „nimmt er seinen Gürtel. Oder er haut mich einfach mit der Hand.

    Das kleine Mädchen machte große Augen, die älteren Kinder waren ihr unheimlich. Sie wollte von diesem Ort verschwinden. Ihre Beine begannen wieder zu zittern, aber irgendetwas hinderte sie daran, ihren Wunsch laut auszusprechen. Stattdessen fragte sie: „Was spielen wir denn jetzt?"

    „Pssst!, machte der Junge, dann flüsterte er: „Wir spielen Zirkus. Ich bin der Pferdebändiger und du bist das Pferd. Und da ist der Direktor. Er zeigte auf das große Mädchen. Die rückte einen Heuballen auf die freie Fläche und flüsterte: „Meine Damen und Herren, hier kommt die Pferdenummer!"

    Der Junge sah sich um und entdeckte zwei Stricke aus Hanf. Den einen band er dem kleinen Mädchen um den Hals, so dass sie praktisch an der Lounge lief, den anderen setzte er als Peitsche ein. „So Pferdchen, zischte er, „immer schön im Kreis laufen. Er stellte sich auf den Heuballen und peitschte mit dem kurzen Strick auf den Boden. Das kleine Mädchen lief im Kreis, als ginge es um sein Leben. Sie sagte sich, dass dies sicher nur ein lustiges Spiel sei und lachte hysterisch. Dann traf sie der peitschende Strick auf dem Rücken. Ihr Lachen erstarb. Das große Mädchen sagte: „Du hast sie getroffen. Mit der Peitsche."

    „Na und?, erwiderte der Junge. Dann zog er an der Lounge und machte „Brrr.

    Das kleine Mädchen blieb stehen. Sie rang nach Luft, hustete und griff sich an den Hals. Das große Mädchen sprang herbei und lockerte die Schlinge. „Braves Pferdchen.", beruhigte sie sie.

    „Jetzt lassen wir das Pferdchen springen., flüsterte der Junge. „Los, nimm Anlauf und dann spring über den Heuballen!

    Das kleine Mädchen nahm Anlauf, sprang ab, blieb aber mit dem linken Fuß am Heuballen hängen und stürzte mit dem Gesicht zuerst ins trockene Heu. Die Schlinge hatte sich wieder zugezogen und die reduzierte Luft, die sie durch die verengte Luftröhre einatmete, war staubig und stickig. Mit letzter Kraft entfuhr ihr ein panischer Aufschrei. Der Junge schwang die Peitsche, einmal auf den Rücken, einmal auf die nackten Beine.

    „Du sollst sie nicht hauen!", rief das große Mädchen.

    „Wenn ich sie haue, ist sie still.", rechtfertigte der Junge sich, eilte zu dem kleinen Mädchen, lockerte die Schlinge um den Hals und fasste sie unter die Achseln, um sie wieder auf die Beine zu stellen. Er baute sich vor dem kleinen Mädchen auf und schlug ihr mit dem Strick von vorn auf die Beine. Sie wimmerte.

    „Jetzt springst du nochmal, Pferdchen.", flüsterte der Junge mit eiskalter Stimme und seine Augen funkelten bedrohlich. Sie waren groß und eisblau und das kleine Mädchen hatte trotz der Sommerhitze das Gefühl, unter diesem Eisesblick zu erfrieren.

    „Wenn du es wieder nicht schaffst, wisperte der Junge, „kriegst du den Strick gleich nochmal vor die Beine. Los!

    Er peitschte auf den Boden und das kleine Mädchen nahm verzweifelt Anlauf. Diesmal schaffte sie den Sprung. „Guckt mal, ich kann's, ich kann's!, plapperte sie, „Gar nicht so schwer, ich muss bloß üben, dann...

    Diesmal traf der Strick sie mitten im Gesicht. Sie sah etwas aufblitzen und als sie die schmerzende Lippe leckte, schmeckte sie Blut.

    „Da kommt einer!", zischte das große Mädchen.

    „Los, weg hier!, flüsterte der Junge. Er packte das kleine Mädchen und sagte: „Du gehst jetzt ins Rattenloch und machst keinen Mucks. Wenn doch, kommen die Ratten und fressen dich. Wir holen dich nachher. Er schob das kleine Mädchen mit dem Kopf zuerst in eine Lücke in der Wand aus Heuballen und deckte die Hüften und Beine, die immer noch heraus sahen, mit losem Heu zu. Dann verschwand er mit dem großen Mädchen über das Dach der Schweinewaage.

    Mittwoch 25. Mai 2016

    Sigrid Röthemeier zog ein letztes Mal mit der Harke über die krümelige Grab-Erde. Sie war heute Nachmittag schon auf dem Hiller Friedhof beim Grab ihrer Eltern gewesen, jetzt sah auch das Grab der Schwiegereltern für den Feiertag tip top aus. Vor der Hecke, die den Friedhof umgab, heulte ein Motorrad auf. „Manche Leute haben einfach keinen Respekt.", dachte sie. Sie versteckte die harke im unteren Bereich der Hecke, wie das fast alle auf dem Nordhemmer Friedhof taten. Dann entschloss sie sich zu einem kleinen Rundgang zur Entspannung. Es war ein heißer Tag. Nur ein leichter Windhauch strich durch die Büsche. Vor ein paar Jahren hätte er die Zweige und Blätter der riesigen Baumkronen bewegt. Fast neben ihrer Grabstelle hatte eine beeindruckende Rotbuche gestanden, aber auch fünfzigjährige Birken, Schiffsmast-lange Kiefern und eine fruchtreiche Wildkirsche hatten dem kleinen Dorffriedhof den Charakter eines altehrwürdigen Schlossparks verliehen. Den Mittelpunkt bildete ein Betonkreuz in vermeintlicher Golgatha-Originalgröße, abgestützt von einer oxidierten Eisenstange und umgeben von violetten und gelben Stiefmütterchen in krümeliger, schwarzer Grab-Erde. Die dichten Eiben-Hecken in Kniehöhe, die die Grabstellen vom Weg und voneinander abgrenzten, erinnerten erst recht an einen klassischen Barockgarten. Aber das Abholzen der Bäume hatte die wildromantische Idylle in ein flurbereinigtes, ostwestfälisches Gräberfeld verwandelt. Die Bäume hatten ihren Tribut gefordert: Ein Mann war beim Fällen der Rotbuche gestorben. Als sein Kolleg sich abmühte, die verkeilte Kettensäge aus dem Stamm zu reißen, landete das Werkzeug in seinem Unterleib und ließ ihn innerhalb weniger Minuten verbluten. Jedes Mal, wenn Siegrid Röthemeier den Baumstumpf ansah, ließ sie die Erinnerung an dieses Ereignis erschaudern.

    Sie schlenderte die fein geschotterten Wege entlang, vorbei an sehr alten Grabsteinen, aber auch an frischen Gräbern. In der Mitte des Friedhofs war heute das Grab für Gisela Wiebeking ausgehoben worden. Sie hatte ihren Mann nur um zwei Jahre überlebt, er war 2014 brutal ermordet worden und nun saß ihr Sohn Heiko allein auf dem Hof. Nachdenklich blieb Siegrid Röthemeier allein vor dem Grab stehen. Die neben der Öffnung aufgeschichtete Erde wirkte irgendwie unordentlich, keine klare Silhouette wie normalerweise. „Welcher Schlunz war denn da am Werk?, dachte sie. „Hat der die Grube überhaupt ordentlich ausgehoben?

    Sie stieg über die Hecke und sah ins offene Grab. Sie glaubte nicht, was sie da sah, es war zu entsetzlich. Aber als müsste sie sich jede Sekunde selbst überzeugen, dass sie keiner Sinnestäuschung aufgesessen war, schaffte sie es nicht, den Blick abzuwenden. Zwei wie weggeworfen, verrenkte, blutverschmierte Körper lagen in der Grube. Ein Junge und ein Mädchen. Sie schrie und weinte, zitterte und schrie von neuem, bis ihr nach einer Ewigkeit Anneliese Gieseking und Ilse Buhrmester zur Hilfe eilten – um dann selbst vor Fassungslosigkeit zu erstarren.

    Anneliese Gieseking war die erste, die es wieder schaffte, klar zu denken. Sie lief zum Parkplatz, um nach Hause zu fahren und die Polizei zu informieren. Zum Glück traf sie an der Pforte Kerstin Gudat, die ein Mobiltelefon dabei hatte. Nun hielten alle vier Frauen Wache am Grab und warteten auf die Polizei. Anneliese Gieseking sagte: „Das sind, glaube ich, Tiemanns Nele und Borcherdings Sören."

    „Von Borcherdings von der Besenstraße?", fragte Ilse Buhrmester mit bebender Stimme.

    „Ja, von dem Thorsten, aber der hat ja Schlüters Heike aus Buschhausen geheiratet und die haben doch da auf unserem Land gebaut. In den Eichen heißt das doch jetzt."

    „Ich hätt' die beiden nicht erkannt., schluchzte Siegrid Röthemeier. „Ich kannte die auch kaum und dann sind die so schrecklich zugerichtet. Hört das hier denn nie auf? Vor zwei Jahren Brammaars Karl und der Pastor und der Holzhauser Küster und jetzt sogar zwei Kinder.

    „Na, der Mörder von damals kann es jawohl nicht gewesen sein., sagte Anneliese Gieseking. „Den haben sie ja geschnappt, der sitzt ja hinter Schloss und Riegel.

    Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis ein Streifenwagen eintrudelte, um den Tatort zu sichern und erste Zeugenbefragungen durchzuführen. Nach einer weiteren Stunde fand sich die Bielefelder Mordkommission ein. Ein zerknautschter Mittfünfziger und seine hübsche, junge Kollegin stiegen über die Absperrung.

    „Und was haben wir hier?", fragte der Mann übellaunig.

    „Sind Sie nicht Kriminalhauptkommissar Keller? Stefan Keller?", fragte einer der örtlichen Streifenpolizisten.

    „Kennen wir uns?", lautete Kellers argwöhnische Gegenfrage.

    „Wir haben vor zwei Jahren schon einmal zusammengearbeitet., antwortete der Beamte. „Der Serienmörder, der alle beschnitten hat. Ich bin Polizeiobermeister Lutz Helling.

    „Ach so., sagte Keller. „Ja, ich erinnere mich. Ich hatte eigentlich gehofft, nie wieder in dieses gottverlassene Nest zurückzukehren. Wo sind denn die Leichen? Es sind doch zwei, oder?

    Stumm zeigte Polizeiobermeister Helling in das offene Grab. Kommissarin Sabine Kerkenbrock war bereits vorgetreten, gab einen leisen Aufschrei des Entsetzens von sich und biss sich in die Knöchel der rechten Faust. Keller blickte in das dunkle Loch und merkte, wie auch ihm alles Blut in die Beine sackte. „Oh mein Gott!, stieß er hervor. Die kleinen Kinderkörper lagen verrenkt und ineinander verkeilt in der feuchten dunklen Erde, teilweise vom krümeligen Sandboden und festen Lehmklumpen bedeckt. Die Köpfe waren blutig und deformiert, die Kleidung schmutzig und zerrissen. Sie sahen aus, als wären sie unter die schweren Stiefel einer Rotte von Skinheads geraten. Die Beamten der KTU machten Gipsabdrücke von Fußspuren, sammelten Fasern und andere Kleinteile ein, etikettierten und fotografierten. Schließlich wurden die Kinder aus dem Grab gehoben. Die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt, sie waren also vor höchstens drei Stunden gestorben. Gerichtsmedizinerin Konstanze Flegel nahm die kleinen Leichen in Augenschein und sprach ihre ersten Beobachtungen in ein Diktiergerät: „Zwei Kinder zwischen sieben und zehn Jahren, keine Leichenstarre, deutlich verringerte Körpertemperatur, beim Jungen rechte Gesichtshälfte mit starken Prellungen, Knochenbrüchen und offenen Wunden übersät, Knochenbrüche an Unterarmen und Händen, linke Kniescheibe heraus gerutscht, innere abdominale Verletzungen nicht auszuschließen. Beim Mädchen Nasenbeinbruch, herausgebrochene Schneidezähne, Hämatome am Hals, unnatürliche Stellung des Kopfes, also Verrenkung oder Bruch der Halswirbelsäule, ebenfalls Hinweise auf abdominale innere Verletzungen, zahlreiche Schürfwunden an den Extremitäten.

    „Was ergeben die Zeugenaussagen?, wandte Keller sich an Polizeiobermeister Helling. Der teilte den Kommissaren detailliert den genauen Ablauf des Leichenfundes und die vermeintliche Identität der Opfer sowie deren Adressen mit. Sabine Kerkenbrock machte sich Notizen. „Hat schon jemand die Angehörigen informiert?, fragte sie.

    „Von uns keiner.", antwortete Polizeiobermeister Helling. „Ich weiß aber nicht, ob die Zeugin mit dem Mobiltelefon in der Zwischenzeit jemanden angerufen oder eine SMS verschickt hat.

    Eine Frau mit aufgeschrecktem Blick näherte sich dem Tatort. Kerkenbrock machte Keller wortlos darauf aufmerksam. Der wandte sich an die Zeuginnen und raunte: „Ist die Frau da drüben mit einem der Kinder verwandt?"

    „Nein., antwortete Anneliese Gieseking. „Das ist Iris Sander. Ihr Vater ist vor ein paar Monaten gestorben, wäre heute neunzig geworden. Sie will bestimmt sein Grab besuchen.

    Iris Sander kam langsam näher. Als sie den Tatort fast erreicht hatte, ging Anneliese Gieseking ihr entgegen.

    „Was ist denn hier los?", fragte sie verstört. Sie war groß und schlank, trug leger geschnittene Kleidung aus Leinen oder Hanf, halboffene Edel-Öko-Schuhe und stufig geschnittenes schulterlanges Haar mit blonden Strähnen. Ihr hageres Gesicht mit den riesigen, blauen Augen wirkte auf Kerkenbrock irgendwie asymmetrisch. Sie wusste nicht warum, aber dieses Attribut setzte sich augenblicklich fest in ihrem Kopf und verschmolz untrennbar mit dieser unkonventionellen Frau, die sie auf Mitte Vierzig schätzte.

    „In Brammaars Giselas Grab lagen zwei tote Kinder. Borcherdings Sören und Tiemanns Nele. Sieht aus, als wenn sie jemand erschlagen hat."

    „Oh Gott, wie schrecklich!, entfuhr es Iris Sander. „Wer tut denn so etwas?

    „Das weiß noch keiner., antwortete Anneliese Gieseking. „Du wolltest sicher zum Grab von deinen Eltern, oder?

    „Nein, nein. Ich habe heute Nachmittag schon ein paar Vergissmeinnicht aufs Grab gepflanzt. Ich war bei Simone und hab' mich umgezogen und wollte jetzt einen Spaziergang machen, da hab' ich hier die ganzen Polizeiautos gesehen. Ich geh' dann mal wieder. Will ja nicht im Weg rumstehen."

    „Bist du morgen auch bei Nicole?", fragte Anneliese Gieseking.

    „Ja sicher., antwortete Iris Sander und zog sich dann grußlos zurück. Kerkenbrock eilte ihr hinterher. „Entschuldigung, Sabine Kerkenbrock mein Name. Ich ermittle in diesem Mordfall und habe Ihr Gespräch mit angehört. Sie waren heute Mittag hier?

    Doch Iris Sander hatte ebenfalls nichts Außergewöhnliches bemerkt, gab der Beamtin aber für alle Fälle ihre Personalien. Die Polizistin reichte der Zeugin eine Visitenkarte und ging dann zum Fundort zurück.

    „Konstanze Flegel sagt, es waren brutale Schläge mit einem stumpfen Gegenstand, möglicherweise auch Tritte, die die Kinder getötet haben, und sie sind vor höchstens drei Stunden gestorben. Alles Weitere erfahren wir morgen. Wer war die Frau?"

    „Eine neugierige Zeugin, vermutlich wertlos. Suchen wir jetzt die Familien auf?"

    „Ja, und wir haben wieder einmal nur eine Polizeipsychologin, aber die hat schon den Krisendienst alarmiert. Wohin gehen wir zuerst?"

    „Zu den Eltern des Mädchens. Das Haus liegt am nächsten."

    Das Haus der Familie Tiemann lag im Herzen des Dorfes wie ein Fremdkörper. Zwischen Jahrzehnte-alten Ziegelbauten stand dieser weiß verklinkerte Betonquader wie aus dem Lego-Baukasten, umgeben von Waschbetonplatten, Kiesbetten, Koniferen, vertikutiertem Rasen und bepflanzten Schalen. Vor der weißen Plastikhaustür mit konvexen Butzenglasscheiben hing ein Kranz aus Weidenzweigen, der mit bunt lackierten Laubsägearbeiten übersät war. Ein Angriff auf den guten Geschmack, wie Kerkenbrock fand, aber sie verdrängte ihre abwertenden Gedanken und konzentrierte sich auf ihren Arbeitsauftrag. Keller drückte den Klingelknopf, ein dumpfer Gong ertönte und kurz darauf öffnete eine junge Frau mit glühenden Wangen im sommerlichen Freizeitdress die Tür.

    „Mein Name ist Sabine Kerkenbrock und das ist mein Kollege Stefan Keller. Wir sind von der Kriminalpolizei. Dürfen wir hereinkommen, Frau Tiemann?"

    Silvia Tiemann blickte verständnislos vom einen zum anderen, auf die Polizeiausweise und auf die Psychologin, die sich noch nicht vorgestellt hatte.

    „Was - was ist denn passiert?", stammelte sie.

    „Das würden wir Ihnen gern drinnen mitteilen., erklärte Keller. „Können wir uns irgendwo setzen?

    „Drinnen muss gerade die Fußbodenemulsion antrocknen, aber wir können hier durch zur Terrasse gehen, da sitze ich gerade."

    Durch einen schmalen Flur ging es zu einer Hintertür, die direkt in den Garten führte. Silvia Tiemann leitete sie zur Terrasse. Auf dem Tisch stand eine Wasserflasche und ein halb volles Glas. „Wollen Sie was trinken?", fragte die Hausherrin.

    „Nein Danke., sagte Keller. „Setzen Sie sich doch bitte.

    „Sie machen mir vielleicht Angst., sagte Frau Tiemann und nahm langsam in einem der gepolsterten Gartenstühle Platz.

    „Ist Ihre Tochter Nele zu Hause?", fragte Kerkenbrock vorsichtig.

    „Nee, die zieht mit ihrem Kumpel Sören um die Häuser. Wieso? Hat sie was angestellt?"

    „Es wurden eben auf dem Friedhof zwei tote Kinder gefunden., erklärte Kerkenbrock. „Eine Frau Gieseking hat die Kinder erkannt als Ihre Tochter Nele und Sören Borcherding.

    Die junge Mutter starrte sie an und sagte nichts. Dann begann sie langsam und schließlich immer schneller mit dem Kopf zu schütteln. „Das ist nicht wahr. Das glaube ich nicht. Das kann nicht wahr sein.", stammelte sie.

    „Möglicherweise handelt es sich um ein anderes Mädchen., erklärte Keller, dann fuhr er vorsichtig fort: „Andererseits, wenn Sie sagen, dass sie mit Sören Borcherding zusammen war, da liegt es ja nahe, anzunehmen...

    „Was ist denn passiert?", fragte Frau Tiemann mit bebendem Kinn.

    „Das wissen wir noch nicht genau., erklärte Keller, „Alles weist auf ein Gewaltverbrechen hin.

    „Vergewaltigung?", hauchte die fassungslose Mutter.

    „Das höchstwahrscheinlich nicht., beeilte sich Kerkenbrock, zu erklären. „Die Kinder wurden allem Anschein nach erschlagen. Wissen Sie, ob sie auf dem Friedhof gespielt haben?

    „Kann sein. Die sind da manchmal hin und haben Verstecken gespielt. Sören kam heute Mittag gleich nach der Schule, da waren sie erst auf dem Trampolin und dann wollten sie Waveboard fahren. Vielleicht sind sie da zum Friedhof...Aber wer erschlägt achtjährige Kinder und warum? Und wo ist Nele jetzt? Kann ich sie sehen?"

    „Sie wird in Minden obduziert., erklärte Keller. „Sie werden sie ohnehin identifizieren müssen. Sie können dorthin kommen, sobald Sie soweit sind.

    „Frau Tiemann, mischte sich jetzt die Psychologin ein. „Ich bin Beate Bünting und hier, um Ihnen fürs Erste zur Seite zu stehen, die Beamten müssen weiter. Gibt es jemanden, den Sie anrufen wollen?

    Sie antwortete nicht und stand auch immer noch zu sehr unter Schock, um in Tränen auszubrechen. Keller und Kerkenbrock verabschiedeten sich fürs erste, kündigten aber an, am folgenden Tag wiederzukommen.

    Als die Polizisten zum Elternhaus des zweiten Mordopfers gelangten, wartete bereits ein Mitarbeiter des psychologischen Krisendienstes im Auto. Familie Borcherding bewohnte ein rot verklinkertes Einfamilienhaus in einem in den achtziger Jahren entstandenen Kleinstneubaugebiet. Der Garten, der von unterschiedlichsten üppig wuchernden Büschen umsäumt war, wirkte weniger steril als das Grundstück der Familie Tiemann. Auch hier stellten sich die Beamten vor, wurden allerdings zunächst von Sörens kleinem Bruder empfangen, der seinen Vater an die Tür holte. Der bat sie ins Wohnzimmer, wo Vater und Mutter mit dem Kleinen eine Playmobil-Landschaft aufbauten. Auch hier fragten die Beamten zunächst nach Sören und bekamen die Auskunft, dass er sich bei Nele aufhalte. Der Psychologe gab sich alle Mühe, den Kleinen vom Gespräch der Erwachsenen abzulenken, indem er sich von ihm ausführlich die Playmobil-Landschaft erklären ließ.

    „Wir glauben, dass Sören etwas zugestoßen ist.", erklärte Keller leise.

    „Ich verstehe nicht., hakte Thorsten Borcherding nach. „Ist er nicht bei Nele?

    Kerkenbrock schüttelte den Kopf, dann sagte sie mit gedämpfter Stimme: „Man hat einen Jungen und ein Mädchen auf dem Friedhof gefunden und wir gehen davon aus, dass es sich um Sören und Nele handelt."

    Heike Borcherdings Kehle entfuhr ein heiserer Schrei, dann wandte sie sich an ihren jüngeren Sohn: „Nico, komm, wir müssen noch die Kaninchen füttern, die Polizisten wollen allein mit Papa reden." Sie eilte mit dem Kleinen in den Garten, der Psychologe folgte den beiden.

    „Die Kinder wurden brutal erschlagen., erklärte Keller dem verstörten Vater. Sie müssen uns jetzt nicht alles erzählen, wir kommen morgen noch einmal wieder, aber ist Ihnen an ihrem Sohn oder an seinem Umfeld in der letzten Zeit irgendetwas Besonderes aufgefallen?

    Thorsten Borcherding schüttelte mit dem Kopf. „Er war ein ganz normaler Junge, ein bisschen wild vielleicht, frech und

    vorlaut. Aber er war ja noch ein Kind, ein achtjähriger Junge. Die sind ja nicht in was Kriminelles verwickelt. Was sollte mir da schon auffallen?"

    „War er verändert?, fragte Kerkenbrock. „Entwickelte er neue Gewohnheiten, wirkte ängstlich oder geheimnisvoll?

    „Nein. Er war genauso wie immer. Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Wenn ich die Drecksau erwische, die das getan hat, mach ich den fertig!

    „Das überlassen Sie bitte uns.", erwiderte Keller.

    Als die Polizisten sich verabschiedeten und der Psychologe seine weitere Unterstützung anbot, lehnte Thorsten Borcherding dankend ab. Kerkenbrock warf einen letzten Blick in den Garten, auf das trügerische Familienidyll vor den Kaninchenställen. Nichts würde mehr so sein, wie es war.

    1975

    Der Bus mit der Klasse 3a der Nordhemmer Grundschule bog gemächlich auf den Parkplatz des Zoos Osnabrück ein. Wie ein Sterbender Wal spie er die lärmende Kinderbande aus, von der die ersten schon zielstrebig Richtung Eingang rannten, als Herr Kowalski, der Klassenlehrer sie energisch zurück pfiff.

    „So, jetzt stellt euch mal schön alle in einer Zweierreihe auf, damit Euch die Leute an der Kasse auch zählen können, und ihr bleibt ganz dicht hinter mir."

    Die dicke Petra und die rote Cornelia bildeten das erste Paar hinter dem Grundschullehrer. Seine kalkweißen Beine steckten oben in grauen Herren-Shorts mit Bügelfalte und unten in Socken mit in gedeckten Farben gehaltenem Rautenmuster und braunen Ledersandalen. Die langen, schwarzen Haare, die sich sogar auf den blassen Oberschenkeln kringelten, ließen die Mädchen in albernes Gekicher ausbrechen. Herr Kowalski übte sich in souveräner Ignoranz und führte die Kinder zur Kasse, wo er eine Gruppenkarte löste. Dann verkündete er: „Ihr dürft jetzt in Gruppen zu mindestens drei oder auch mehr Kindern durch den Zoo laufen. Wir treffen uns in zwei Stunden, also um halb zwölf am Spielplatz, der ist da vorne. Da könnt ihr dann noch eine halbe Stunde spielen oder zum Kiosk gehen. Um Punkt zwölf sammeln wir uns am Ausgang und gehen gemeinsam zum Bus. Keiner verlässt vor mir den Zoo. Habt Ihr noch Fragen?"

    „Herr Kowalski, meldete sich Henning, „ich habe keine Uhr.

    „Überall im Zoo hängen welche, erklärte der Lehrer und ansonsten könnt ihr ja auch die anderen Zoobesucher fragen. Sonst alles klar?

    Zustimmendes Gemurmel ertönte.

    „Na dann ab mit euch!"

    Petra und Cornelia wurden sofort von Nicole angesteuert, Angela und Iris taten sich zusammen und nahmen noch Birgit mit ins Boot. Zu Beginn blieben zunächst alle Kinder auf einem Haufen. Aber während Petra Cornelia und Nicole das unglaubliche Rosa der Flamingos eingehend bewunderten, rannten einige Jungen sofort ins Tropenhaus zu den Schlangen und Echsen, andere zu den Elefanten und Angela, Iris und Birgit sahen sich brav alle Vogelarten an, die der Zoo zu bieten hatte. Beim Elefantengehege trafen sich die beiden Mädchenkleeblätter.

    „Guck mal, der kleine Elefant!, rief Nicole. „Sieht der nicht putzig aus?

    „Ja, der ist wirklich süß.", bestätigte Cornelia, während Petra mit den Schultern zuckte.

    „Sieht doch genauso aus wie die Großen, nur kleiner."

    Eine Elefantenkuh trompetete energisch. Birgit fuhr vor Schreck zusammen und Iris tätschelte ihr zur Beruhigung den Rücken. „Die sind ja eingesperrt.", beschwichtigte Angela sie.

    „Birgit, hast du etwa Angst vor dem Elefanten?, fragte Petra. „Was machst du erst, wenn du Tiger siehst? Pisst du dir dann in die Hose?

    Birgit schwieg errötend.

    „Du bist so gemein.", tadelte Cornelia Petra, kicherte aber beifällig. Nicole schwieg.

    Beim Bärengehege standen Jörg, Andreas, Michael und Eckhart. Sie trommelten sich auf die Brust, um die Bären zu provozieren. Petra baute sich vor den Jungen auf und stemmte die Hände in die stämmigen Hüften. „Habt ihr einen an der Pfanne?, fragte sie großkotzig. „Das sind doch keine Gorillas.

    „Die Weiber., stöhnte Andreas. „Ihr seid doch selber nicht ganz klutendicht.

    „Wo sind eigentlich die Gorillas?" fragte Michael.

    „Das Affenhaus ist da hinten.", rief Nicole eifrig und mit großen Augen. „Ich weiß das, ich war hier schon mal mit meinen Eltern.

    „Na und?, fragte Andreas blasiert, „Ich war hier schon öfters.

    „Ach, hakte Nicole nach, „und weißt du auch wie die Baren da heißen?

    „Klar. Die heißen Manni, Tommi und Fridolin."

    „Bist du doof!, tadelte Nicole ihn. „Das sind Braunbären und Schwarzbären.

    „Und Eisbären.", ergänzte Eckhart.

    „Quatsch!, widersprach Cornelia. „Die Eisbären sind weiter hinten.

    „Woher willst du das denn wissen, Streuselkuchengesicht?, fragte Jörg. „Wohnst du hier im Zoo?

    „Nee, antwortete Cornelia, „aber ich war auch schon öfter mit meinen Eltern hier. Wir fahren nämlich manchmal nach Osnabrück zum Einkaufen und danach noch in den Zoo.

    „Zum Einkaufen?!, krakeelte Andreas, „das kann man doch auch in Nordhemmern.

    „Aber keine Anziehsachen."

    „Doch, bei Niemanns.", widersprach Jörg.

    Jetzt mischte Petra sich ein: „Da gibt’s doch nur Schlüpfer und Schlipse."

    „Die haben auch Hemden und Hosen.", widersprach Eckhart.

    „Aber was für welche., schloss Petra die Diskussion und musterte Eckhart von oben bis unten mit aller ihr zur Verfügung stehender Herablassung. Die Jungen stürmten zum Affenhaus, wo schon die nächsten Opfer auf sie warteten. Während Angela, Iris und Birgit sich still über die faszinierende Menschenähnlichkeit der Paviane auf dem Affenfelsen amüsierten, boten die Jungen die perfekte Parodie der Zwergprimaten. Die Mädchen bemühten sich, sie zu ignorieren, aber echte Affenmännchen duldeten keine Respektverweigerung. „Ey, guck mal!, brüllte Andreas vor Vergnügen. „Der Affe da vorne hat genauso ‘n roten Arsch wie Angela Kreft!"

    Angela trug eine hellrote Cordhose und die Jungen brachen in ein lautstarkes und bewegungsintensives Gelächter Kollektivgelächter aus.

    „Aber die da vorne, rief Jörg, „bei der ist der Hintern genauso dick wie der von Petra Gieseking.

    „Und guck dir mal die Titties an!, schrie Andreas. „Petra Pavian. Die frisst den anderen Affen bestimmt immer die ganzen Süßigkeiten weg!

    „Doofmänner!, schnaubte Iris. „Ihr seid doch selber blöde Affen!

    Mit eiligen Schritten zogen die Mädchen weiter zu den Schimpansen und Gorillas. Birgit erklärte: „Mit Jungen, die Arsch und andere schlimme Wörter sagen, soll ich überhaupt nicht spielen."

    „Ach, das mit dem Arsch fand ich gar nicht so schlimm., erklärte Angela. „Aber dass sie gesagt haben, dass Petra einen dicken Hintern hat, das war so fies.

    „Und erst recht das mit dem Busen., erklärte Iris. „Petra kann doch nichts dafür, dass das bei ihr schon anfängt zu wachsen.

    „Das kann ja auch eine Krankheit sein.", bemerkte Birgit altklug und alle drei fühlten sich den bösen Jungen moralisch haushoch überlegen, obwohl sie sich heimlich, jede für sich ein bisschen freuten, dass Petra und nicht sie die Zielscheibe dieser Schmähungen war, zumal Petra ihnen gegenüber nicht mit kleinen Demütigungen geizte. Aber sie war auch witzig, feierte rauschende Geburtstagsfeste und wohnte auf einem Bauernhof im Dorfkern, der grandiose Möglichkeiten zum Spielen bot.

    Die meisten Kinder beeilten sich mit dem Rundgang durch den Zoo, damit noch genug Zeit für den spektakulären Spielplatz blieb, dessen Existenz sich längst herumgesprochen hatte. Die größte Attraktion stellte eine echte, ausrangierte Lokomotive dar, klassisch schwarz-rot lackiert, mit allen erdenklichen Hebeln und Rädchen, die insbesondere die Technik-begeisterten Kinder faszinierten.

    Die Jungen erhoben zunächst alleinigen Anspruch auf diese Projektionsfläche männlich-frühkindlicher Berufsträume – schließlich nahmen sie erst seit kurzem am gemeinsamen Handarbeitsunterricht teil, von dem sie noch im letzten Schuljahr - im Gegensatz zu den Mädchen - befreit gewesen waren. Als Iris und Angela das Führerhaus erklommen, versuchte Andreas, sie umgehend auf ihren Platz zu verweisen. „Hier gibt’s nichts für Weiber!, fuhr er sie an. „Geht schaukeln!

    „Du hast hier gar nicht zu bestimmen!", erwiderte Iris und setzte den ersten Fuß in das Führerhaus. Andreas versetzte ihr einen Stoß, sie strauchelte, konnte sich aber gerade noch festhalten.

    „Bist du doof?, rief Heiko. „Du kannst doch nicht einfach die Mädchen runter schubsen! Ritterlich reichte er erst Iris und dann Angela die Hand und zog sie ins Führerhaus.

    „Aber Weiber haben hier nichts zu suchen!", protestierte Andreas.

    „Ach quatsch, ist doch egal., sagte Eckhart. „Guck mal, die Uhr hier. Ob wir den Zeiger wohl dazu kriegen, dass er sich bewegt?

    „Vielleicht gibt es irgendwo ein Rohr, wo man rein pusten kann., überlegte Andreas „Ich geh mal unter die Lok und guck nach.

    Der selbst ernannte Kapitän verließ das erodierende Schienenschiff, um sich mit der Technik außerhalb des Führerhäuschens vertraut zu machen. Er legte sich unter die Lok wie ein KFZ-Mechaniker unter seinen Patienten und suchte Fachlichkeit suggerierend akribisch nach Öffnungen, in die er seinen Odem blasen konnte. Indes entschloss sich Nicole, deren immer wachen Adleraugen nichts entging, umgehende das Führerhäuschen der Lok zu besteigen, um ja nichts von den sich dort abspielenden,

    geschlechtsheterogenen Ereignissen zu verpassen. Es war schon schlimm genug für sie, dass sie nicht das erste Mädchen unter den ganzen Jungen war, sie wollte auf keinen Fall das Letzte sein und erst recht nicht eine von denen, die vom Rand aus zusahen. Sie erklomm die steilen Stufen und aus dem von goldblonden Locken gerahmten Gesicht blickten kugelrunde, himmelblaue Augen neugierig ins Innere.

    „Guck mal, wie hoch das hier ist., sagte Angela, die am offenen Ende der Lok nach unten sah. Sie machte eigentlich Platz für Iris, an die sie die Aufforderung gerichtet hatte, aber Nicole schoss in die Lücke und blickte wissbegierig nach unten. „Ehrlich, ganz schön hoch., bestätigte sie, als sie plötzlich erschrocken zusammenfuhr, weil zwei Hände sie heftig an den Schultern packten und jemand rief: „Hätt ich dich nicht gehalten!" Sie sah sich kurz um und erblickte Eckhart. Die Wärme seines Körpers und die Nähe seines Gesichts, in dem sie plötzlich jedes Muttermal erkennen konnte, trieben ihr eine zarte Röte ins Gesicht.

    Irgendwann wurde die Lok dann doch langweilig und die Kinder verteilten sich zunehmend auf Klettergerüste, Turnstangen, Schaukeln und ein mechanisches Kinderkarussell, das sie selbst anschieben mussten. Die mit dem größten Bewegungsdrang konnten sich hier austoben, die etwas Gemütlicheren genossen die freie Fahrt. Es gelang ihnen, sich friedlich abzuwechseln und Herr Kowalski blickte von einer Bank aus zufrieden zu und zog genüsslich an seiner Pfeife.

    „Lasst mich auch mal anschieben.", Iris drängte energisch an einen Griff, an dem man das Karussell in Bewegung setzten konnte und gab Vollgas.

    „Du bist ja voll lahm!", maulte Andreas und Iris, die es ihm zeigen wollte mobilisierte alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte, doch ihr war, als versuche sie unter Wasser zu sprinten. Schmerzhaft und schneidend klang das raue Gelächter der Jungen in ihren Ohren und die triumphierenden Blicke einiger Mädchen trafen sie wie Nadelstiche. Diesmal sprang ihr kein rettender Heiko zur Seite, er beachtete sie nicht einmal. Enttäuscht gab sie auf und stellte sich bei den Schaukeln an. Aus der Entfernung beobachtete sie nun, wie die sommersprossige, rothaarige Cornelia, mit ihren drahtigen, muskulösen Beinen gemeinsam mit der bildhübschen Nicole das Gerät in Bewegung setzte. Sie brachten das Karussell richtig in Fahrt und lachten dabei, als täten sie das mit Leichtigkeit. Sie hätte gern dazu gehört, wäre auch gern fröhlich lachend im Kreis gerannt, zur Freude der anderen Kinder. Aber Iris gehörte nirgends dazu. Sie war weder dumm, hässlich, tollpatschig noch irgendwie verhaltensauffällig, aber sie fand zu den Spielen der anderen Mädchen keinen richtigen Zugang und die Jungen, denen sie sich so verbunden fühlte, mit denen sie so gern herum getollt wäre und die wilden Spiele gespielt hätte, die sie mit ihrem Spielkameraden Peter gespielt hatte, nahmen sie nicht ernst, und jedes Mal, wenn sie versuchte, sich zu beweisen, scheiterte sie. Peter hatte sich im letzten Jahr auch plötzlich zurückgezogen und sie als Viertklässler gar nicht mehr zur Kenntnis genommen.

    Als sie lange genug geschaukelt hatte und wieder abgesprungen war, kamen Cornelia und Petra auf sie zu. „Iris, machst du mit beim Gummitwist?", fragte Cornelia.

    „Ja, ist gut.", antwortete sie.

    „Darf ich zuerst?", fragte Petra und die anderen beiden waren einverstanden. Cornelia und Iris spannten das zusammengeknotete Schlüpfer-Gummi um ihre Fußgelenke und Petra vollzog trotz ihrer nicht unerheblichen Leibesfülle ausgesprochen geschickte und wendige, fehlerfreie Sprungfiguren.

    „Wieso macht Nicole eigentlich nicht mit?", fragte Iris.

    „Die will sich noch ein bisschen von Eckhart auf dem Kinderkarussell festhalten lassen., erklärte Cornelia und wies kichernd auf das zärtliche Idyll, in dem Nicole aufgeregt lachend auf dem einen Sitz saß und hinter ihr Eckhart, der sie beharrlich an den Schultern hielt und aus Leibeskräften schrie: „Nicht aufgeben! Festhalten! Ich halte dich! ich bin dein feiner Held! Ich kämpfe für Frauen und Gerechtigkeit!

    „Na Petra, fragte Cornelia schelmisch, „soll ich Eckhart mal fragen, ob er dich bei der nächsten Runde Gummitwist festhält? Vielleicht küsst er dich sogar.

    „Iii!, rief Petra. „Bevor ich mich von dem küssen lasse, schmier ich mir lieber ‘n Mettwurstbrot.

    „Andreas ist aber schlimmer.", warf Iris ein.

    „Och", sagte Petra nur und konzentrierte sich voll auf die Sprünge der dritten Schwierigkeitsstufe, bei der das Gummi auf Hüfthöhe gespannt war. Sie machte einen Fehler.

    „Abs!", riefen Cornelia und Iris im Duett.

    „Iris, willst du?, fragte Cornelia und Iris, dankbar nicht schon wieder die Letzte zu sein, stimmte zu. Angela näherte sich schüchtern. „Darf ich mitmachen?, fragte sie zaghaft.

    „Klar., antwortete Petra gönnerhaft. „Aber nach Iris ist erst Conni dran.

    „Ja, klar.", ergab sich Angela in ihr gewohntes Schicksal. Sie war eine von denen, die immer und überall übersehen wurden. Das glanzlose, aschblonde Haar stand ihr Frisur-los vom Kopf ab, die samtgrünen Augen waren zu klein und standen ein wenig zu weit auseinander, um ihre Wirkung zu entfalten und die vollen, fleischigen Lippen wirkten in ihrem kastenförmigen Gesicht irgendwie deplatziert. Es mangelte ihr an Inspiration, Initiative und Schlagfertigkeit. Sie störte niemanden, aber sie wurde auch nicht sonderlich geschätzt.

    Als alle vier Mädchen einmal dran gewesen waren, stellte Cornelia fest: „Wir haben nur noch eine Viertelstunde. Gehen wir noch in den Kiosk?"

    „Au ja!", rief Petra und stürmte voran. Im Zoo-Kiosk gab es neben allen erdenklichen Süßigkeiten auch jede Menge Souvenirs, billigen Schmuck und Nippes. Voller Begehren betrachteten die Mädchen die Auslagen. Petra kaufte sich eine Kette aus zylinderförmigen, weißen Plastikperlen, in dem festen Glauben, es handele sich um echtes Elfenbein und außerdem noch zwei Schokowaffeln. Cornelia erstand eine kleine Robbe, die sie ihren Eltern mitbringen wollte und drei Tüten Brausepulver. Iris und Angela hatten kein Geld dabei. Ihre Eltern waren überhaupt nicht auf die Idee gekommen. Schließlich war der Eintritt bezahlt, sie hatten den Kindern Brote, Obst, etwas zu trinken und ein paar Kekse mitgegeben, das war mehr, als sie normalerweise an einem Vormittag verputzten. Mit blutendem Herzen blickten sie nun auf das überwältigende Süßwarenangebot und Iris betrachtete sehnsüchtig eine schlichte, silberfarbene Halskette mit einem geschliffenen Glasstein, der an der Rückseite mit Metallic-Lack in den Farben des Regenbogens beschichtet war, so dass er die facettenreichen Lichtbrechungen eines vollendeten Brillanten imitierte. Diese Anhänger gab es in den 70er Jahren an den Kiosken eines jeden Ausflugsziels. Iris hatte sie schon oft bewundert, aber nie waren ihre Eltern bereit gewesen, Geld für so eitlen Tand auszugeben.

    Cornelias feine Antennen, die bei ihr früher ausgeprägt waren als bei ihren Altersgenossinnen, verrieten ihr, wie sehr Iris und Angela unter ihrer Mittellosigkeit litten. Sie ertrug es nur schwer, wenn andere offensichtlich unglücklich waren. „Ich kann euch was leihen., bot sie den beiden großzügig an. „Ich habe noch eine Mark zwanzig, die brauche ich nicht, dann könnt ihr euch auch noch was kaufen.

    „Nee, lass mal., antwortete Iris, denn sie wusste ja, dass sie Cornelia das Geld nicht zurückzahlen konnte. Angela dagegen nahm das Angebot an. Sie wusste nämlich, wo ihre Mutter das Portemonnaie für ihre Einkäufe aufbewahrte und konnte so unbemerkt das Geld stibitzen, das sie Cornelia am folgenden Tag zurückzahlen würde. Dabei blieb sie aber bescheiden. „Kannst du mir 20 Pfennig leihen? „Klar., sagte Cornelia und gab ihr das Geld. Angela kaufte ebenfalls zwei Tüten Brausepulver und schenkte eine davon Iris.

    Iris war überwältigt. „Aber das ist doch deine., sagte sie. „Du musst mir doch nichts abgeben.

    „Doch. Die schenke ich dir.", sagte Angela beharrlich und Iris bedankte sich.

    Als die Kinder wieder den Bus bestiegen, erlebten sie eine Sensation: Nicole und Eckart setzten sich nebeneinander und das Gekicher und Getuschel nahm kein Ende.

    Sie waren schon eine Weile unterwegs, da hörte Iris, wie Jörg sich wispernd an Petra wandte: „Ich weiß was von Nicole.", tuschelte er und flüsterte Petra dann etwas ins Ohr, was für Iris unverständlich blieb. Petra kicherte begeistert und gab das Gehörte

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