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Das bleiche Licht
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eBook446 Seiten6 Stunden

Das bleiche Licht

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach der Ursache eines bleichen Lichts, das eines Nachts seine Aufmerksamkeit erregt, stößt Sebastian eine offenbar nur für ihn sichtbare Tür zu einer anderen Welt auf, die den Einwohnern der Kleinstadt bisher verschlossen geblieben ist. Aber sie existiert seit Jahrzehnten und war schon einmal Auslöser für das Verschwinden von Kindern. Aufgeklärt wurden die Vorfälle nie. Und jetzt verschwinden wieder Kinder. Es ist, als würden sie vom Erdboden verschluckt. Sie hinterlassen ebenso wenig Spuren wie der oder die Entführer. Sebastian und seine Geschwister stellen Nachforschungen an, während ihr Vater - ein erfahrener Kripobeamter - auf dem Wege kriminalistischer Ermittlungen Licht in die merkwürdigen Vorfälle zu bringen versucht. Dabei weiß er zunächst nicht, auf welche Erkenntnisse seine Kinder bereits gestoßen sind. Erst als sich die Ereignisse überschlagen, kreuzen sich die Wege von Vater und Sohn und machen es möglich, die Hintergründe des bleichen Lichts zu verstehen. Hilfe bekommen sie dabei auch von Mitbürgern, die mehr über die Ursachen wissen, aber zunächst nicht den Mut haben, davon zu berichten. Als die Dimension der rätselhaften Erscheinungen immer gewaltigere Ausmaße annimmt, bekommt Sebastians Familie Besuch von dem mysteriösen Gottfried Sauer.

Das bleiche Licht ist eine moderne Mystery-Geschichte, geschrieben für Jugendliche und Erwachsene mit guten Nerven. Wer das Buch nachts bei schlechter Beleuchtung -bleichem Licht- liest, sollte die Türen gut schließen, damit er nicht überraschend Besuch aus ganz anderen Zeiten bekommt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Nov. 2015
ISBN9783738048865
Das bleiche Licht

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    Buchvorschau

    Das bleiche Licht - Bert Joranz

    I. Teil

    Er hatte ein weißes Tuch über dem Körper.

    In seiner Hand hielt er Batterien.

    Es war kalt hier.

    Er warf eine der Batterien an die Wand.

    Sie prallte ab.

    Flog weiter.

    Es gab ein schmatzendes Geräusch.

    I

    Sebastian stand am Straßenrand und beobachtete das seltsame Licht, das aus dem Keller des Hauses auf der anderen Straßenseite kam. Es warf einen blassen Lichtschein auf einen Weg, der zwei Parallelstraßen miteinander verband. Es kam aus dem Verwaltungsgebäude.

    „Da hat wohl jemand vergessen, im Keller das Licht auszuschalten", dachte Sebastian. Als er gerade die Straße betreten wollte, hielt neben ihm ein Roller an. Michael Brand – Sebastian kannte ihn aus der Schule, er war zwei oder drei Klassen unter ihm – nahm den Helm ab.

    „Hallo Sebastian. Was glotzt du denn so?"

    „Ich frage mich, wer da unten das Licht angelassen hat", sagte Sebastian und deutete auf das Kellerfenster.

    „Irgendein Trottel aus der Verwaltung, wer sonst?, sagte Michael. „Was soll`s, wir müssen es ja nicht bezahlen.

    „Oder ob da einer eingebrochen hat", überlegte Sebastian laut.

    „Frag doch deinen Vater. Der ist doch Bulle. Ich hau ab. Ist schon spät. Und morgen schreiben wir unsere Mathearbeit."

    „Komisch. Wir auch", sagte Sebastian geistesabwesend. Das Licht in diesem Keller ging ihm nicht aus dem Kopf. Irgendetwas daran kam ihm seltsam vor.

    Michael Brand setzte seinen Helm wieder auf. „So ein Zufall. Mach es gut."

    Er startete den Roller, gab Gas und verschwand.

    Sebastian stand noch eine Weile am Straßenrand. Aber das Licht veränderte sich nicht. Dann überquerte er die Straße, ging nach Hause. Er wohnte in der Parallelstraße mit Blick auf die Rückseite des Verwaltungsgebäudes.

    In seinem Zimmer im zweiten Stock zog er langsam das Rollo herunter und schaute dabei aus dem Fenster. Von hier sah er genau auf das Verwaltungsgebäude, den schmalen Weg und – das Licht. Etwas störte ihn daran. Es war ein seltsames Licht, so blass („Bleich, dachte er, „nicht blass, bleich.).

    Bleich.

    Das war das richtige Wort, war Sebastian sicher und ging zu Bett.

    Am anderen Morgen saßen sie am Küchentisch. Sebastian, seine Schwester Kathrin, sein Bruder Max. Sebastian hatte das Mathe-Buch auf den Knien. Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren. Er hatte in dieser Nacht einen seltsamen Traum gehabt. Darin ging es um Batterien. Als er aufgewacht war, hatte er das Gefühl gehabt, diese Batterien in seiner Hand zu halten. Aber die Hand war natürlich leer gewesen.

    „Na, wieder nichts für die Schule getan?", frotzelte Kathrin.

    „Halt dich da raus, raunzte Sebastian. „Wir schreiben heute eine Mathearbeit. Ich muss mich noch ein bisschen mit dem Stoff vertraut machen.

    „Typisch Sebastian, warf sein kleiner Bruder Max ein. „Kurz vor Schluss bekommt er Panik.

    „Blödsinn", murmelte Sebastian – und dachte an Batterien. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich an seinen Traum nicht richtig erinnern. Nur an diese Batterien. Er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, wie er in diesem Traum gerade auf Batterien gekommen war.

    Egal. Jetzt war nicht die Zeit, sich den Kopf über dumme Träume zu zerbrechen. Die Mathearbeit ging vor. In einem halben Jahr würde er Abitur machen. Da konnte er sich eine Fünf beim besten Willen nicht leisten.

    Sebastians Vater, Konrad Schmidt, betrat die Küche. „Na, wieder nichts für die Schule getan?" Er sah Sebastian über die Schulter, auf das Mathebuch.

    „Doch, schon, erwiderte Sebastian. „Aber es kann ja nichts schaden, wenn man kurz vor einer Arbeit sein Wissen noch mal kurz aufbessert. Er schloss das Buch und packte es in seine Schultasche. Die Arbeit würde er sicher verhauen.

    „Na, Erika, wandte sich Konrad Schmidt jetzt an seine Frau, die gerade aus dem Badezimmer gekommen war, „was gibt es zum Frühstück?

    „Muss jetzt gehen." Kathrin stand auf, ohne auf die Antwort ihrer Mutter zu achten.

    Es klingelte. Max wurde abgeholt. Zwei Mitschüler standen wie jeden Morgen vor der Haustür und warteten, dass Max herunter kam. Der schnappte sich oben seine Tasche und lief die Treppe hinunter. „Bis heute Mittag", rief er, bevor er die letzten beiden Stufen auf einmal nahm. Draußen unterhielten sich seine Schulfreunde über den vergangenen Fernsehabend. Als Max die Haustüre öffnete, verstummte das Gespräch.

    „Na endlich", sagte einer der beiden Wartenden, obwohl es wie immer eigentlich viel zu früh war, um in die Schule zu gehen. Aber die Beiden vor der Tür waren jeden Morgen so früh. Sie wollten auf keinen Fall zu spät kommen und Max schloss sich ihnen an, um nicht allein zur Schule gehen zu müssen, auch wenn es nur fünf Minuten Fußweg waren.

    Vor der Schule – sie waren, abgesehen von den Schülern, die mit dem Bus kamen, die ersten auf dem Schulhof – warteten sie auf die anderen aus ihrer Klasse. Max erzählte, dass er sich einen neuen Zaubertrick gekauft habe. Seine beiden Freunde waren neugierig.

    „Wann führst du uns denn endlich mal deine magischen Künste vor", wollte einer von beiden wissen.

    „Wenn ich sie wirklich richtig beherrsche", antwortete Max.

    „Wie? Kannst du gar nicht richtig zaubern?", fragte der andere und lachte.

    „Das ist ja blöd, ergänzte der Erste, „und ich dachte, er holt wirklich lebende Kaninchen aus einem Zylinder oder so.

    Max konnte es gar nicht leiden, wenn sich jemand über sein neues Hobby mokierte. Das war auch der Grund, warum er bisher niemandem seine Tricks gezeigt hatte. Außer seinen Eltern und einmal auch seinen Geschwistern. Aber die hatten auch gelacht.

    Die Tür der Schule öffnete sich. Herr Grün forderte die Schüler auf, ihre Klassen aufzusuchen. „Aber langsam bitte", mahnte er und niemand hätte es gewagt, auch nur einen Schritt zu schnell zu gehen.

    Sebastian hockte über seinem Matheheft. In der Klasse herrschte Ruhe. Die Arbeit war schwerer als er gedacht hatte. Aber mit ein bisschen Hilfe von seinem Nachbarn war sie wohl zu schaffen. Viel schlimmer war, dass seine Gedanken dauernd abschweiften.

    Was hatte er in der letzten Nacht geträumt? Nur eines wusste er ganz sicher: Es war kein angenehmer Traum gewesen.

    „Sebastian, Sie sollten sich besser um die Arbeit kümmern, hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme des Mathepaukers. „Was starren Sie in der Gegend herum? Die Ergebnisse fliegen nicht durch das Klassenzimmer.

    „Schon gut, schon gut, dachte Sebastian und sagte laut: „Ich denke nur nach.

    Große Pause. Auf dem Schulhof stand eine Gruppe von Mädchen. Kathrin ging auf sie zu, als sie angesprochen wurde.

    „Hallo Kathrin. Wo willst du hin?"

    Es war Cornelia Scheurich, die alle Welt nur Walli nannte, weil sie in einer der ersten Schulstunden erzählt hatte, dass ihr zweiter Vorname Walburga war. Keiner hatte es für möglich gehalten, dass man einem Mädchen in dieser Zeit einen solchen Vornamen geben konnte. Walburga, das klang nach Mittelalter. Weil Cornelia außerdem nicht besonders gut angesehen war in ihrer Klasse, wurde sie gemieden. Alle wussten, dass die Scheurichs nicht viel Geld hatten. Deshalb war Cornelia auch nie modisch gekleidet. Man durfte sich mit ihr eigentlich nicht sehen lassen. Aber Kathrin tat sie leid. Deshalb blieb sie jetzt auch stehen.

    „Eigentlich will ich nirgends hin", log sie und sah aus den Augenwinkeln die Blicke der anderen Mitschülerinnen. Sie schienen zu fragen, ob sie jetzt wohl bei dieser Walli stehen bleiben würde. Sie machte genau das.

    „Freust du dich schon auf die Klassenfahrt?", fragte Cornelia.

    „Eigentlich schon, gab Kathrin bereitwillig Auskunft. „Nur die lange Busfahrt finde ich schlimm.

    „Ich werde wohl nicht mitfahren, sagte Cornelia. „Mir geht es nämlich nicht so gut.

    „Wieso? Was hast du denn?", erkundigte sich Kathrin.

    „Och nichts, wich Cornelia einer Antwort aus. „Aber meine Eltern meinen, ich sollte lieber zu Hause bleiben.

    „Sie können es sicher nicht bezahlen, dachte Kathrin. Laut sagte sie: „Schade. Dann musst du ja die ganze Woche in die Schule.

    „Nicht so schlimm", log Cornelia und sah jetzt auch in Richtung der vier Mädchen, die einige Meter von ihnen entfernt tuschelten. Cornelia wurde rot. Sie ahnte, was die vier dort redeten. Sie zogen sie durch den Kakao. Weil sie keine Designerklamotten hatte. Eigentlich war es ganz gut, dass ihren Eltern die Fahrt zu teuer war. Da blieb ihr wenigstens die dauernde Anwesenheit dieser Grazien erspart.

    Auch Kathrin ahnte, um was es im Gespräch ihrer vier Klassenkameradinnen ging. Und sie wusste ebenso, dass sie bei nächster Gelegenheit von ihnen ausgefragt würde, was sie denn mit dieser Walli besprochen habe. Was sollte sie dann erzählen? Wenn sie sagte, dass Walli die Klassenfahrt nicht mitmachen würde, gab sie ihnen nur Gesprächsstoff. Jeder, davon war Kathrin überzeugt, einfach jeder würde wissen, warum Walli in Wirklichkeit nicht mitfahren konnte.

    Am Mittagstisch erinnerte sich Kathrin an das Gespräch mit Walli – Cornelia – und fragte ihre Eltern, ob man denn da nichts machen könne.

    „Es gibt doch diesen Förderverein, meinte ihr Vater. „Der könnte doch die Kosten für die Fahrt übernehmen.

    „Gibt es nicht auch Unterstützung von der Stadt oder dem Land?", fragte ihre Mutter.

    „Weiß ich nicht, antwortete Konrad Schmidt. „Auf jeden Fall müssten die Scheurichs mal beim Schulleiter fragen, ob es nicht von irgendwoher Unterstützung gibt, wenn man eine solche Klassenfahrt nicht bezahlen kann. Man kann doch das Mädchen nicht einfach zu Hause lassen, nur weil ihre Eltern sich das nicht leisten können.

    „Find ich auch, sagte Kathrin. „Ich werde mal mit Cornelia reden. Aber ich weiß nicht, ob sie mir dann die Wahrheit sagt. Vielleicht ist sie ja auch wirklich krank.

    „Fehlt sie denn oft in der Schule?", wollte ihre Mutter wissen.

    „Eigentlich nicht, überlegte Kathrin, dass sie mit ihrer ersten Vermutung wohl richtig lag. „Es liegt sicher am Geld.

    „Kann man hier mal über was anderes reden als über das Geld anderer Leute?" fragte Sebastian.

    „Worüber denn zum Beispiel?", wandte sich sein Vater an ihn.

    „Über meinen Führerschein zum Beispiel. Wie viel muss ich eigentlich selbst davon bezahlen?"

    „Womit wir wieder beim Geld wären, sagte seine Mutter. „Nur bei unserem eigenen.

    Am Abend dieses für Sebastian nicht gerade erfreulichen Tages saß er in der Fahrschule und überlegte, woher er die Hälfte der Führerscheinkosten nehmen sollte. Da würde er wohl arbeiten müssen. Aber wo? Sein Nachbar stieß ihn an.

    „Wann machst du denn die erste Fahrstunde?"

    „Nächste Woche", antwortete Sebastian.

    Den Weg nach Hause wählte er bewusst so, dass er an dem Verwaltungsgebäude vorbei kam, in dem am Abend vorher das Licht gebrannt hatte. Er wollte sehen, ob es heute Abend dunkel war in diesem Keller. Als er gerade um die Hausecke blicken konnte, sah er es. Das Licht war da. Es warf einen fahlen (bleichen!) und nicht abgegrenzten hellen Fleck auf den Teer. Es sah aus wie eine Pfütze aus Licht. Sebastian ging näher heran, bückte sich, legte die Hände um die Augen und versuchte, durch das kleine Fenster (kam das Licht eigentlich aus diesem Fenster?) in den Keller zu sehen. Aber durch die Milchglasscheibe konnte er nichts erkennen. Dahinter schien es dunkel zu sein. Sebastian ging ein paar Meter weiter zum nächsten Fenster, sah hinein. Nichts als Dunkelheit auch hier.

    Was machte er da eigentlich? Wonach suchte er? Und warum erzeugte dieses blöde Licht ein solches Interesse? Sebastian stand auf. „Weil es nicht normal ist", dachte er und setzte seinen Heimweg fort. In seinem Zimmer angekommen, warf er wieder einen Blick aus dem Fenster. Das Licht war noch da.

    In diesem Haus wurde den ganzen Tag gearbeitet, aber nachts war es leer. Niemand war da. Sebastian wusste, dass das Haus früher mal eine Schule war, aber das war schon sehr lange her.

    Sebastian hatte sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, legte seine Arme auf das Fensterbrett und überlegte, ob er die ganze Nacht dieses Licht beobachten sollte. Eine halbe Stunde später war er eingeschlafen. Deshalb sah er auch nicht, dass sich in diesem Licht, dass seine Aufmerksamkeit so fesselte, ganz plötzlich Schatten zu bewegen schienen. Fast hätte man den Eindruck haben können, dass sie tanzten. Tanzende Schatten.

    Als Sebastian erwachte, hatte er zunächst keine Ahnung, wie lange er da gelegen hatte, den Kopf auf den Händen. Jedenfalls waren ihm beide Arme eingeschlafen. Sie kribbelten. Das Telefon hatte ihn geweckt. Sebastian sah zur Uhr. 24:15 Uhr. So lange konnte er also nicht hier gelegen haben.

    Unten hörte er seinen Vater sprechen.

    „In Ordnung. Bin schon unterwegs, sagte er gerade. Dann hörte Sebastian Schritte auf der Treppe und das Schließen der Haustür. Es kam nicht oft vor, dass sein Vater mitten in der Nacht angerufen wurde. Mord und Totschlag gab es nicht in ihrer kleinen Stadt und Verkehrsunfälle waren etwas für die „Trachtengruppe, wie die uniformierten Kollegen seines Vaters etwas geringschätzig im eigenen Hause genannt wurden. Sebastian sah wieder aus dem Fenster. Das Licht (das bleiche Licht) war immer noch zu sehen. Gerade ging sein Vater eilig über es hinweg. Ob er es nicht sah? Ob es überhaupt jemand sah, außer ihm selbst natürlich?

    Sebastian schüttelte über diesen Gedanken den Kopf. Natürlich konnte man es sehen. Jeder konnte es sehen. Kurzzeitig überlegte er, seine Schwester oder seinen Bruder zu wecken, um sich bestätigen zu lassen, dass es wirklich jeder sah. Aber er ließ es sein. Morgen war auch noch ein Tag. Außerdem wurde der Gedanke an dieses Licht im Augenblick von der Frage verdrängt, was wohl seinen Vater um diese nächtliche Zeit aus dem Haus gelockt hatte. Gerade verschwand Konrad Schmidt um die Ecke des Verwaltungsgebäudes.

    Was der erfahrene Polizeibeamte keine 20 Meter weiter zu sehen und zu hören bekam, passte in keine der ihm bekannten Szenarien. Kein Unfall. Kein Mord. Keine Entführung. Aber ein verlassener Motorroller und ein Helm. Vom Fahrer oder der Fahrerin keine Spur. Die Kollegen der Verkehrspolizei informierten ihn kurz und sachlich.

    Vor 15 Minuten hatte ein aufgeregter Mann in der Wache angerufen und erzählt, auf der Westfalenstraße liege ein Motorroller und ein Helm. Ein Fahrer sei nicht zu sehen. Daraufhin waren die beiden Beamten, die ohnehin in der Stadt unterwegs waren, zum Ort des Geschehens beordert worden. Sie fanden genau das vor, was der Zeuge am Telefon gesagt hatte: einen Motorroller und einen Helm. Mittlerweile hatten sie anhand des Nummernschildes auch den Halter des Motorrollers ausfindig gemacht und schon mit seinen Eltern gesprochen. Es handelte sich um Michael Brand. Und der war am frühen Abend in die Stadt gefahren und seitdem nicht zurückgekommen. Die Eltern seien bereits unterwegs. Im gleichen Augenblick hielt ein Auto am Straßenrand. Ein Mann und eine Frau stiegen aus. „Was ist denn passiert?, fragte die Frau und wurde von einem uniformierten Beamten zurückgehalten. „Moment. Wer sind Sie bitte?

    Die beiden stellten sich vor. Es handelte sich um Hilde und Karl Brand, die Eltern des verschwundenen Rollerfahrers. Sie wurden durchgelassen, nahmen den äußerlich völlig intakten Roller in Augenschein.

    „Das ist Michaels Roller, sagte Frau Brand. „Und wo ist der Junge?

    „Das wissen wir im Augenblick nicht, übernahm Konrad Schmidt die Gesprächsführung. „Haben Sie eine Vorstellung, wo der Junge sein könnte? Hat er in der Nähe Freunde oder Bekannte?

    „Nein, sagte Karl Brand. „Nicht, dass ich wüsste. Außerdem hätte er nie seinen Roller einfach am Straßenrand liegen lassen. Er bückte sich, wollte das Zweirad aufheben, wurde aber von einer schnellen Geste Schmidts daran gehindert. Schmidt hatte den Mann am Arm gefasst und festgehalten.

    „Liegen lassen. Vielleicht müssen wir noch nach Fingerabdrücken suchen."

    „Fingerabdrücke?" rief Frau Brand. „Warum um Gottes Willen Fingerabdrücke? Was ist mit Michael? Sagen Sie uns doch endlich, was hier passiert ist.

    „Wir wissen es nicht, musste Schmidt eingestehen. „Bisher haben wir einen verlassenen Roller und einen Helm, aber keinerlei Hinweis auf einen Unfall oder etwas dergleichen. Keine Bremsspuren, keine Scherben, am Roller ist auch kein Schaden – soweit man das auf den ersten Blick beurteilen kann. Möglicherweise ist auf der anderen Seite ja was zu sehen, ein Blechschaden oder ein Hinweis auf einen Unfall oder so etwas. Aber das müssen die Kollegen von der Spurensicherung übernehmen.

    Er führte die beiden Brandts zu einem Polizeiwagen, bat sie, drinnen Platz zu nehmen. Jetzt musste er besonders vorsichtig sein. Irgendetwas an diesem Unfall, diesem Vorfall stimmte nicht, und er wollte von den Eltern soviel erfahren wie nur möglich. Zum Beispiel, ob Michael Ärger mit Mitschülern oder anderen Gleichaltrigen hatte, ob er mit Drogen zu tun hatte, selbstmordgefährdet war. All das musste er den Brandts rasch aus der Nase ziehen.

    Aber nach einer halben Stunde war er so schlau wie vorher. Die Eltern wussten von keinen Anfeindungen gegen ihren Sohn, der im Übrigen auf keinen Fall ein Selbstmörder sei, nichts mit Drogen zu tun hatte und auch kein Entführungsopfer sein konnte, weil es beiden Brandts zwar gut ging, sie aber auf keinen Fall ein Lösegeld zahlen konnten.

    Draußen hatten zwei Beamte den Roller nach Fingerabdrücken und ähnlichen Hinweisen auf die Vorgänge in dieser Nacht abgesucht. Erfolglos. Sie drehten ihn gerade herum. Auf der anderen Seite war ein bisschen Lack angekratzt. Aber das war bei weitem kein Hinweis auf einen schweren Verkehrsunfall.

    Ein Kollege, Karl Baumeister, kam auf Schmidt zu, sagte ihm, dass auch im Krankenhaus nachgefragt worden war. Aber es war eine ruhige Nacht gewesen. Keine Einlieferungen. Hier war der Junge also auch nicht.

    Schmidt bot den sehr aufgeregten Brandts an, sie in ihrem Wagen nach Hause zu bringen. Ein Kollege könne hinterher fahren und ihn dann wieder zurück in die Stadt nehmen. Mit dem nicht ganz uneigennützigen Angebot verband Schmidt die Hoffnung, noch in dieser Nacht einen Blick in Michaels Zimmer werfen zu können. Er war sich zwar noch nicht ganz im Klaren, wie er es anstellen könnte, mit ins Haus zu gelangen, aber unterwegs würde ihm schon etwas einfallen. Notfalls half immer die Lüge mit der Toilette.

    Zunächst protestierten die beiden Brands. Sie wollten am Ort des Geschehens bleiben. Aber Schmidt konnte sie überzeugen, dass das jetzt nichts brachte. Niemand wisse, wo Michael sei und ob er wieder hierher zurück kommen werde. Außerdem seien seine Kollegen noch eine Weile da und könnten Michael nach Hause bringen, falls er doch noch auftauche. Das alles hatte sie weit weniger überzeugt als sein letztes Mittel: „Vielleicht ist er ja auch schon zu Hause."

    Karl Brand hatte anrufen wollen. Er bat um ein Handy. Aber Schmidt überredete ihn, doch lieber nach Hause zu fahren. Daraufhin hatte Brand versichert, er könne selber fahren. Zum Glück bat Frau Brand den Polizeibeamten, doch noch mitzukommen. Sie hatte Angst, weil sie nicht wusste, was sie zu Hause erwarten würde, ob Michael, falls er wirklich daheim war, allein war – oder vielleicht nicht.

    Schmidt fuhr hinter ihnen her. Sie wohnten in einem kleinen Dorf vor den Toren der Stadt in einem großen, gemütlichen Haus aus den 70er Jahren. Frau Brand wartete nicht, bis ihr Mann den Motor abgestellt hatte. Sie riss die Wagentür auf, stieg aus, lief zur Haustür, schloss sie auf und rief ins Haus.

    „Michael! Michael? Bist du da?" Aber sie bekam keine Antwort. Wenig später wussten alle drei, dass Michael nicht zu Hause war.

    Schmidt brauchte gar nicht zu fragen. Sie hatten ihm Michaels Zimmer ganz freiwillig gezeigt. Es gab in diesem Raum auf den ersten Blick nichts Auffälliges. Es war ein ganz normales Zimmer eines 16-jährigen Jungen. Schmidt wusste zwar nicht, was er erwartet hatte, aber er war ein klein wenig enttäuscht. Ein bisschen hatte er schon gehofft, hier einen Hinweis auf Michaels Verschwinden zu finden. Aber es gab nichts. Ein paar Poster an der Wand, ein kleiner Fernseher, ein Bett, ein aufgeräumter Schreibtisch.

    Auf dem Schreibtisch lag ein Buch mit Gedichten. Auf Seite 97 aufgeschlagen. Schmidt nahm es in die Hand. Goethe. Der Erlkönig: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind…"

    Dass ein Junge in Michaels Alter Goethe-Gedichte las, wunderte den Polizeibeamten. Viel weiter kam er nicht, ehe ihn Michaels Mutter unterbrach.

    „Das haben sie gerade in der Schule gelesen, sagte sie. „Gedichte. Und dieses Gedicht, dieser Erlkönig, hatte es Michael besonders angetan. Können Sie sich einen Reim darauf machen?

    Schmidt antwortete gedankenverloren: Nein und dachte: „Erreicht den Hof mit Müh und Not, in seinen Armen das Kind war tot."

    „Ach ja. Er ist ein bisschen unordentlich", sagte jetzt Frau Brand, nahm ihm das Buch ab.

    „War, dachte Schmidt, „war unordentlich. Denn insgeheim glaubte er nicht, dass sie den Jungen lebend wieder sehen würden. Es war jetzt 02:15 Uhr und es gab keine Spur von ihm. Michael, so vermutete Schmidt, hatte sich umgebracht. Und er glaubte auch zu wissen wo. Schließlich wäre er nicht der erste junge Mensch gewesen, der die Nähe zur Talsperre für einen Ausstieg aus dem Leben genutzt hätte.

    Schmidt verabschiedete sich und versprach, sich zu melden, sobald es Hinweise auf Michaels Verbleib gab („Sobald er aufgetaucht ist, dachte er.), reichte Frau Brand die Hand und sagte: „Kopf hoch, wir finden ihn schon. („Irgendwann kommen sie alle wieder hoch.") Auch Herrn Brand gab er zum Abschied die Hand. Er war sich sicher, dass er in den nächsten Tagen eine traurige Nachricht überbringen würde.

    Am Morgen danach drehte sich am Frühstückstisch der Schmidts alles um den verschwundenen Rollerfahrer. Sebastian war am hartnäckigsten. Er wollte unbedingt wissen, wer er denn sei. Schließlich ließ sich sein Vater erweichen.

    „Du wirst es in der Schule möglicherweise ohnehin erfahren. Es geht um Michael Brand."

    „Michael?, Sebastian sah von seinem Frühstück auf. „Den kenne ich. Der ist zwei Klassen unter mir.

    „Und? Was weißt du von dem?"

    „Eigentlich nichts, sagte Sebastian. „Ist aber ganz nett. Wo soll der denn sein?

    „Das wissen wir nicht, sagte sein Vater. „Aber ich fürchte, es ist etwas Schlimmes passiert.

    „Tot?", fragte Sebastian.

    „Weiß ich nicht", meinte sein Vater. Aber Sebastian wusste, dass sein Vater genau das glaubte.

    Auf dem Schulhof war Michaels Verschwinden Hauptgesprächsthema. So etwas sprach sich eben schnell herum in einer Kleinstadt. Alle möglichen Theorien wurden ausgetauscht. Auch dass Michael vielleicht nur abgehauen sei. Weil seine Eltern angeblich so streng waren. Sebastian hielt sich zurück. Zwar wurde er von vielen Fragen bombardiert – schließlich wussten alle, dass sein Vater Polizist war – aber er hielt sich bedeckt. Sagte nicht, dass sein Vater an Michaels Tod glaubte. Und dass der meistens Recht behielt. So legte sich das Interesse an diesem Vormittag bald und man wandte sich anderen Themen zu. Zum Beispiel der Stadtgeschichte. Die hatte sich Sebastians Geschichtslehrer Mommsen zum Steckenpferd gemacht. Und seinen Schülern wollte er ebenfalls nahe bringen, was sich in der Vergangenheit in ihrer Heimatstadt ereignet hatte. Mommsen hatte ihnen die Aufgabe gestellt, sich einem bestimmten Thema besonders intensiv zu widmen. Sie sollten ein Ereignis oder ein bedeutendes Gebäude und seine Geschichte in Form eines längeren Referates aufarbeiten. Dieser Auftrag hatte Sebastian in diesen Tagen erstmals ins Stadtarchiv geführt.

    II

    Klaus Baum, der Archivar, hatte ihn freundlich empfangen. Sicher bekam er nur wenig Besuch, war den ganzen Tag allein mit den alten Büchern, Zeitungen und Sammlungsstücken. Viel alter Plunder, fand Sebastian, als er sich zum ersten Mal umsah. Umso faszinierender fand er den Archivar selbst. Was er sich als alten Mann mit Nickelbrille und Ärmelschonern vorgestellt hatte, entpuppte sich als etwa 40-Jähriger mit starken Geheimratsecken, angegrauten Haaren und Pferdeschwanz. In seinem Ohr blinkte ein kleiner Edelstein. Die Ärmel seines Jeanshemdes hatte er ein wenig hochgekrempelt. Heraus guckten zwei kräftige, ebenfalls grau behaarte Arme. Baum war nicht besonders groß, auch wenn sein Name diese Vermutung gerechtfertigt hätte. Sebastian konnte auf ihn herabblicken. Er schätzte ihn auf etwa 1,70 Meter. Sein untersetzter Körper steckte in einer schwarzen Hose, aus der ebenso schwarze Westernstiefel herausguckten, deren Spitzen sich nach oben gebogen hatten. Und so einer war Archivar. Sebastian konnte es nicht fassen.

    „Na? Auch vom Mommsen?", fragte Baum.

    „Ja, antwortete Sebastian, „aber woher wissen Sie…?

    Baum grinste. „Es waren schon viele deiner Mitschüler hier. Da hab ich mir gedacht, dass du auch wegen der Stadtgeschichte kommst. Ist Mommsens Lieblingsthema. Hat er uns auch schon mit gepiesackt. Aber irgendwie bin ich auf diesem Weg dann doch an Geschichte hängen geblieben. Aber das siehst du ja. Ich darf doch du sagen?"

    „Von mir aus. Eigentlich war es Sebastian ziemlich egal, ob er du oder sie sagte, Hauptsache, er konnte ihm helfen, in diesem unüberschaubaren Wust von Regalen und Büchern herauszufinden, was ihn interessierte. Kaum hatte er das gedacht, hörte er Baum fragen: „So. Und was soll ich dir raus suchen? Ich meine, mit welchem Thema willst du dich beschäftigen?

    Und eben das wusste Sebastian nicht genau. Er war einfach so ins Stadtarchiv gegangen und hatte gehofft, hier schon irgendwie auf ein Thema zu stoßen, das ihn interessieren könnte. Aber zwischen diesen Büchern war er mittlerweile nicht mehr so sicher, dass es einfach würde, sich festzulegen. Das wollte er diesem Baum aber nicht so ohne weiteres sagen. Schließlich war Geschichte im Allgemeinen und Stadtgeschichte im Besonderen sein Job. Er kümmerte sich täglich darum.

    „Weißt wohl noch nicht so genau, um was es gehen soll, oder?" Dieser Baum war wohl Hellseher.

    „Doch, doch, ich gucke nur mal, ob mir was ins Auge fällt", sagte Sebastian.

    „Sieh dich ruhig erst mal um, Baum grinste, „vielleicht begegnet dir ja etwas ganz besonders Interessantes.

    Sebastian hielt das für völlig ausgeschlossen. Aber er bedankte sich und zwängte sich zwischen zwei Regalreihen durch, die so eng gestellt waren, dass man nur seitlich hindurch gehen konnte.

    „Ziemlich eng hier", sagte er.

    „Stimmt sagte Baum von der anderen Seite der Regale. „Wir haben in den letzten Monaten so viele Bücher geschenkt bekommen, dass wir die Regale enger stellen mussten. Ich habe noch nicht alle beigeräumt. Sie müssen ja auch archiviert werden, weißt du, damit wir die später auch wieder finden. Manche Bücher müssen vorher auch noch ausgebessert werden.

    „Das machen Sie auch?" fragte Sebastian.

    „Nein, nein, kam die Antwort von der anderen Regalseite, „dafür haben wir eine Werkstatt an der Hand. Man kann ja auch nicht alles machen.

    Sebastian hatte das Ende der Regalreihe erreicht, stand vor einem Erker. An einer Wand hing ein altes vergilbtes, ziemlich großes Foto. Sebastian konnte den Marktplatz erkennen, die Bäume rund um den Platz, und – das Verwaltungsgebäude. Aber es sah ganz anders aus als heute. Eine große Treppe stand da, wo heute die Ladentüren waren. Die Treppe führte hinauf zu einer zweiflügeligen großen Holztür. Auf der Treppe standen Kinder, fein aufgereiht für den Fotographen. Kinder jeden Alters. Etwa 20, schätzte Sebastian. Ob das die ganze Schule war? Ob damals auch das Licht im Keller immer gebrannt hatte?

    Plötzlich war Sebastian klar, was sein Thema werden würde. Die alte Schule. Genau mit ihr wollte er sich beschäftigen. Und das sagte er Baum auch. Der schien sich zu freuen.

    „Darum hat sich bisher niemand gekümmert. Dabei ist es sicher eine interessante Geschichte. Das Haus hat schon eine Menge erlebt. Volksschule, Sparkasse, Verwaltungssitz. Da lässt sich was raus machen. Außerdem ist sie im Krieg ziemlich schwer beschädigt worden. Aber das will ich dir nicht alles erzählen. Das sollst du ja wohl selbst herausfinden. Ich werde dir beim Suchen helfen."

    Es wurde ein langer Nachmittag zwischen alten Buchdeckeln und Zeitungsseiten. Als Sebastian am frühen Abend (wie lange arbeitete eigentlich ein Archivar, oder wohnte der dort?) wieder auf der Straße stand, hatte er das Gefühl, seine Nase sei voller Staub. Er putzte sie und machte sich auf den Weg nach Hause. Sein Magen knurrte. Vor dem Verwaltungsgebäude (oder sollte er lieber alte Volksschule sagen?) blieb er stehen, sah an dem dreistöckigen Gebäude hoch, bog dann um die Ecke und blieb unvermittelt wieder stehen.

    Vor ihm breitete sich eine Lichtpfütze aus. Sebastian sah wieder zu dem Kellerfenster, in das er vor ein paar Tagen bereits geguckt hatte, ohne etwas zu sehen. Auch jetzt sah es dunkel aus. Sebastian sah an dem Gebäude hoch. Kam das Licht von oben? Nichts als Dunkelheit. Etwa zehn Meter entfernt stand eine Straßenlaterne. Das Licht, das sie warf, breitete sich um den Laternenpfosten aus.

    Keine Verbindung zu dem anderen Licht.

    Sebastian lief nach Hause. Jetzt musste er es wissen. Seine Geschwister und seine Eltern saßen am Tisch. Er rief nur den Namen seiner Schwester und ging gleich durch bis ins zweite Stockwerk, in sein Zimmer, hörte noch, dass ihm seine Schwester und sein Bruder folgten. Der Kleine auch. Egal jetzt. Sebastian starrte aus dem Fenster. Sebastians Schwester betrat den Raum, stand jetzt neben ihm. Er zeigte aus dem Fenster und fragte: „Was siehst du?", bekam aber nur eine Gegenfrage als Antwort:

    „Spinnst du?"

    „Nein, sagte er bestimmt. „Was siehst du?

    „Willst du mich veräppeln, oder was?, fragte seine Schwester wieder. Dann schob sie der kleine Bruder zur Seite, ging ans Fenster, sah hinaus und sagte: „Im Keller da hinten brennt Licht.

    „Na bitte, sagte Sebastian, er sieht es auch."

    „Natürlich sehe ich das. Bin ja nicht blind oder trage meine Brille nicht", entgegnete Max und erntete einen bösen Blick seiner Schwester, die danach wieder aus dem Fenster sah.

    „Das sehe ich auch ohne Brille, sagte sie etwas beleidigt. „Konnte ich denn wissen, dass dich ein Licht in einem Keller so brennend interessiert?

    „Ich wollte nur wissen, ob ihr es seht, sagte Sebastian („außerdem kommt es nicht aus dem Keller, dachte er) und schob seine Geschwister wieder aus dem Zimmer. „Und jetzt raus hier."

    „Bist du bescheuert oder was?, fragte sein kleiner Bruder und Kathrin ergänzte: „oder fürchtest du, dass du Halluzinationen hast?

    „Weder noch", murmelte Sebastian und schloss die Tür hinter den Beiden.

    Sie sahen es auch. Also war das Licht da und es war möglicherweise nichts Besonderes daran. Gar nichts.

    III

    Das Licht war schlecht in dieser Schulklasse. Aber das war bei weitem nicht das Schlimmste daran. Es reichte ja aus, um in den Büchern zu lesen, die Aufgaben zu erledigen, die Arbeiten zu schreiben. Das Licht war kein Problem.

    „Wir haben einen neuen Mitschüler, sagte jetzt der Lehrer. Er war ein alter Mann mit einem grauen Haarkranz, hinter dem unablässig die Spitze des Zeigestocks wippte. Leider benutzte er den nicht nur zum Zeigen. Um den Hals schloss sich eng ein sogenannter Vatermörderkragen, ein altmodischer Stehkragen, um den er eine schwarze Fliege gebunden hatte. Ein paar Zentimeter höher, direkt unter seiner Nase saß eine weitere „Fliege. Früher war sie wohl mal ebenso schwarz gewesen wie die Fliege auf dem Hemdkragen. Heute war sie grau wie seine Kopfhaare.

    Der Name des Lehrers schien seinen Gemütszustand wiederzugeben. Er hieß Sauer. Die Schüler nannten ihn Giftzwerg oder Väterchen Frost, weil er zum einen relativ klein, zum anderen kalt wie Eis war. Jetzt legte er dem neuen Mitschüler eine Hand auf die Schulter. Eine große, schwere Hand, deren Rücken bis zu den mittleren Fingergliedern grau behaart war und so gar nicht zur Statur des Mannes zu passen schien.

    „Wie heißt du denn?", fragte er den Neuen.

    „Michael, antwortete dieser. Ehe er den Nachnamen sagen konnte, unterbrach ihn Sauer barsch. „Das genügt. Wir müssen hier keine Nachnamen kennen.

    Michael wunderte sich. Keine Nachnamen? Wie wollte er dann Zensuren verteilen? Viel mehr als diese Frage beschäftigte ihn, wie er wohl hier her gekommen war. Das war auf keinen Fall seine Klasse. Er kannte niemanden. Außerdem saßen Schüler unterschiedlichen Alters zusammen. Es sah so aus, als wären zwei, drei Klassen in einem Raum zusammengefasst. Michael erinnerte sich, so etwas mal von seinem Opa gehört zu haben. Der hatte in einem Dorf eine einzügige Volksschule besucht. Dort hatte der Lehrer alle Klassen geleichzeitig unterrichtet. Michael konnte sich nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Wenn dieser Lehrer hier den Jüngeren das Rechnen oder was auch immer beibrachte, war doch bestimmt im hinteren Teil der Klasse, dort wo die größeren Schüler saßen, ein Höllenlärm.

    Außerdem stank es in dieser Klasse. Modrig oder so. Und wie die alle angezogen waren. Völlig runtergekommen. Als hätten sie sich mit Lehm beschmiert und mit Staub gepudert. Dieser Lehrer machte da keine Ausnahme. Sein schwarzer Gehrock war verschlissen, die Hose mit den weißen Nadelstreifen an den Säumen ausgefranst. Die schwarzen Lederschuhe waren durchzogen von haarfeinen Rissen.

    Die Hand auf seiner Schulter schob Michael in Richtung der hinteren Bänke. Im Vorbeigehen stellte Michael fest, dass insgesamt drei Stühle leer waren. Dann wurde er von der schweren Hand auf einen der leeren Stühle gedrückt. Sein Stuhl wurde von hinten unter das Pult geschoben, so dass er fest zwischen Stuhllehne und Pult eingeklemmt wurde. Dann ließ der Druck der Hand nach.

    „Hier ist dein Platz. Du wirst sehen, dass du dich bald wohlfühlen wirst", sagte der Lehrer und einige der älteren Schüler sahen irgendwie beschämt vor sich. Michael glaubte kaum, dass er sich zwischen diesen Lumpengestalten bald wohl fühlen würde. Außerdem wollte er nach Hause. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal zu Hause gewesen war.

    Sauer hatte sich wieder nach vorne zurückgezogen.

    „Bitte Herr…"

    „Sauer ist mein Name, ich vergaß", sagte der Grauhaarige mit sonorer Stimme.

    „Bitte Herr Sauer, ich, Michael wusste nicht, was er in dieser unerklärlichen Situation sagen sollte. Darum bitten, dass er nach Hause gehen durfte? So entschied er sich anders: „Ich meine, ich möchte wissen, wo ich hier bin und wie ich hier hin gekommen bin.

    „Nun Michael, sagte dieser Herr, dieser Sauer, du bist hier her gekommen wie deine Mitschüler auch. Du bist hier, weil du hier zur Schule gehst. Oder gehst du nicht immer zur Schule?" Der Ton wurde eine Nuance schärfer.

    „Doch schon, Aber…"

    „Aber? Sprich es ruhig aus."

    „Aber nicht in diese Schule, in diese Klasse."

    „Ich weiß. Sauers Stimme klang jetzt nachdenklich. „Das ist sehr bedauerlich. Denn eigentlich ist das hier deine Schule und deine Klasse.

    „Blödsinn, brach es aus Michael heraus. „Ich hatte eine andere, eine bessere Klasse.

    Ihm fiel auf, dass es in der Klasse bei dem Wort „Blödsinn unglaublich ruhig geworden war. Es war so ruhig wie… „wie in einer Gruft, schoss es Michael durch den Kopf. Und es roch auch so. „Wie in einer Gruft."

    Während er das dachte, war Sauer wieder zu ihm zurückgekehrt. Aber Michael wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Er wusste auch nicht, was es hieß, wenn der Zeigestock hinter Sauers Glatze so nervös wurde, dass es aussah, als vollführe er auf dem glatten Parkett der hohen Stirn dieses Lehrers ein Tänzchen. Aber seine Mitschüler wussten es. Niemand von ihnen wagte, sich zu bewegen. Keiner sagte einen Mucks. Sauer stand jetzt wieder vor Michael.

    „Blödsinn, sagst du. Das soll wohl heißen, dass ich Blödsinn erzähle, was?"

    „Nein. Aber. Ich… Michael druckste herum. Dann sagte er, was er in seiner alten Klasse wohl auch gesagt hätte: „Ja. Das ist Blödsinn.

    Er hatte gerade die erste Silbe des Wortes

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