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Schuldlos tot. Ein Hamburg-Harburg-Krimi
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eBook442 Seiten4 Stunden

Schuldlos tot. Ein Hamburg-Harburg-Krimi

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Über dieses E-Book

Petra Taler, Kommissarin aus München, erbt von ihrer Großmutter ein marodes Bauernhausanwesen im Alten Land. Mit der Versetzung nach Hamburg-Harburg gerät sie schlagartig in einen brisanten Fall: Die Ermordung der Tierarztgattin Regine Carlsen aus der Harburger Geldadel-Gemeinde Eißendorf. War sie tatsächlich "ohne Schuld", wie die Nachricht des Mörders am Tatort lautet? Doch warum musste Regine dann sterben?
Neben Erbstreitigkeiten der Familie, ständigem Stress mit den Handwerkern und weiterem privaten Ärger versucht Taler nun, Licht ins Dunkle zu bringen und die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen beginnt.
SpracheDeutsch
Herausgeberacabus Verlag
Erscheinungsdatum1. Mai 2014
ISBN9783862822669
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    Buchvorschau

    Schuldlos tot. Ein Hamburg-Harburg-Krimi - Angela L. Forster

    1

    Am Mittwoch, den 10. März 2010, Viertel vor sieben am Morgen, riss das Telefonklingeln Hauptkommissar Richard Winter aus dem Schlaf. Er richtete sich auf, warf einen Blick auf seine Frau und schlurfte die Treppen nach unten in die Diele.

    ›Das Revier ruft an‹, blinkte im Display. Selber schuld, dachte er. Warum musste er auch freiwillig den Bereitschaftsdienst übernehmen? Aber Ingeborg war mit ihrer Schwester in der Stadt verabredet, und Lisa, seine Tochter, tobte bis Ende nächster Woche als kunstbesessene Touristin mit ihrem Freund durch Florenz. Wobei sie selbst bei Anwesenheit mit ihren zweiundzwanzig Jahren nicht erpicht gewesen wäre, mit ihrem Vater den Tag zu vertrödeln. Was sollte er also den ganzen Tag alleine anstellen? Er würde nur grübeln. Und dafür gab es in sechs Tagen mehr Gelegenheit, als er vertragen konnte.

    »Ja«, warf er müde ins Telefon.

    »Richard, ich bin es, Axel. Tut mir leid, dass ich so früh anrufe.«

    Axel Berger war Oberkommissar der Wache 45 in Harburg-Wilstorf und wie sein Chef Richard Winter zuständig für Gewaltkriminalität. »Schneider hat mich informiert. Eine Leiche. Tierarztpraxis Carlsen. Eißendorf. Bin vor Ort. Nils ist im Bilde«, erklärte der, wie es seine Art war, im gewohnten Telegrammstil.

    »Wo?«

    »Eißendorf. Tierarztpraxis. Das ist oben …«

    »Ich weiß, wo das ist«, raunte Richard. Schweiß trieb ihm auf die Stirn. »Ich komme.«

    »War das Lisa?« Ingeborg war Richard die Treppen nach unten gefolgt. Schlief ihre Tochter auswärts, klebten ihre Ohren ständig am Telefon. Obwohl Lisa erwachsen und in Begleitung ihres Freundes Alexander war, beschlich sie diese mütterliche Unruhe, die sie immer überfiel, flog Unausweichliches ins Haus. Dreimal rief sie die letzten Tage auf Lisas Handy an, immer bekam sie zu hören: »Alles in Ordnung, Mutsch.« Doch ihr mulmiges Gefühl blieb.

    »Nein«, sagte Richard, »das war das Revier. Eine Leiche liegt bei Carlsen in der Praxis.«

    »Du meinst …?«

    »Genau da«, sagte er und küsste Ingeborg auf die erröteten Wangen.

    Eine Viertelstunde später quetschte er sich hinter das Steuer von Ingeborgs Golf und rief seine neue Kollegin Petra Taler auf ihrem Handy an. Er ließ durchklingeln. Die Mailbox sprang an. Er legte auf und wählte erneut.

    2

    7 Uhr 10 Minuten.

    »Herrschaftszeiten!«, fluchte Petra. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Leer. Sie hatte vergessen einzukaufen. In München hatte sich Klaus um diese und andere unliebsamen Aufgaben gekümmert. Aber Klaus gab es nicht mehr, hier nicht mehr. Sie griff nach dem Glas Johannisbeermarmelade und der Erdnussbuttercreme, rutschte hinter den Küchentisch und schmierte sich einen Toast. Wieder sah sie auf die Uhr und fluchte. Sie griff nach dem Handy. Als sie die ersten zwei Ziffern der Tischlerei eintippte, leuchtete das Display auf. ›Chef ruft an‹. »Morgen, Richard«, murmelte sie, ging auf die Knie und angelte mit der freien Hand unter dem Kommodenschränkchen, »was gibt’s?«

    »Morgen, Petra. Wo stecken Sie? Das ist das dritte Mal, dass ich versuche, Sie zu erreichen.« Richard fuhr den Golf aus seiner Garage am Langenberg in Marmstorf und lenkte links in die Bremer Straße. Auf der zweispurigen Zufahrtsstraße staute sich der Verkehr. Er bremste. Stop and go. Der Rauch der kleinen Aalräucherbude auf dem Gelände des griechischen Restaurants ›La Granja‹ zwängte sich beißend durch den Spalt der Fensteröffnung, verfolgte ihn. Er klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, hielt eine Hand am Lenkrad und kuppelte mit der anderen vom ersten in den zweiten Gang.

    »Ich stecke nicht, ich suche«, erwiderte Petra.

    »Was sagten Sie? Das rauscht.« Für zwei Sekunden überließ er das Lenkrad göttlicher Führung, setzte den Blinker und fuhr links auf die Abbiegespur hinter die Autoschlange, die in die Friedhofstraße einbiegen wollte.

    »Unwichtig. Was gibt’s, dass Sie mich an meinem freien Tag anrufen?«

    »Arbeit.« Richard warf einen Blick nach rechts zur ›Bruzzelhütte‹ auf der anderen Straßenseite: ›Donnerstag After-work-Wurst bis 22 Uhr. Handwerkerfrühstück ab 6 Uhr‹. Er sah in den Rückspiegel. Noch wäre Zeit, die Spur zu wechseln. Ein Becher Kaffee, ein Schinkenbrötchen, den Tag in Ruhe beginnen.

    »Oh nein! Wir haben den Dienst getauscht, schon vergessen?«, sagte Petra, während sie weiter auf Knien rutschend mit der freien Hand ein paar Turnschuhe unter dem Schränkchen hervorzottelte.

    »Aber wir …«

    »Warten Sie, Richard. Es klingelt an der Tür, ich muss kurz …«

    Barfuß rannte Petra in die Diele. Die kalten Fliesen verwandelten ihre Füße in Eisklumpen. Einen Fuß über den anderen reibend, eisige Kälte und spitze Krümel beseitigend, polterte sie los: »Es wird auch Zeit, dass Sie …« Sie brach ab, als sie Elli Finkemann vor der Haustür stehen sah. »Entschuldigung, ich dachte, Sie sind der Tischler.«

    »Heute ist Mittwoch, Frau Taler. Das Wohnzimmer ist dran.«

    Mit Boxermädchen Bonny an kurzer Leine drückte sich Elli in die Diele. Elli Finkemann trug Bluejeans, Turnschuhe und Windblouson. Das kurze aschblonde Haar lockte sich in frischer Welle und grüngraue Augen vermittelten Elan und Tatkraft. Ihre achtundsechzig Jahre nahm man der agilen Rentnerin nur schwer ab. »Und wenn Sie auf den Tischler warten …« Stirnrunzelnd fuhr Elli mit dem Zeigefinger in der Luft vor Petras grünblau gestreiften MännerBoxershorts bis zum Büstenhalter auf- und abwärts. An ihrem Tattoo hielt sie inne. Eine fünfzehn Jahre alte Mutprobe, mit Nähnadel und Füllertinte, oberhalb des linken Schulterblattes, im Koksrausch gestochen, die langsam verblasste. Die Trotzphase und Zeit der Ringelstrümpfe war vorbei. »Dann ziehen Sie sich was an. Das ist keine Aufmachung, um Handwerkern die Tür zu öffnen«, bemerkte sie tadelnd. Ihr Blick klebte an Petras Schulter, dem zerrissenen Herzen und dem durchgezogenen Schriftzug ›Love kills‹. Ihre Gehirnzellen ratterten.

    »Ja, das wollte …«, begann Petra, als ihr einfiel, dass der Chef noch in der Leitung hing. »Hallo, Richard. Sind Sie noch da?«

    »Ja.« Sein Magen warnte lauter. Er hasste es, ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen.

    »Also, was ist los?«

    »Eine Leiche in der Tierarztpraxis Carlsen in Eißendorf. Finden Sie den Weg?«

    »Nein. Ja. Herrschaftszeiten!« Petra fluchte leiser. »Und was mache ich bei dem Regen mit meinen Fenstern? Wissen Sie, wie schwer es ist, hier auf dem Dorf Handwerker an Land zu kriegen?«

    »Versuchen Sie’s mit beten.« Richard grinste, trat das Gas durch und rutschte bei Gelb hinter einem fetten BMW über die Ampel in die Friedhofstraße.

    »Hilft nicht. Der da oben hat letzte Nacht zu viel Tequila gesoffen und kotzt sich die Seele aus dem Leib.« Auf einem Bein hüpfte Petra zurück in die Küche, pulte ein halb getrocknetes und hartnäckig klebendes Stück Spaghetti von der Unterseite ihres großen Zehs, schleuderte es mit spitzen Fingern in die Spüle und schlüpfte in Jeans, Socken, Bluse und Schuhe.

    »Wer hat gesoffen?«

    »Unwichtig«, murmelte Petra. »Bin unterwegs.« Sie klappte das Handy zusammen und schnappte sich den Toast, der noch auf dem Holz des Küchentisches neben Marmeladen- und Erdnussbutterglas lag, wo sie ihn geschmiert hatte.

    »Vor Jahren hat ein Herr Böttger das Porzellan erfunden. Wie kann jemand wie Sie, mit dem Hang zum Perfektionismus, so schluderig sein? Wo soll ich denn nun anfangen zu putzen?« Ellis gängiges Gewetter tönte noch, als Petra über die regennasse Rasenfläche zu ihrem Käfer, den sie ›den Blauen‹ nannte, glitschte. Die Höflichkeitsblume kam später.

    3

    Nach der Königreicher Straße lenkte sie den Blauen auf die zweispurige Hauptstraße und hielt sich östlich Richtung Neugraben. Der Wettergott hatte sich ausgekotzt und die Sonne schenkte dem Morgen ein paar ihrer Strahlen. Kurz hinter der Este, einem schmalen Fluss, dessen nicht hochgezogene Fahrbahnbrücke sich wie eine Wand vor ihr aufbäumte und Petra zwanzig Minuten zum Warten zwang, drückte sie den Fuß aufs Gas. Erst kurz vor Neuenfelde verlangsamte sie die Fahrt. Der Starenkasten an der Dorfeinfahrt hatte seinen Obolus diese Woche. Sie drosselte das Tempo auf fünfzig und gleich weiter auf zwanzig, als sie die Menschenmassen auf der Straße entdeckte.

    Dutzende Teenies tauchten auf der linken Deichseite auf und entrollten meterlange Transparente. Andere trugen Schautafeln, die sie jedem Autofahrer gestikulierend und schimpfend vor die Windschutzscheibe hielten. Petra trat die Bremse durch und kurbelte das Fenster runter, um das Gekreische auf der Straße besser zu hören.

    »Hey, Sie da in Ihrem alten Kasten. Wissen Sie, dass Sie die Umwelt verpesten?« Ein Teenager, der siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein mochte, mit dunklen Locken und pickligem Gesicht, das mit glatter Haut hübsch gewirkt hätte, hielt ihr sein glotzendes Augenpaar vor die Nase.

    »Ja«, sagte sie. Sie zog sich aus dem Pfefferminzatem, beugte sich vor und versuchte, die in schwarzer Schrift besprayte Papptafel, die ihr ein rothaariges Mädchen an die Windschutzscheibe klatschte, zu entziffern. ›ENTEIGNUNG IST ENTWÜRDIGUNG!‹ las sie und begriff, dass es keine Protestaktion um Verkehrsteilnehmer war, sondern um die Planung der Autobahnzusammenführung der A 20 und A 26 ging.

    »Alles wird zerstört. Die Bonzen vergewaltigen die Flora und Fauna. Wir müssen im Lärm leben, von der Schadstoffbelastung des Obstes im Alten Land ganz zu schweigen. Die Bauern verarmen und das Obst vergammelt. Wollen Sie das verantworten?« Energisch riss der Teenie am Gürtel seiner Skaterhose, die ihn aussehen ließ, als hätte er einen Schwergewichtler aus dem Beinkleid geprügelt.

    »Was?«, fragte Petra mit gewissem Abstand zum Glotzauge. Ihre Gedanken hingen bei ihren undichten Fenstern, ihrem freien Tag und der Leiche, zu der sie Richard beordert hatte. »Tut mir leid, …« Weiter kam sie nicht.

    »Ja, allen tut es leid. Und aufwachen tun sie erst, wenn sie selbst betroffen sind.« Der rote Strubbelkopf mit der Schautafel schob sich neben den pickeligen Teenie.

    Zwei Gesichter, ein Bild. Das Sams.

    4

    »Meine Urgroßeltern lebten hier schon von der Landwirtschaft. Doch was mit mir ist, daran denkt keiner«, wetterte der Rotkopf weiter. »Wer kauft mein Obst, wenn ich mit dem Studium fertig bin und auf dem Hof meiner Eltern arbeite? Wenn es dann noch der Hof meiner Eltern ist. Viele Pachtverträge hat die Stadt gekündigt. Friedrichsen, Kreuter, Hinrichsen, der junge Quast, alles Nachbarn, die zusahen, wie der Bagger mit der Abrissbirne ihre Häuser plattmachte. Und vor drei Jahren setzten uns die Hamburger Pfeffersäcke die verlängerte und verbreiterte Airbus-Landebahn vor die Nase. Das Mühlenberger Loch ist teilweise zugeschüttet. Viele Vogelarten sind gewichen. Und verdammt: Bäume wachsen nicht auf Beton.«

    »Kinder, ihr habt recht«, sagte Petra und kam sich schrecklich selbstgefällig vor.

    Sie kannte die Proteste, die mehr und weniger lautstark aufflackerten. Und sie kannte die unübersehbaren Protesttransparente der Ökonomen, gebunden wie Hängematten flatternd in den Apfelplantagen. Schwarze Schrift auf weißer Plane. ›GEBT UNSEREN KINDERN EINE CHANCE! DIE NATUR MUSS BLEIBEN! BLÜHENDE LANDSCHAFTEN – KEIN TEER‹ oder Totenkreuze, dick, groß und schwarz gemalt, von denen jeder wusste, wovor dieses Fleckchen Erde sich fürchtete.

    »Aber ich habe jetzt keine Zeit für euch.«

    Ohne auf Antwort zu warten, die sie erneut in einen Wortwechsel verstrickten, kurbelte Petra das Fenster hoch und gab langsam Gas.

    Sie hätte aussteigen und den beiden enthusiastischen Teenies klarmachen müssen, dass ihr nicht egal war, was mit dem Alten Land geschah. Sie hätte ihnen sagen müssen, dass sie selbst im Alten Land lebte, das Land von Kindheit an kannte und liebte und die Arbeit der Bauern schätzte. Und dass sie nie anderes behauptete, waren auch ihre Vorfahren mit diesem Land, dieser Erde, verwachsen. Doch alles im Leben hatte Vor- und Nachteile. Und dazu gehörte das Für und Wider des geplanten Trassenausbaus. Die Teenies schlugen ihrem Blauen aufs Hinterteil wie einem sturen Klepper und pöbelten hinter ihr her.

    Petra drehte am Radioknopf.

    Als sie an der Stellmacherstraße vorbei in den Nincoper Deich Richtung Neu Wulmstorf einbog, drückte sie erneut den Fuß aufs Gaspedal.

    5

    Eißendorf, in Harburg, gehörte zum ausgesuchten, wenn nicht nobelsten Örtchen der Hamburger Süderelbe. Vereinzelte Mehrfamilienhäuser aus den 60er Jahren, einheitliche Thujahecken, gemähter Rasen und akkurat bepflanzte Rabatten prägten die Gegend ebenso wie imposante Jugendstilvillen, viele übernommen von Rechtsanwälten, Bankern, Ärzten und Kinderheimen.

    Am Anfang des Lichtenauerwegs war alles dicht. Jeder, der sich fortbewegen konnte, schwirrte in der Straße umher. Petra kurbelte die Scheibe runter, hielt den Arm zum Fenster raus und schwenkte den Dienstausweis wie eine Fahne in der Hand. Im Schritttempo und mit einem Hupkonzert verschaffte sie sich den nötigen Platz. Hinter einem Golf mit dem Aufkleber ›Stoppt Tierversuche! Nehmt Kinder-schänder!‹ scherte sie ein, parkte die eine Hälfte des Blauen auf dem Bürgersteig, die andere Hälfte zur Straße raus.

    Auf gegenüberliegender Straßenseite, neben dem Schild einer tierärztlichen Praxisgemeinschaft, parkten zwei Streifenwagen mit zuckendem Blaulicht, der RTW und Notarztwagen. Passanten drängten sich auf dem Bürgersteig und steckten die Köpfe zusammen wie alte Bekannte. Dass es junge Hunde regnete, schien keinen zu stören. Minütlich füllte sich die Straße vor der Tierarztpraxis. Immer mehr Menschen trieben aus benachbarten Häusern herbei, um der inzwischen herrschenden Volksfeststimmung beizuwohnen. Auf den Balkonen der gegenüberliegenden sechs Parteienhäuser versammelten sich neugierige Zuschauer. Mit Ferngläsern ausgerüstet, hingen sie unter ausgedrehten Markisen, als bestaunten sie eine Weltmeisterschaft. Aus der Seniorenwohnanlage, einem rot geklinkerten Winkelgebäude, am Ende der Sackgasse, strömten Rentner mit Stöcken, Rollstühlen und Gehhilfen. Eingehakt zu Pärchen, meist gleichgeschlechtlich, dicht aneinandergedrückt unter bunten Regenschirmen, entrannen sie der häuslichen Tagesordnung. Autofahrer hupten und schimpften aus Autofenstern. Ein Schäferhund und zwei Westentaschentölen kläfften um die Wette. Eine Frau brüllte in ihr Handy, ein Rentner tippte sich an die Stirn und eine Gruppe junger Männer lachte über einen Witz, den sie gerade gehört hatten.

    Petra schnürte die Turnschuhe, zog den Kopf ein und rannte über die Straße. Der Wind peitschte ihr den Regen wie Nadelstiche ins Gesicht. Unter ihren Sohlen knirschte Rollsplitt, Regenwasser spritzte an ihre Hosenbeine und versickerte in den Strümpfen. Funkgeräte knarzten. Uniformierte versuchten, Informationen umstehender Personen in Notizheftchen zu schreiben, bevor diese regennass verwischten wie die Spuren der letzten Nacht. Andere Kollegen beruhigten aufgebrachte Anwohner, die mit ihrem Auto zur Arbeit mussten und auf der Straße, versperrt von Einsatzfahrzeugen, nicht vorankamen.

    Mit Ellenbogeneinsatz zwängte sie sich durch die Menge der Schaulustigen. Vor einer jungen Streifenpolizistin, die käsig um die Nase war, zückte sie den Dienstausweis und duckte sich, um hinter das Absperrband zu kommen. Richard Winter stand unter dem gläsernen Eingangsvordach des rot geklinkerten Praxis-Flachbaus. Petra fand, er sah übernächtigt aus, blass, mit eingefallenen Wangen und breiten bläulichen Augenringen unter den Brillengläsern; so, als schlüge er sich die Nächte um die Ohren.

    »Da sind Sie ja«, brummte der. »Es regnet noch.«

    »Der kotzt wieder«, sagte sie. Mit den Handflächen strich sie sich den Regen aus dem Gesicht.

    6

    Mittwoch, 10. März, 8 Uhr 32 Minuten.

    Der Weg zum Tatort führte am Anmeldetresen vorbei. Oberkommissar Axel Berger, mit blauen Plastikstulpen über den Schuhen, stand am Ende des Ganges. Als er Petra und Winter kommen sah, schlurfte er ihnen entgegen.

    Berger war vierunddreißig Jahre und seine athletische Figur machte ihn zu einer unverschämt gut aussehenden Erscheinung. Frauen klebten an seinem offenen Lachen wie Fliegen im Netz. Und wirkte er manchmal etwas mundfaul und passte mit seinem verwegenen Äußeren eher in eine Rockergang, so besaß er doch alle Voraussetzungen, die ein Kommissar haben musste. Er war ein gewissenhafter und selbstständiger Kollege mit gutem Gespür.

    »Sie waren der erste Beamte am Tatort?«, fragte sie.

    Er nickte. Eine blonde glänzende Strähne fiel ihm in die Stirn.

    »Was haben wir?«

    »Eine Frau, circa zweiunddreißig, dreiunddreißig Jahre. Regine Carlsen, die Frau des Arztes. Ein Volker Carlsen mit Kollegin Brigitte Made. Beide zusammengeschlagen. Sind drinnen.« Er wies zum Ende des Ganges, wo eine Zwischentür zwei Operationsräume trennte. »Leben noch.«

    »Und Sie haben …«

    »Den RTW gerufen. Ja«, sagte er und sah Petra aus meerblauen Augen an.

    »Und die Rechtsmedizin?«

    Er nickte ein zweites Mal. Die Strähne über der Stirn wippte. »Jensen ist da. Spurensicherung unterwegs.«

    »Wer hat uns verständigt?«

    »Eine Arzthelferin. Sitzt im RTW. Gesehen hat sie niemanden, sagt sie.«

    »Danke«, sagte Petra und ging den zehn Meter langen Gang entlang. Winter folgte ihr. Als sie sich dem Tisch näherte, der in der Mitte des Raumes stand und für Operationen an Tieren vorgesehen war, hielt sie den Atem an.

    Burgunderroter Samt umschlang weiße Haut. Lange dunkle Locken lagen abrasiert auf dem Fliesenboden. Ein Collier feuriger Rubine, gelegt in ein Dekolleté, funkelnd im Neonlicht. Ein graues vierfingerbreites Gewebeband schnürte den Hals der Frau. Sie hatte die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Ein Sisalseil band ihre Arme und Beine an den Tisch. Petra schätzte, sie war drei, vier Jahre älter als sie selbst. Wie Berger vermutete, zweiunddreißig, dreiunddreißig. Neben ihrem Kopf lag eine weiße Rose.

    Als Rechtsmediziner Heiner Jensen Petra sah, hob er den Blick. »Moin«, sagte er, »schön Sie kennenzulernen.«

    Sie nickte. »Gleichfalls«, sagte sie und verzog die Mundwinkel zu einem knappen Lächeln.

    7

    Mit Anfang vierzig war Jensen mittelgroß, kräftig, aber nicht dick. Seine Bewegungen fanden flink und sicher ihr Ziel, seinen Blick leitete er geradlinig. Wie sie hörte, war er ein Kollege, der seinen Beruf ernst nahm und keinen Feierabend kannte. In ihrer bisherigen dreimonatigen Amtszeit in Harburg-Wilstorf, war dies ihre erste Zusammenkunft.

    »Schöne Schweinerei, was?« Er lächelte ein sympathisches Lächeln. Mit einem medizinischen Gerät, das einer Sandschaufel für Kinder ähnelte, wies er zur Zwischentür, die beide Räume trennte, und wo ein kleiner, dicker, rothaariger Mann auf einem Plastikstuhl saß. Er trug einen schwarzen Anzug und eine schwarz glänzende Fliege baumelte geöffnet über dem blutverschmierten ehemals weißen Hemd. Entgegen der Frauenleiche hatten Schläge sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Knochenspitzen stachen durch zertrümmerte Hände, sein Mund war krampfhaft verzerrt. Langsam schlug er die Augen auf, gelber Schleim trübte ihm den Blick. Tränen strömten aus den Winkeln seiner Lider, liefen ihm über die Wangen, tropften auf sein Hemd. Er öffnete den Mund. Seine Kehle pfiff. Ein vergeblicher Versuch zu reden. Blutiger Schaum quoll ihm durch die Lippen und sein Kehlkopf verriet letzte Lebenszeichen.

    Im hinteren Operationssaal, in Jeans und Pulli, lag rücklings gefesselt auf einem zweiten Metalltisch ebenfalls eine Frau. Wie auch beim männlichen Opfer, hatten zielsichere Schläge ihren Körper übersät.

    »Das sieht mir eher nach einer Hinrichtung aus«, antwortete Petra.

    Jensen grinste wortlos und beugte sich wieder über Regine. Berger hob den Arm und machte Petra auf die Trennglasscheibe der Operationsräume aufmerksam: ›S. Sine Culpa‹. ›S. Ohne Schuld‹. Sie starrte die grellen roten Buchstaben an und dachte an einen lang zurückliegenden Fall aus München, von dem ihr Christoph berichtet hatte. Ein irrer Psychopath, der fünfzehn Greise auf dem Gewissen hatte, und den gleichen Schriftzug auf deren nackten Bäuchen hinterlassen hatte. Unschuldige Menschen, ein unaufgeklärter Fall. Doch wofür stand das ›S.‹ vor ›Sine Culpa‹? War es die Signatur des Täters? Warum wurde die Praxis überfallen? Warum wurde Regine ermordet? Wurde sie überhaupt ermordet?

    »Wie sieht’s mit einem biblischen Rächer aus?« Oberkommissar Nils Seefeld stand, eine silberne Tube in der Linken, mitten im Türrahmen. »Vielleicht ein Ritual- oder Sektenmord. Die weiße Rose neben dem Kopf der Toten, das ›S. Sine Culpa‹. Ich meine, wer schreibt: ›S. Ohne Schuld‹? Das ist ein gesetztes Zeichen.« Er öffnete die Kappe der Tube und verteilte einen Strang Paste auf ein rot gekratztes Halsstück. Einen Kopf kleiner als Berger, besaß Seefeld eine kräftige Figur und hellbraunes, streng nach hinten gekämmtes Haar. Seine Stoffhosen in dunklen Farbtönen, mit denen Hemd und Krawatte in konservativen Mustern konvenierten, komplettierten das Bild des undurchsichtig scheinenden Mittdreißigers. Mit seiner leicht introvertierten Art war er der Ruhepol im Team. Er hatte eine zähe Beharrlichkeit, wenn es darum ging, in verborgenen Dingen herumzuwühlen, die Petra ein wenig an sich selbst erinnerte.

    »Sag, Heiner«, fragte er, die Handgriffe Jensens begierig beobachtend, »ist das da oben mit Blut geschrieben?«

    Heiner Jensen hob den Blick zum Schriftzug. »Ich bin Rechtsmediziner, Nils. Frage Irma, wenn er kommt«, sagte er.

    Petra legte erneut den Kopf in den Nacken. »›S. Sine Culpa‹. S. ist ohne Schuld. Unschuldig«, sagte sie laut. »Meine Herren, ich glaube eher, dass hier ein Einbruchdiebstahl aus dem Ruder gelaufen ist. Was meinen Sie, Richard?«

    Richard zuckte mit den Schultern. »Und was wollte der Täter stehlen? Kranke Tiere? Die Portokasse? Medikamente?«

    »Also gut, aber ein Raubmord war es auf keinen Fall. Regines Klunker wären einem Blinden aufgefallen.« Petra spürte, wie ihre Haarwurzeln ihr ins Gehirn stachen. Und sie wusste, was das bedeutete: »Ich muss die Arzthelferin sprechen«, sagte sie.

    »Vergiss es, Mädchen.« Ein Sanitäter neben dem männlichen Opfer sah auf und verfolgte sie mit musternden Blicken.

    Sein schiefes Grinsen, wie ein krakeliger Strich von Kinderhand gezeichnet, gab ihm das aufgeblasene Arschloch-Grinsen zum Reinhauen. Du bist ein Scheißtyp, wenn ich will, verschling’ ich dich zum Frühstück, dachte Petra. Sie biss sich auf die Zunge.

    »Richard«, sagte sie und gab der Hintertür der Praxis, die einen Spalt offen stand, einen kräftigen Tritt, »ich muss an die Luft.«

    8

    Der Regen war müde geworden, der Wind wisperte leise und ein paar Sonnenstrahlen blinzelten durch vorbeiziehende Wolkenberge.

    »Was für’n Schlachtfeld.« Winter lehnte den Rücken an die Mauerwand und kreuzte die Füße wie zu einem Sonnenbad.

    »Schlachtfeld? Das ist ein Kriegsschauplatz. So eine Schweinerei sah ich zuletzt beim Hoki«, antwortete Petra, fuhr sich mit geöffneten Fingern durch die Haare und massierte ihre Kopfhaut.

    Winter schmunzelte. »Die Geschichte müssen Sie mir erzählen, bevor ich verschwinde. Die Zeitungen pflückten euch da unten ja tüchtig auseinander.«

    »Da oben.«

    »Oben?«

    »München liegt im Süden und das ist oben, nicht unten«, sagte sie, während sie eine ihrer selbstgedrehten Zigarette aus der Tabaktasche fischte.

    »Das kommt darauf an, aus welcher Ecke man das sieht.« Richard grinste. »Aber dieser Hoki, Petra, dieser Horoskopkiller, ich hörte das soll einer aus …«

    »Andermal, Richard.« Sie winkte ab. Sie wollte nichts hören von ihrem letzten Fall, der sie fast das Leben gekostet hatte. Zurzeit reichten ihr die Dämonen, die um sie herumschlichen und um die letzten Fetzen ihrer ausgefransten Seele stritten. Manche Dinge kann man nicht in eine Schachtel packen und sagen, es wird schon wieder. Dennoch wusste sie, wie wichtig es war, einen Schritt vor den anderen zu setzen und weiterzumachen, egal was passiert war und wie der Weg, der vor einem lag, aussah.

    Sie genehmigte ihrer Lunge vier tiefe Züge, pulte einen Tabakkrümel von den Lippen und schnippte den Stummel mit Daumen und Zeigefinger in das flirrende Farbenspiel einer Regenpfütze, die sich mit einer Schlierspur Motoröl mischte. Dann sah sie auf die Armbanduhr.

    Siebzehn Minuten nach neun. Die Sonne verschwand hinter dunklen Wolkenkarawanen, während dutzende Journalisten der hiesigen Presse um das Gebäude streunten wie ein Rudel hungriger Wölfe und alles und jeden ablichteten, was ihnen vor die Linse kam und irgendwie verwertbar schien.

    »Woher diese Provinzschreiberlinge alles erfahren, ist mir ein Rätsel. Irgendwann sind die die Ersten am Tatort«, sagte Petra. Ihr Handy vibrierte stumm in ihrer Jackentasche. Petra beachtete es nicht. Wahrscheinlich war es ihr Bruder Günther, der zum hundertsten oder tausendsten Mal einen Teil des Erbes forderte, das ihr Oma Johanna hinterlassen hatte. Oder es war Klaus, ihr Ex-Verlobter, der sie anbettelte, seinen Fetisch zu verstehen.

    »Das fehlte noch«, zischte Winter. »Lassen Sie uns reingehen. Sehen wir, was Medizinmann Jensen zu sagen hat. Mit der blutrünstigen Bande dürfen sich Nils und Axel rumschlagen. Ach, und bevor ich’s vergesse: Das ist Ihr Fall. Zeigen Sie mir, was Sie können, aber übertreiben Sie’s nicht. Ich will mir nicht sechs Tage vor der Pensionierung eine Kugel einfangen.«

    Petra wollte gerade auf Winters Worte antworten, als eine schrille Stimme hinter ihrem Rücken aufheulte: »He! Sie da! Was tun Sie da an der Tür? Wer sind Sie?« Eine Dame Ende sechzig stürmte auf die Kommissare zu. Mit ihrem Stockschirm stocherte sie in der Luft, als spieße sie Äpfel vom Baum. Sie trug ein Kostüm aus graubrauner dicker Wolle unter dessen Revers eine pinkgrelle Bluse hervorblickte. Ihr rundes Gesicht durchzogen an den Wangen ein paar geplatzte Äderchen und ein Doppelkinn quoll über den hochgeschlossenen Kragenrand des transparenten Regenmantels, der ihre Figur wie ein rundes Fruchtbonbon einhüllte.

    9

    »Kommt drauf an, wer das wissen will«, begann Petra.

    »Wie? Was? Ich verstehe nicht«, antwortete die Dame in der durchsichtigen Hülle und sah Petra misstrauisch an. Ihr weißes Haar, kuscheldicht um ihr Gesicht, wies für ihr burschikoses Auftreten recht weiche Züge auf.

    »Petra Taler, Kollege Richard, Kripo Harburg.« Sie trat zwei Steinstufen hinunter auf das unebene Pflaster des Parkplatzes. »Und wie ist Ihr Name?«

    »Annegret Kröger.« Sie schien verwirrt.

    »Gehören Sie zur Praxis?«

    »Nein. Ja. Ich bin die Haushälterin des Doktors. Aber was ist passiert? Warum stehen vorne am Eingang so viele Leute? Eine Polizistin hat mich weggeschickt. Wie soll ich zum Doktor?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.

    »Die Tierarztpraxis wurde überfallen«, erklärte Winter. Sein Tonfall klang so desinteressiert, als spräche er von einer Horde Giraffen, die auf Hawaii Schlittschuh fuhren.

    Annegret stützte die Hände in die Seite ihres Körpers, wo sich ihre Hüften befanden. »Überfallen? Was ein Pack! Diese Banausen! Die Finger sollen denen abfaulen.« Drohend schwang sie erneut den Stockschirm, der, mit der Metallspitze voran durch die Luft sauste und vier Schritte vor Petras Füßen in einer vermoosten Rille des Kopfsteinpflasters steckenblieb. »Und das in dieser Gegend. Diese Schweinebande. Früher gab’s das nicht.« Sie riss am Holzknauf des Schirmes und hämmerte mit der Regenschirmspitze auf Stein, bis das hängen gebliebene Pflanzengeflecht sich löste. Als sie den ersten Fuß auf den Steinabsatz setzte, um durch den Hintereingang zu marschieren, versperrte Petra ihr den Weg.

    »Sie können nicht zum Doktor«, sagte sie, verschweigend, dass sich hinter der Tür ein Tatort auftat. Für heute gab es genug Opfer.

    »Und der Schlüssel fürs Haus?« Annegret nahm den Fuß von der Treppe und trat zwei Schritte zurück.

    »Für welches Haus?«, fragte Petra.

    »Na, das des Doktors.«

    Petras Arm schwenkte auf das rot geklinkerte Flachdachgebäude.

    »Nein«, widersprach Annegret, »das ist die Praxis. Ich meine den Schlüssel für das Privathaus des Doktors.«

    »Und den holen Sie jeden Morgen aus der Praxis?«

    »Grundgütiger! Sehe ich aus wie

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