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NEUNZEHNER: Eine utopische Dystopie
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NEUNZEHNER: Eine utopische Dystopie
eBook364 Seiten5 Stunden

NEUNZEHNER: Eine utopische Dystopie

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Über dieses E-Book

In der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts haben Einzelschicksale an Bedeutung verloren und im wiedererstarkten britischen Empire verschwinden Menschen und Nachrichten. Noch nie ist Ally verreist, ohne dass ihr Bruder davon wusste. So begibt sich Matt auf eine Suche, die ihm Undenkbares über ihn selbst und die Welt offenbart. An der Seite von neu gefundenen Freunden gerät er in einen Strudel aus Gewalt und Verrat, der die Weichen für eine unvorstellbare Zukunft stellen wird.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum31. Dez. 2015
ISBN9783737583824
NEUNZEHNER: Eine utopische Dystopie

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    Buchvorschau

    NEUNZEHNER - Mark Lissy

    Kapitel 1

    'Ohne Wasser kein Leben', flatterte das Omen auf handgemalten Fahnen über ihren Köpfen; was eine Forderung sein sollte, wirkte vor der Wand aufgebotener Gewalt wie eine dünne Klage. Die Klagenden selbst wirkten so schwächlich und schmutzig wie die Ansammlung ihrer schiefen, traurigen Baracken. Ein kalter, schneidender Wind prüfte seit Stunden die Standfestigkeit der überwiegend nur notdürftig gekleideten Leute, die der übrigen Gesellschaft egal geworden waren. Mit trotzigen Gesichtern hielten einige unerschütterlich ihre Transparente hoch. In die wütenden Beschimpfungen ihrer Nachbarn, die ihre Beteiligung an der Demonstration aus Furcht verweigert hatten, mischte sich wachsende Verzweiflung.

    Ein zweiter, innerer Wall aus mehreren hundert Schwerbewaffneten hatte alle dreitausend Bewohner der Layton-Siedlung zusammengetrieben wie eine Herde verängstigter Tiere. Nun brach kalter Regen in dichten Wogen über die Ghettobewohner herein und spülte den Boden bald in schlammigen Strömen über ihre Füße. „Da habt ihr euer Wasser!", johlten hämisch grinsende Gesichter aus trockenen Unterständen herüber. Einige ältere Leute konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten und brachen erschöpft im Morast zusammen. Andere mühten sich nach Kräften sie zu stützen. Panik breitete sich aus, untermalt vom amüsierten Gelächter der umstehenden schwarzen Menge, die sich mit heißen Getränken aufwärmte.

    Vorne stemmte sich eine große, junge Frau mit versteinerter Mine entschlossen gegen die Schilde. Ihr dunkles, nasses Haar klebte in langen Strähnen an Stirn und Hals. Mit dem durchdringenden Pfeifton, der nun über das Gelände schallte, verschwand die letzte Menschlichkeit hinter blitzschnell angelegten Schutzmasken. Das ferngesteuerte Geschütz eines Panzerwagens feuerte eine Batterie Gasgeschosse in die Menge, von der sich Gruppen schreiend abtrennten und wie gehetzte Fischschwärme ziellos hierhin und dorthin flohen, um den beißenden Wolken zu entkommen. Immer neue Explosionen trieben sie wieder auseinander.

    Schlagstöcke schleuderten wild über den Zaun aus Schutzschilden. Hustend und mit panischem Blick reckte in vorderster Reihe eine Greisin ihr Banner wie eine Kapitulationsfahne in die Höhe. Der kräftige Stockhieb eines jungen Polizisten zerschmetterte ihren Kiefer. Mit blutendem Mund sank sie stöhnend in den Schlamm. Der Schrei ihres Mannes, der sich schützend über sie warf, verstummte unter den unbarmherzigen Schlägen der entfesselten Schergen, die in die Bresche der Gestürzten hereinbrachen wie Fluten über einen gebrochenen Damm.

    Die Züge der jungen Frau ließen weder Überraschung erkennen noch Furcht. Ein breitschultriger Mann baute sich drohend vor ihr auf. Suchend schaute sie durch das verspiegelte Visier und fixierte dann seine Augen. „Aus welchem County du auch stammst - das hier ist nicht deine Angelegenheit, Bürger", rief sie.

    „Verkriech dich hinter den anderen Ratten, kleine Schlampe, sonst wirst du es bereuen!", entgegnete der Beamte grob und überheblich hinter seiner Atemmaske. Es mangelte ihm an Möglichkeiten, um die Sache an sich überhaupt zu begreifen, dachte sie.

    „Das sind deine Mitbürger, deine Nachbarn!, appellierte sie ohne Hoffnung. „Aber wenn du glaubst, dass dich deine Uniform zu Gewalt gegen entrechtete Leute legitimiert, denen man schon alles genommen hat - ich werde darauf keine Rücksicht nehmen.

    „Du lächerliches Mist..." Seine Unflätigkeit endete so abrupt wie sein gleichzeitig abgefeuerter Stockhieb, der unkoordiniert ins Leere schwang, bevor er vor ihr zusammensackte. Würgend hielt er sich die Kehle, wo sie ihn getroffen hatte. Bevor er sich davon erholen konnte, trat sie kraftvoll gegen den Schild, der krachend gegen den Helm des Polizisten schlug, und stürmte in die Reihen der Angreifer. Mit Präzision traf sie jede der weniger gepanzerten Körperstellen, als hätte sie es lange geübt. Schnell lagen sechs, sieben schwarze Gestalten gekrümmt um sie herum, bis sie selbst das Gleichgewicht verlor und vornüber fiel. Im Schutz des Tumults hatte sich unbemerkt eine Drohne mit großkalibrigem Geschütz nähern können, deren Kugel den Oberarm der Frau durchgeschlagen hatte und mit roter Fontäne auf der Rückseite wieder ausgetreten war. Ein junger Mann direkt dahinter wurde von dem Geschoss getroffen und fiel mit blutender Brust auf die Knie. Die Häscher witterten ihre Chance. Zwanzig Arme griffen und schlugen nach der jungen Frau. Sie stürzten sich wie Ameisen auf eine verletzte Wespe und schleppten ihr überwältigtes Opfer fort in ihren Bau.

    Noch eine letzte Stunde trennte Matt vom genehmigten Urlaub. Die ersten freien Tage seit er den Job beim London Guardian vor beinahe einem Jahr bekommen hatte. Es war Ende März und beinahe jede Woche zog irgendwo auf der Insel ein Orkan mit Sturmfluten oder später Blizzard über das Land. Ein energischer Wind pfiff um den Block und fegte letzte Wolkenfetzen vom Himmel - harmlose Ausläufer eines mächtigen Zyklons, der erst noch Vormittag auf den äußeren Hebriden die Cottages einiger unbeachteter Insulaner dem Erdboden gleich gemacht hatte. Einige hundert Meilen davon entfernt, war das Verlagsgebäude so massiv wie eine militärische Einsatzzentrale und die Büros luxuriös beheizt. Das machte Matt Richards Büro in dieser Jahreszeit zu einem elitären Arbeitsplatz, für den viele bei der grassierenden Armut alles in Kauf genommen hätten. Auch Matt wusste diesen Komfort teilweise zu schätzen, aber ließ sich davon nicht korrumpieren.

    Bis vor etwa fünfzehn Monaten war der Guardian nur die größte Tageszeitung Londons; dann avancierte er zur einzigen – oder jedenfalls zur einzigen, die frei erhältlich war. Dieser Aufstieg gründete jedoch nicht auf dem marktwirtschaftlichen Effekt einer überragenden Popularität, sondern auf politischen Machtverhältnissen. Im Zuge ambitionierter Rekolonialisierungsaktivitäten des Vereinten Königreichs rund um den Globus, musste ein Organ her, das die traditionell größte Glaubwürdigkeit unter der Bevölkerung besaß und jeden erreichen konnte. Schwarze Lettern auf gelblichem Papier genossen auch heutzutage noch aus kaum weiter erklärbaren Gründen weitaus mehr Kredit als flüchtiges Fernsehen, Funk oder die undurchsichtigen Quellen des Internets. Dazu bildeten gelesene Worte einen dauerhafteren Nährboden, und eine darauf kultivierte Saat ließ sich später von stürmischen Reden leichter zur gewünschten Blüte bringen. Daneben gab es bald kaum noch eigenständige Stimmen, da sie sich nur mit viel Zivilcourage Gehör verschaffen konnten und nach einigen Tagen folgenloser Debatten gewöhnlich schnell wieder untergingen. Das waren feste Größen, auf die sich die Partei nun uneingeschränkt verlassen konnte. Seit der Verstaatlichung der Zeitung verteilte man sie fast kostenlos im ganzen Land, und war selbst im ärmlichsten Haushalt im hintersten Winkel des Reiches so sicher zu finden wie der Fernseher. Diese unscheinbare, jedoch bedeutende Maßnahme zog durch die schrittweise Schließung aller übrigen Verlage hinter der Bühne lediglich ein paar tausend private Schicksale und stille personelle Wechsel nach sich, die kein gesteigertes Interesse weckten und kaum in die Öffentlichkeit durchdrangen.

    Die Artikel, die Matt zu redigieren hatte, vermied er in der Regel aufmerksamer zu lesen oder darüber zu reden, als für die Ausführung seiner Arbeit unbedingt vonnöten war. Alles, was auf seinem Schreibtisch zur Bearbeitung landete, enthielt in der Regel kaum mehr verlässliche Informationen als die sich wiederholenden Horoskope. Auf der einen Seite sollte billiger Feuilleton und ein optimistisch gehaltener Wirtschaftsteil die wenigen, aber dafür unverhältnismäßig Gutsituierten bei Laune und empfänglich für Regierungsmaßnahmen halten, auf der anderen Seite eine farbverfälschte Politikkolumne die breite Basis ängstlicher, hungriger Bürger mit passender Diät füttern. Zwar vertraute die Partei generell auf die traditionelle Trägheit ihrer Bevölkerung – eine steigende Zahl von Massenprotesten gegen soziale Notstände, die erst mit viel Blutvergießen auf beiden Seiten niedergekämpft werden konnten und auch vermehrt auf der Insel auftraten, veranlasste die Führung jedoch zu einer gewissen Wachsamkeit.   

    Die Anzahl ehemaliger Mittelschichtler, deren Leben von immer existenzielleren Fragen vereinnahmt wurde, wuchs täglich. Das erforderte eine Mischung aus Fingerspitzengefühl und propagandistischen Parolen, um die Interessen der Partei auch zu den Interessen derer zu machen, die schlussendlich unter den Handlungsfolgen leiden würden. Dieser Spagat wurde in der Redaktion mit viel Energie perfektioniert, und der Journalist, der sich der Wahrheit näher verbunden fühlte als solcher Verrenkungen fähig, und ihr nicht abschwören wollte, musste sein Auskommen binnen weniger Tage oder Stunden woanders suchen und konnte ziemlich sicher mit langfristigen Repressalien rechnen. Zwar arbeitete Matt hier nicht ohne Grund; ein Grund, der für keinen Smalltalk taugte und den er tunlichst im Verborgenen hielt. Und dennoch - wie lange würde er diesen Verrat an der Wahrheit ertragen können, mit dem er sein Leben finanzierte? Alles in allem sah er seiner beruflichen Zukunft mit verhaltener Euphorie entgegen.

    Er begann seinen Platz aufzuräumen. Dabei versuchte er gleichzeitig auch sein Inneres zu ordnen und sich auf die vor ihm liegenden vierzehn Tage vorzubereiten, da traf ihn die tiefschürfende Reportage über die Tochter eines Großindustriellen und deren siebter Scheidung in der angemessenen Form eines zerknüllten Papierballs am Hinterkopf.

    „Wie willst du nur ohne unsere Geschichten durch den Tag kommen?!" Steve Bradley trat grinsend ins Büro. Mit gespieltem Ernst warf Matt ihm einen scharfen Blick zu, ohne den getroffenen Kopf zu bewegen.

    „Das wird nicht einfach. Ich werde bestimmt ständig an euch denken, machte er ironisch mit. „Aber jetzt muss ich erstmal meine eigene Story schreiben. Der letzte Satz kam ihm bedenklicher vor, als er ihn gewollt hatte. Immerhin bestand noch die Hoffung, dass sich alles als völlig undramatisches Missverständnis oder Versäumnis entpuppte. Als einer von wenigen, kannte Steve ein wenig vom Innenleben seines Kollegen und erriet etwas von dessen unausgesprochenen Gedanken. In diesem Fall hatte er direkte Fragen bisher jedoch vermieden und versuchte, ihn anders aus der Reserve zu locken.

    „Wirst Du wenigstens diesmal ans Meer fahren?"

    Auch wenn es kein sehr vernünftiger Gedanke gewesen wäre, seinen Energiepass so früh im Jahr zu plündern – er schätzte, Matt würde etwas ganz anderes im Sinn haben; und der ergab sich endlich in plötzlicher Offenheit.

    „Ich muss es versuchen, Steve. Ich kann nichts anderes mehr denken. Er ließ seinen Kopf mit den zerzausten blonden Haaren hängen. „Nichts anderes mehr fühlen; es frisst mich auf. Sie hätte mir etwas gesagt! Und niemanden kümmert es! Niemand rührt auch nur einen Finger!

    Seit vier Jahren kannten sie sich jetzt. Matt hatte in der Redaktion das Praktikum seines Anglistik- und Journalismusstudiums absolviert. Sehr bald fiel er schon damals einigen zweifelhaften Abteilungsleitern auf, wenn er seine grundsätzlich zurückhaltende Art verlor, sobald ein Text ob dessen entlarvender Fakten über nationale Frevel verworfen wurde. Das geschah früher oft – insbesondere dann, wenn es sich um brisante Verfehlungen britischen Militärs oder der omnipräsenten Polizei handelte. Mehr als einmal konnte Steve ihn vor einer Eskalation bewahren. Heute landeten solche Berichte ausnahmslos bereits im Zensurfilter der Chefredakteure. Verbrechen an Gesellschaft, Völkern und Natur hatten ausschließlich - aber dann umso pathetischere – Erwähnung verdient, wenn man mit erhobenem Finger auf die Welt außerhalb des Empires zeigen konnte. Jene Welt war jedoch klein geworden.

    Nachdem ein Journalist bei einem Artikel um mittlerweile unverhohlen blutig geführte Ressourcenkriege in Kanada bestialische Aktionen britischer Soldaten gegen Bewohner und indigene Stämme in lediglich hässliche verwandelte, und der Bericht Gott weiß wie das Lektorat unbemerkt passiert hatte, und man jenen armen Teufel keine achtundvierzig Stunden später tot aus dem Counters Creek fischte, begann Matt seine Lage allerdings neu sowie mit gesteigerter Vorsicht zu beurteilen. Zufall oder konnte es tatsächlich wegen eines Zeitungsartikels einen Zusammenhang geben? Trotz und wegen diesem potenziell gefährlichen Klimas drängte es ihn ein paar Jahre später - nach der Verstaatlichung der Zeitung - erneut zum Guardian. Seinen Magister hatte er in der Tasche, ohne zu wissen, was jemand wie er in diesen Zeiten eigentlich damit anfangen sollte. Als Autor hätte ihn seine Gesinnung binnen kürzester Zeit in Schwierigkeiten gebracht, wenn nicht Schlimmeres. Doch an diesem Ort gab es – wenn jemand angemessene Vorsicht walten ließ - die Möglichkeit, öffentlich unbekannte Dinge von der Welt zu erfahren, bevor sie gefiltert, verdreht und entstellt einer in Angst gehaltenen Bevölkerung wie ein sedierendes Gift verabreicht wurden. So entschied er sich fürs Redigieren und manövrierte sich auf einen bescheidenen Posten, wo er weder eine journalistische noch redaktionelle Aufgabe hatte, sondern eine rein sprachliche. Das reduzierte deutlich die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, und damit sein Risiko.

    Bei seiner parallelen Nachforschung nach ursprünglichen Meldungen musste er sehr vorsichtig zu Werke gehen. Es gab hier bekanntermaßen Parteiler, ebenso wie ruchlose Opportunisten. Sie warteten nur darauf, subversive Mitarbeiter und jeden Andersdenkenden zu denunzieren, um vielleicht in der Gunst eines Höhergestellten zu steigen oder, wenn das Glück es wollte, vielleicht sogar auf der Hierarchieleiter einen kleinen Schritt emporzusteigen, der für treuen Gehorsam und reinen Fleiß alleine unerreichbar wäre.

    Mit den Jahren hatte Matt gelernt, seine Überzeugungen nur dort anzubringen, wo es wenigstens eine Chance gab, etwas zu erreichen. Märtyrertum wäre Verschwendung und damit in gewisser Weise auch verantwortungslos gewesen. Steve wurde eine seiner ergiebigsten Quellen – und ein guter Freund, ein Verbündeter, der ihm manchmal fast wie ein älterer Bruder erschien. Nachdem es mit Tabita nun aus war, gab es momentan nur wenige Menschen, denen er sich näher fühlte – allen voran Ally, seine vier Jahre ältere Schwester. Sie hatte stets größtes Interesse an seinen Informationen und war der eigentliche Motor für sein Durchhaltevermögen. Ihr untypisches Verschwinden ohne jede Nachricht oder Erreichbarkeit machte Matt schwer zu schaffen.

    „Wenn ich könnte, würde ich Dich begleiten. Melde Dich, wenn Du irgendetwas brauchst, ok?! Und wenn es nachts um drei ist."

    „Um die Zeit hast Du glaube ich nichts bei Dir, was ich von Dir würde haben wollen, flachste Matt. „Aber danke! Ich werde mich melden.

    „Also auch dieses Jahr wieder keine Südsee für Dich!?", bohrte Steve, in der Hoffnung noch etwas Konkretes über seine Pläne aus ihm herauslocken zu können. Diese Verschlossenheit war ungewöhnlich zwischen ihnen. Aber schließlich war auch die Situation ungewöhnlich und Matt blieb meist sehr zurückhaltend bei Dingen, die seine Schwester betrafen.

    „Nein, ich werde sicher nichts tun, worauf Du neidisch sein könntest. Und nach allem, was ich zuletzt gehört hab, macht es bald keinen Sinn mehr im Indischen tauchen zu wollen. Fast alle Riffe sollen abgestorben sein – es ist entsetzlich! Wo das Neopren aufhört, fängt das Jucken an, heißt es. Alles, was nicht essbar ist, kippen sie ins Meer. Und alles, was darin dennoch überlebt und essbar ist, wird restlos rausgefischt. Die sind fast so schlimm wie wir. Nach dem Krieg, den wir ihnen beschert haben, ist alles noch weiter aus dem Ruder mit Unruhen und Attentaten überall!"

    „Ich weiß ja, ich weiß!" Natürlich war Steve über die meisten Wahrheiten genauso im Bilde und seinem Freund oft ein geduldiger Zuhörer, wenn der darüber die Fassung verlor – nur teilte er selten Matts Bestürzung.

    Private Flugreisen waren seit vielen Jahren für die meisten Bürger nahezu unmöglich geworden, was nicht allein auf finanzielle Gründe zurückzuführen war. Sämtliche Kontinente wurden unentwegt an der einen oder anderen Ecke von Krieg überzogen - wie das Mittelalter von der Pest. Lediglich relativ gesicherte, sprich: kolonialisierte Gebiete, waren durch permanente Luftbrücken für einen vergleichsweise kleinen Kreis theoretisch erreichbar. Für Angestellte einer staatlichen Zeitung gab es bei konsequentem Nachfassen eventuell Mittel und Wege – aber dazu musste man es sich zudem eben auch noch leisten können, was nur wenige konnten. Erst vor drei Jahren sahen die Verhältnisse noch entspannter aus. Die Welt veränderte sich in unheimlichem, kaum mehr verfolgbarem Tempo. Damals hatte Matt eine vielleicht einmalige Gelegenheit beim Schopf gepackt, einen Flug nach Burma ergattern können, und war fasziniert von der Unterwasserwelt gewesen, die er damals während seiner ersten Tauchgänge endlich mit eigenen Augen sehen durfte. Dieses Erlebnis übertraf so meilenweit jede Vorstellung, die er nach vielen Filmdokumentationen natürlich hatte. Bereits Anfang des Jahrhunderts, das wusste er aus diversen wissenschaftlichen Reporten, waren die Korallenriffe der Erde – diese neben den Regenwäldern ursprünglich artenreichsten Biotope des Planeten – allerdings schon zu einem Drittel vernichtet. Heute, gerade mal eine Generation später, waren öffentlich keine verlässlichen Zahlen aufzutreiben, doch seltene Berichte unabhängiger Ozeanologen sprachen von deprimierenden Zuständen. Anderes war auch kaum wahrscheinlich – in den vergangenen Jahren waren die Böden sämtlicher Weltmeere durchlöchert, abgetragen und durchsiebt worden. Für die seit Jahrzehnten geplünderte Meeresökologie bedeutete das vielerorts den finalen Todesstoß. Den Landmassen hatte man beinahe alle wertvollen Elemente entrissen und verhökert. Der anschließende Ausverkauf des Meeresbodens ging wie früher die Überfischung, Gift- und Müllverklappungen naturbedingt eher unbeachtet vonstatten. Die Luft war in manchen Regionen der Welt bereits hochgiftig, was selbst jetzt noch von Behörden verschleiert wurde; aber wäre man mit ihr genauso wie mit den Meeren umgegangen – das Keuchen der Menschen wäre von New York bis Mumbai zu hören gewesen. Verstreute Wissenschaftler, die mehr als nur die Weiterbewilligung von Forschungsmitteln im Sinn hatten, fanden keine ausreichende Lobby, um auch nur ihre Ergebnisse publik zu machen.

    Nachdem er seine Abmeldung am Computer beendete, bereitete Matt den Datenzugang für den vertretenden Kollegen vor und verstaute die abgearbeiteten Akten.

    „Zuallererst werde ich wohl nach Maidenhead fahren", sagte er emotionslos. Sein Vater wohnte dort. Vor einigen Jahren schon hatten sie den Kontakt zueinander abgebrochen. Steve wusste aus Matts Erzählungen, dass Carl Richards im Gegensatz zu seinen Kindern ein ziemlich kritikloser oder kritikunwilliger Bürger war; ein Schaf in einer endlosen Herde von Schafen – wenn auch ein gut betuchtes - das nur einen Wert kannte: das Maß seines eigenen Wohlergehens, ganz gleich, welcher Schäfer es auf welche Weide führte, um was auch immer zu fressen. So jemand war eine Freude für jede Regierung. Leicht mit kleinen Zugeständnissen köderbar, ohne – wie alle Schafe - die Bedeutung zu haben, um für seine Dienste je wahrgenommen zu werden. Das zumindest war Matts Meinung über seinen Vater und sagte einiges über seine eigenen Werten und Prioritäten.

    Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte Carl unablässig versucht, Ally und Matt zu einer chamäleonhaften Angepasstheit zu erziehen. Manchmal, als sie bereits alt genug waren, um diese Absicht nicht mehr als Objekte einer zweifelhaften Erziehung, sondern längst immune Beobachter analysieren zu können, hegten sie schiere Zweifel an ihrer Blutsverwandtschaft. Carl Richards war Biochemiker und konnte sich nach finanziellen Maßstäben zu einem privilegierten Stand zählen. Allmählich zog er sich jedoch immer weiter in seine eigene Welt und sein Haus in Maidenhead zurück. Während Ally blieb und sich um das Anwesen kümmerte, sah Matt sich später dazu außerstande und tauschte mit Zwanzig das Elternhaus gegen ein kleines Zimmer in der Nähe der Universität.

    Seine Mutter hinterließ in Matt hingegen ein ganz und gar helles Bild, lebendig, voll Stärke und Charakter, mit endloser Wärme und einer respektvollen Weisheit, der er sich sogar als pubertierender Teenager – meistens – gefügt hatte. Ein Unfall hatte sie aus dieser verqueren Welt gerissen. Es soll ein Kleinbus oder Van gewesen sein. Der Fahrer wurde nie ermittelt. Das lag nun vierzehn Jahre zurück. Damals war Matt noch keine fünfzehn, Ally gerade neunzehn.

    „OK, ich bin bereit, dich der Meute zu überlassen. Hoffentlich erträgt sie dich ohne meine Diplomatie." Matt´s vermeintliche Lockerheit und verdrehter Sarkasmus klangen gequält. Sie umarmten sich kurz.

    „Es wird mir fehlen, Deinen Hals zu retten."

    „Wer weiß, vielleicht bekommst du trotzdem bald Gelegenheit dazu."

    „Hey, eine Postkarte mit Palmen und Bikinis drauf wäre erstmal alles, was ich demnächst bekommen möchte, und wenn du sie aus Liverpool abschickst."

    „Ein andres Mal, Steve. Und was Du dann bekämst, wäre nur Ärger mit deiner Felicitas."

    Sein Kollege warf ihm noch ein Handzeichen hinterher, das sie als Fans einer alten Science-Fiction-Filmreihe verband.

    „Live long and prosper!", erwiderte Matt lachend und machte sich auf den bereits dunklen Heimweg.

    Die Tage hatten noch wenig Licht, aber wenigstens milderte die abendliche Kühle den Gestank auf den Strassen. Gerüche, an die man sich nie gewöhnte – dafür waren sie zu abwechslungsreich. Nur angenehm waren sie selten. Ein geregeltes Abfallmanagement gab es in weiten Teilen der Insel seit Jahren nicht mehr. Meistens kam Matt mit dem Fahrrad zur Arbeit. Heute wählte er einen anderen Heimweg als üblich. Er wollte noch jemanden besuchen und setzte sich Richtung Nordost in Bewegung, vorbei an ausgedehnten, ehemaligen Schrebergartenkolonien, die zu Wohnsiedlungen mutiert waren und vergleichsweise doch nicht zu den schlechtesten Behausungen gehörten. Schlimmer ging es beispielsweise den Hüttenbewohnern entlang der Bahntrasse, die sich in dem fast baumlosen Land nun wieder entscheiden mussten, wie viel sie von ihrem Wetterschutz für ein wärmendes Feuer opfern durften. Was ein Orkan an diesem Ort, wie bereits an unzähligen anderen, anrichten würde, brauchte nicht viel Fantasie.

    Bald endete die öffentliche Straßenbeleuchtung und Matts Weg wurde nur mehr im Kegel seiner Fahrradlampe erkennbar erhellt. Der Mond stand noch in seinem ersten Viertel. Hier und dort flackerte ein Lagerfeuer, umringt von dunklen Körpern. Er hatte das Land der imperialen Unterschicht betreten. Gelegentlich wirbelte eine Wolke glühender Funken auf, wie winzige Irrlichter, die diese Erde froh gegen den Himmel tauschten. Er näherte sich einem Feuer, das hell brannte von frisch aufgeworfenen Autoreifen. Das gleißende Licht schickte lange Schatten zu ihm, die vor seinem Vorderrad tanzten und es schwer machten, Steine, Glas und Löcher zu umfahren. Feuchte Kälte kroch allmählich seinen Körper hoch und ließ seine Hände klamm werden. Eine Panne mochte jetzt unangenehm sein. Den Blick fest auf die beleuchteten Yards vor ihm geheftet, nahm er plötzlich aus den Augenwinkeln einen Umriss wahr, der sich durch einen minimal anderen Winkel verriet. Eine Spur schneller und irgendwie runder, sprang das Abbild in Deckung der übrigen Schatten und landete auf knackenden Zweigen links vor ihm, außerhalb des zuckenden Lichts. Abrupt, aber kontrolliert, brachte Matt sein Rad zum Stehen. Dann schwang er ein Bein über den Sattel, löschte die Lampe und wartete gefasst auf die Gestalt, die sich aus der Dunkelheit herausformen würde, sobald sich seine Augen an die Schwärze gewöhnt hatten. Einige Bezirke waren berüchtigt dafür, dass man Leuten schon für ein paar Pfund oder etwas Essbares die Kehle durchschneiden würde. Nur eine Sekunde später sprang etwas Undefinierbares schreiend auf ihn zu. Aber noch bevor es im flackernden Feuerschein ganz sichtbar wurde, entspannten sich Matts Muskeln angesichts von Statur und Stimmlage des Hinterhalts. Ein wenig inkonsequent wirkend, kam das dünne Wesen mit großem Kopf zwei Yards vor ihm zum Stehen und enthüllte ohne Scheu seine grässliche Fratze. Auf Brusthöhe starrte es ihn mit einem aus der Höhle getretenen, auf der Wange baumelnden Augapfel an. „...oder Saures!", beendete es grimmig seine Forderung. Auf dieses Kommando hin raschelte es im Gebüsch und ein zweiter Zwerg, gut ein Fuß kleiner, mühte sich unbeholfen, um der Szene zuzustoßen. Im Kampf ums Gleichgewicht ruderten seine Arme durch die Luft und verdrehten dabei versehentlich sein ebenfalls unproportional großes, aber mit einem Clownsgesicht deutlich symphatischeres Haupt, so dass dieser Gnom, stur zur Seite schauend und offenbar blind wie ein walisischer Maulwurf, seinen Kumpan zu verfehlen drohte.

    „Hierher Gwen, hier drüben bin ich!, rief Zwerg Nummer eins. „Nimm die Maske runter, Dummchen!

    Matt musste lachen. Er holte seine Taschenlampe aus der Beintasche. Die elfjährige Mary stand ihm gegenüber und grinste verlegen.

    „Ham wir Dich erschreckt?", fragte sie erwartungsvoll.

    „Mein Herz steht immer noch still, kleine Hexe.", schwindelte Matt und griff sich dramatisch an die Brust. Die ausgezehrten Mädchen fielen ihm zur Begrüßung um den Hals. Eine größere Gestalt, die schlanke, aufrechte Silhouette von Susan Baker, ihrer Mutter, kam winkend auf sie zu.

    „Mama hat gesagt, Du würdest heute kommen und wir durften uns die Masken von den McEwans borgen. Sammy und Timmy sind letzten Monat gestorben."

     Übelkeit stieg in Matt auf. Diese unvermittelte Neuigkeit schickte ihm einen ungebetenen Schauer, an dem die Kälte unschuldig war. Bei aller Wut, die sein Vater über viele Jahre in ihm heraufbeschworen hatte – er war in einem Haus aus festen Mauern aufgewachsen und wenn er krank war, konnte er jederzeit zu einem Arzt gehen und erhielt Medizin. Nie musste er Hunger leiden und konnte sogar ein - wenn auch aus Orientierungslosigkeit unsinniges - Studium absolvieren. Er hatte die Kinder der McEwans gekannt. Der kleine Samuel hatte ihm im Gegensatz zu seinen Eltern einen sehr nachdenklichen und wissbegierigen Eindruck gemacht; und Matt manches Mal an sich selbst und sein Verhältnis zu seinem Vater erinnert. Nun sollten beide Kinder tot sein. Wie hatte das passieren können? Er würde es bald von der Mutter der Mädchen erfahren.

    „Aber Halloween ist längst vorbei!", beschwerte sich Matt mit gespielter Empörung.

    „Wissen wir doch!, strahlte Mary. „Deshalb haben wir ja die Masken auf! An Halloween hättest du ja gleich Bescheid gewusst!

    „Ihr seid ja eine ganz raffinierte Bande! Aber leider wird eure Beute nicht groß sein!" Doch Matt war natürlich vorbereitet und begann in seinem Rucksack nach dem süßen Teil seines Einkaufs zu wühlen. Zwei Augenpaare begannen zu leuchten, als er eine große Packung halb mit Schokolade überzogener Waffeln zutage förderte.

    „Gerechte Teilung mit deiner Schwester, mahnte er Mary unnötig, die sich stets um die kleine Gwen sorgte. „Und putzt euch danach die Zähne!

    „Danke, danke, danke!", quietschten sie im Chor und die kleine Gwen umarmte ihn noch einmal stürmisch.

    „Schön Dich zu sehen!", hörte er Susan´s klare Stimme. Ihr apartes Gesicht trat aus dem Schatten.

    Susan´s Bekanntschaft hatte er erstmals vor gut zwei Jahren durch Ally machen dürfen. Die alleinstehende Mutter kam ursprünglich aus gutem Haus, wie man so unüberlegt dahersagt. Doch ein abgebrochenes Medizinstudium nach früher Schwangerschaft und Heirat mit einem wenig hoffnungsvollen Bergbauarbeiter (der fünf Jahre später bei einer Grubenexplosion ums Leben kam), brachte die wahre Qualität - eine nachhaltige Verachtung - ihrer Familie ans Licht, für die sie fortan schlichtweg nicht mehr existierte. Die Gesellschaft zeigte ihr, dass sie jeden Wert und die meisten Rechte eingebüßt hatte. Doch nie hörte man sie in Selbstmitleid klagen, noch verlor sie sich jemals in Wut oder Verzweiflung.

    Matt hatte sie als außergewöhnlich warmherzige wie intelligente Frau kennengelernt, mit einem hohen Maß an Integrität, Verantwortungsgefühl und unumstößlichen Prinzipien – Eigenschaften, die heute niemandem zum Vorteil gereichten, sofern sie es denn je getan haben, sondern im Gegenteil, zunehmend eine latente Gefahr darstellten. Manchmal erinnerte sie ihn an das Bild seiner Mutter. Sie hätte eine Lehrerin, eine Führerin sein sollen, doch das blieb sie nur für die Kinder; ein Edelstein an einem schmutzigen, lichtlosen Ort. Es gab in dieser Zeit keinen Lohn für Weisheit und Güte.

    Ohne Versorgungsleitungen irgendeiner Art, machten die Leute hier seit vielen Jahren von ihrem Menschenrecht Gebrauch, natürliche Wasservorkommen für ihr Überleben zu nutzen – in ihrem Fall ein kleiner Seitenarm des verdreckten River Lea, der hauptsächlich von einer natürlichen Quelle gespeist wurde. Im Sommer vor einem Jahr begann dieser Zulauf einzutrüben. Sein Wasserstand fiel tiefer, als sich die Alten erinnern konnten. Das kaum mehr fließende Wasser vermischte sich zunehmend mit dem hereindrückenden River Lea. Über Monate wurden vermehrt Leute krank, bis die Lebensader der Leyton Bahndammsiedlung schließlich von einem Tag

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