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Digital Metropolis
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eBook394 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Der Einzelne bedeutet nichts, die Gesellschaft alles!

Der Glaubenssatz einer Stadt, die aus den Trümmern des letzten Weltkriegs entstanden ist und ihre Bürger vor einer kontaminierten Umwelt schützen muss - mit allen Mitteln.
Tiefe persönliche Beziehungen sind verboten, da sie den Einzelnen nur von seiner Aufgabe ablenken. Ein Jeder lebt für sich allein.
Die wahre Macht in dieser Zukunftsstadt haben die Medien. Sie allein entscheiden, was der Bürger sehen darf. Um den einfachen Bürger nicht zu verwirren, entscheidet ein Super-Computer, wer die Macht über die Geschicke der Stadt hat.
Jade, eine gewöhnliche Bürgerin, verfängt sich ungewollt in den Machenschaften der Medienwelt und muss um ihr Leben kämpfen in einer Welt aus Lügen, in der der Einzelne nicht zählt. Wird Jade diesen Kampf gewinnen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juni 2020
ISBN9783347063198
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    Buchvorschau

    Digital Metropolis - Christian Maasberg

    Digital Metropolis

    Nachdem das Licht im Gemeinschaftsraum gedimmt worden war, verstummte das nervöse Murmeln der Zuhörer. Das Auditorium war wie immer bis zum letzten Platz gefüllt. Es hätte dabei leicht die doppelte Anzahl in die Halle gepasst. Die Vorträge waren eine Vorgabe der Obrigkeit, und so herrschte eine beinahe ehrfurchtsvolle Stille, als der Amtliche Lehrmeister vor das Publikum trat. Sein Blick ging prüfend über die erwartungsvollen Gesichter, als wolle er sich vergewissern, dass ein jeder aufmerksam war. Danach schritt er bedächtig auf einen erhöhten Teil der Bühne zu. Der Lehrmeister hatte von hier aus einen besseren Blick auf die Bürger, die gekommen waren, um der Geschichte ihrer Stadt zu lauschen:

    „Tödliche Pandemien, die zum Teil künstlich in Labors gezüchtet wurden, Klimawandel, Energie- und Finanzkrisen, eine wachsende Weltbevölkerung, mit der unser schwächelnder Planet längst nicht mehr fertig wurde, wachsende Probleme bei der Nahrungs- erzeugung, eine schmerzende Ungleichheit in der Vermögensverteilung, Armut, Rassismus. Dies waren nur einige der Herausforderungen, mit denen sich unser ausgezehrter Planet in den vergangenen Jahrhunderten auseinandersetzen musste. Wie aber sieht die wirkliche Geschichte aus?

    Er machte eine kurze Pause, während der er bewegungslos auf der Bühne stand und die Bürger still betrachtete. Er wollte dem Publikum Zeit geben, sich Gedanken zu machen.

    Aufgrund der sozioökonomischen Probleme des 21. Jahrhunderts formten sich zwischen 2030 und 2035 drei Weltmächte, die um die Alleinherrschaft kämpften. Welche Idiotie es dabei gewesen war, zu glauben, die Menschen könnten den Frieden mit Waffengewalt sichern. Als wenn Frieden Gewalt bräuchte! Die Menschheit wurde damals jedoch fehlgeleitet von einem System, das sie trügerisch > Demokratie < nannten. Wobei der Einzelne nicht einmal verstand, was dieser hohle Begriff überhaupt bedeutete. In seiner grenzenlosen Naivität wiederholte der dumme, einfache Bürger lediglich bedeutsam klingende Lehrsätze, die Regierungen voller machthungriger Politiker und Generäle ihm zum Fraß vorwarfen. Der Einzelne konnte gar nicht verstehen, wie sehr diese Lüge > Demokratie < das Miteinander und die Sicherheit der Gesellschaft gefährdete. Er wurde getäuscht und mit Halbwahrheiten ruhiggestellt. Die Obersten manipulierten sein Gehirn in einer derart hemmungslosen Weise, dass niemand mehr verstand, was um ihn herum tatsächlich geschah."

    Der Amtliche Lehrmeister brauchte keine Einleitung. Seine Zuhörer kannten die Vergangenheit nur zu gut, nachdem sie beinahe zur Auslöschung der Menschheit geführt hätte. Sie bedeutete den schmerzhaften Grund für den Bau dieser Stadt, die Schutz vor einer Umwelt bot, in der niemand mehr überleben konnte. Seine Rede war lediglich der jährliche Auffrischungskurs, den ein jeder Bürger besuchen musste. Es war zugleich eine Mahnung, sich daran zu erinnern, wie gut es ihnen allen innerhalb der klaren Hierarchie dieser Stadt ging. Was auch immer die früheren Staatsformen den Bürgern vormachen wollten, sie hatten keine Kriege verhindern können. Gleichgültig, wie die Namen lauteten, am Ende scheiterten die Systeme an ihrer Unvollkommenheit. Nicht aber die absolute Gesellschaftsform, in der sie lebten. Seit der Formung der jetzigen Struktur hatte es keine einzige Auseinandersetzung mehr gegeben. Die Bürger wurden in einer Weise erzogen, die zerstörerische Streitereien unmöglich machten. Verschiedene Überwachungsorgane garantierten zudem die Sicherheit durch totalitäre Überwachung.

    Wissenschaftliche Untersuchungen hatten zudem bestätigt, so wurde ihnen wiederholt eingetrichtert, dass ein Menschengehirn nicht in der Lage sei, ein irrsinniges Gebilde wie > Demokratie < zu verstehen. Es lehne diesen Irrglauben entschieden als Täuschung ab, da diese widersinnige Staatsform sämtlicher Logik widerspräche. Der gewöhnliche Mensch bevorzugte stattdessen einen starken Führer. Er benötigte jemanden, der ihm klar vorgab, wie und was er denken sollte.

    Dieser Irrtum hatte in der früheren Welt wiederholt zu Auseinandersetzungen mit Abermillionen Toten geführt. All diese bedauerlichen Schicksale waren ein schmerzlicher Beweis für das menschliche Versagen und den Irrsinn dieser Missgeburt namens Demokratie. Dies alles nur, weil die Staaten nicht erkennen wollten, dass es stets Führer und Geführte geben musste.

    Im heutigen System, so beruhigte der Amtliche Lehrmeister sein Auditorium, sei etwas derart Groteskes nicht mehr möglich. Der ehrwürdige Großcomputer nahm den Menschen unnötige Entscheidungen ab. Obwohl die Geschichte den Bürgern der Stadt nur allzu bekannt sein musste, sollten sie sich seine Beschreibungen der früheren Ordnung dennoch anhören, um gemeinsam über die Naivität der Vorfahren zu lachen.

    Die Menschen in ihrer Ahnungslosigkeit hatten ernsthaft gedacht, wichtige Entscheidungen ohne Hilfe eines Computers treffen zu können, der sämtliche Fragen nüchtern betrachtete. Am Ende mussten sie unter Schmerzen erfahren, wie unrecht sie hatten. Im Unterschied zu der Sprunghaftigkeit des Menschen entschieden die unfehlbaren Algorithmen des Großcomputers stets neutral und leidenschaftslos. Sie waren aufgebaut auf exakten mathematischen Formeln, die sich weder durch Halbinformationen ablenken ließen, noch sich rechtfertigen mussten. Wenn die Menschen damals nur ähnlich gedacht hätten! Wie viel sinnlose Gewalt hätte verhindert werden können. Sie glaubten in ihrem beschränkten Denken aber, Waffen mit Waffen bekämpfen zu müssen:

    „Auf der einen Seite gab es den Amerikanischen Bund, bestehend aus den Ländern Südamerikas, den USA und Kanada. Gegen diesen Bund stellte sich zunächst das frühere Europa nebst einigen Anrainerstaaten, den arabischen Ländern und dem Kontinent Australien. Der Europäische Bund, politisch und wirtschaftlich betrachtet eher unbedeutend, versuchte die Anliegen seiner Mitgliedsstaaten gegen vermeintlich unangebrachte Forderungen des stärkeren Amerikanischen Bundes zu verteidigen.

    Obwohl die Militärausgaben in den Jahrzehnten zuvor angeblich deutlich reduziert worden waren, entschied der Amerikanische Bund mit seinen scheinbar unabhängigen Staaten, die militärischen Kräfte erneut auszubauen. Dies geschah in der naiven Hoffnung, dass dieses sinnlose Unterfangen helfen konnte, ungerechtfertigte Ansprüche gegnerischer Bündnisse abzuwehren. Unabhängige Länder, die zuvor noch wichtige Handelsabkommen mit dem Amerikanischen Bund hatten, lösten sich nach und nach von dieser Föderation ab, um neue Vereinigungen zu bilden, die das eigene Überleben garantieren sollten.

    Als drittes Bündnis gab es schließlich den Asiatischen Bund, zu dem mächtige Länder wie Indien, China, Iran und ein Teil der ehemaligen Russischen Föderation gehörten. Der Asiatische Bund stellte sich gegen die Annäherung Arabiens und Australiens an den Europäischen Bund. Es wurde als Bedrohung der eigenen Souveränität betrachtet. Man fürchtete, dass durch eine engere Verbindung Australiens mit den arabischen Ländern und dem Europäischen Bund der bedeutsame Handel von wichtigen Rohstoffen mit Australien und dadurch die eigene Sicherheit gefährdet würden. Nachdem die Länder in ihren Ideologien und eigenen Problemen allerdings zu verschieden waren, kam es trotz mühsam zur Schau getragener Einheit wiederholt zu inneren Spannungen.

    Der Kontinent Afrika schließlich teilte sich in drei souveräne Bündnisse auf. Die meisten Länder Nordafrikas gingen Abkommen mit dem Europäischen Bund ein. Der Osten und der Süden dagegen schlossen sich dem Asiatischen Bund an. Der Rest des Kontinents wechselte zwischen bedeutungslosen kleineren Bündnissen.

    Die Länder erkannten jedoch nicht, wie sie schamlos ausgenutzt wurden. Ohne Rücksicht plünderten die reicheren Länder ihre Ressourcen und ließen vergiftete Gegenden zurück. Sie gewährten den verschuldeten Ländern im Gegenzug dazu überteuerte Kredite, um diese tiefer in einen Strudel der Abhängigkeit zu führen."

    Ein Hologramm mit einer Weltkarte des vorangegangenen Jahrhunderts erschien aus dem Nichts. Der Amtliche Lehrmeister deutete auf Grenzen, während er Länder nannte, die es seit einer Ewigkeit nicht mehr gab.

    „Nach mehreren Konflikten zwischen den drei Hauptmächten um die Vorherrschaft wurden um das Jahr 2035 schließlich bedeutende Verträge ausgehandelt, die das Verhältnis der drei großen Bündnisse regeln sollten. Es entstanden weitere Handelsabkommen, gegenseitige Nichtangriffs- und Abwehrpakte für den Fall von Konflikten. Sie sollten das Vertragswesen zwischen den Allianzen festlegen, um diese noch enger aneinanderzubinden. Am Ende existierten derart viele Verträge, dass sich niemand mehr zurechtfand. All diese Abkommen konnten den Frieden allerdings nicht nachhaltig sichern. Sie bewirkten lediglich weitere Missverständnisse, die am Ende zu einer raschen Wiederaufrüstung der drei großen Mächte führten.

    Es vermehrten sich zugleich deutliche Warnungen vor erneuten Eskalationen. Bedeutungslose Organisationen wie internationale Think Tanks, machtlose Nichtregierungsorganisationen und aufgeblähte Menschenrechtsverbände versuchten die breite Masse auf die Gefahr einer eskalierenden Situation aufmerksam zu machen und die Völker zugleich zu einer friedlichen Koexistenz aufzurufen. Wobei es bereits zu spät dafür war!"

    Der Mann machte eine kurze Pause, in der er auf der großen Weltkarte auf verschiedene Punkte deutete.

    „An den Grenzen verstärkten sich allmählich die Streitmächte der drei großen Allianzen. Am Ende schließlich sollten Roboter einen Kampf entscheiden, der von Menschen begonnen worden war. Die Antagonisten wollten angeblich nur die eigene Stärke demonstrieren, in der blinden Hoffnung, dadurch den Angriff möglicher Aggressoren zu verhindern. Dabei ging es lediglich um Geld und Macht.

    Es kam schließlich zu ersten Kampfhandlungen, bei denen es eine Vielzahl an unschuldigen Opfern zu beklagen gab. Die anfänglichen Scharmützel eskalierten mit der Zeit in eine brutale Auseinandersetzung zwischen den drei Hauptmächten, aus dem sich kein Bündnis mehr heraushalten konnte. Zu Land, Wasser, in der Luft, selbst im Orbit und in den verschiedenen Computernetzwerken fanden erbitterte Kämpfe statt, die eine Unzahl unnötiger Menschenleben forderten. Trotz klarer wissenschaftlicher Warnungen wurden immer schwerere Waffen eingesetzt, die unvorhersehbare Folgen für Mensch und Natur hatten: Komplexe Waffensysteme wie Energiewaffen, Laser und Nanobots wurden verwendet, um erbarmungslose Zerstörung zu hinterlassen.

    Man musste dem Gegner zuvorkommen, verteidigten die Politiker ihre Entscheidung. Sie wollten sicherlich nicht als diejenigen dastehen, die als erste die großen Geschütze abfeuerten. Es musste jedoch alles unternommen werden, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. So wurde am Ende von allen Seiten mit eben den Waffen geschossen, die durch zuvor abgeschlossene Verträge abgeschafft sein sollten. Wie man sich vorstellen kann, waren die Auswirkungen verheerend."

    Plötzlich flammten auf der Weltkarte Explosionen auf. Wenn sie anfangs noch verteilt auftraten, nahmen sie an Häufigkeit und Intensität zu. Die Zuhörer konnten am Ende nichts mehr erkennen außer einem blendenden Lichtkegel. Ein ohrenbetäubender Lärm ertönte durch die Halle, der die Zuschauer verunsicherte. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie diesen Vortrag verfolgten, erschraken sie stets auf Neue. Die Vorstellung eines Krieges war zu fern für die Bürger. Sie kannten lediglich diesen fortwährenden Frieden, ohne dass sich jemand ernsthafte Sorgen zu machen brauchte.

    „Ganze Landstriche wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Zahl der Toten überstieg die bereits hohen Prognosen der Wissenschaftler und Berater bei Weitem. Vernichtung und Schmerz machten den, angeblich so erfahrenen, Politikern zu spät den Unsinn eines thermonuklearen Krieges bewusst.

    Als sich die drei Bündnisse nach schrecklichen Jahren voller Not und Leiden wieder an einen Tisch setzten, geschah dies im Bewusstsein, dass ein Ereignis wie dieses nicht noch einmal stattfinden durfte. So wurden abermals Verträge geschlossen, die das gemeinsame Leben bis ins Kleinste bestimmen sollten."

    Der Amtliche Lehrmeister deutete auf ein neues Hologramm vor ihm, das die Zuschauer bereits tausende Male gesehen hatten.

    „Nach jahrzehntelangem Wiederaufbau fand erneut reger Handel zwischen den übrig gebliebenen Völkern statt, ein verzweifelter Austausch von Kultur und Wissen, um die Feindseligkeiten der Vergangenheit vergessen zu machen. Die Auseinandersetzungen der Vergangenheit schienen nach einiger Zeit auch tatsächlich wie vergessen.

    Nichts mehr sollte die Menschen um 2100 an diesen vergangenen Krieg erinnern. Man klopfte sich erneut gegenseitig auf die Schultern und tat, als sei nichts geschehen. Die Völker mussten die Vergangenheit nur hinter sich lassen und durften nicht länger über Unterschiede sprechen. Dann konnte nichts passieren. Als Jahre später neue Bündnisse geschlossen wurden, konnte und wollte sich niemand mehr an das unglückliche Ende der letzten Vereinigungen erinnern. Es wurden neue, scheinbar stärkere Handelsabkommen geschlossen, die den freien Handel zwischen den Völkern bis ins Detail regeln sollten. Mit der Zeit wurden diese ausgeweitet, bis es abermals Hunderte solcher Abkommen gab, die die Sicherheit der Völker sicherstellen sollten. Wenn dies nur geholfen hätte…

    Obwohl unzählige Verträge zwischen den Ländern geschlossen wurden, setzten mit der Zeit neue Feindseligkeiten ein. Die Menschen fühlten sich erneut vom Nachbarn bedroht. Es ging um Wasser, fehlende Ressourcen und noch bewohnbare Gegenden. Es kam trotz der schmerzhaften Lehren aus dem vorangegangenen Krieg erneut zu Spannungen, Drohungen und Gegendrohungen, die letztlich auf einen weiteren Krieg zuführten, der die Völker endgültig entzweien sollte.

    Die Präsidenten der Länder riefen erneut zu den Waffen und warnten vor eben den Menschen, die zuvor noch Freunde und Verbündete gewesen waren. Neuartige Waffen wurden entwickelt, die die alten an Erbarmungslosigkeit übertreffen sollten."

    Der Offizielle sah sich suchend im Saal um und studierte die Wirkung seiner Worte in den erschrockenen Gesichtern der Zuhörer.

    „Als der Staub sich dieses Mal legte, hatten weit weniger Menschen überlebt als bei den vorangegangenen Kriegen. Es gab keine einzige Familie, die nicht Opfer zu beklagen hatte, keine Stadt, die nicht vollständig zerstört war.

    Es folgte eine erschreckende Ruhe nach dem Abwurf der letzten Bombe und dem Verklingen der Schreie. Es schien, als sei der Planet ausgebrannt. Erst nach Jahren wagten sich die ersten Überlebenden aus den riesigen Schutzbunkern auf die Straßen. Sie liefen in ihren Schutzanzügen durch eine zerstörte Welt auf der Suche nach Überresten einer Vergangenheit, die auf einmal so schön erschien. Die Menschen hatten alles gehabt, und doch war es nicht genug gewesen!

    Es wurde versucht, dem Feind die Verantwortung zuzuschieben, obwohl ein jeder von ihnen wusste, dass sie alle zusammen schuld waren am Untergang der Zivilisation. Da standen sie und wussten nicht mehr, wie sie mit dem Nebenmann sprechen sollten. Sie waren sich selbst fremd geworden. Es herrschte eine tiefe Stille, die den Menschen zugleich lauter und bedrohlicher vorkam als all die gefallenen Bomben zusammen, als all das Geschrei der Sterbenden und ihr eigenes Weinen. Diese Stille quälte, da sie zum Nachdenken zwang."

    Der Amtliche Lehrmeister liebte diese Stelle, konnte er sein schauspielerisches Talent unter Beweis stellen: Es schien, als würde er selbst zu weinen beginnen, so sehr nahm ihn die Geschichte mit. Die Zuhörer blickten ihn erschrocken an und bemühten sich, Fassung zu wahren.

    „Die Menschen fragten sich, wie sie mit dem Erbe umgehen sollten, das diese letzte Katastrophe hinterlassen hatte. Es herrschten Unverständnis und die tiefe Überzeugung, dass so etwas nie wieder geschehen durfte. Ein Weg musste zugleich gefunden werden, der die Völker vereinen und zukünftige Kriege unmöglich machen sollte. Falls sie eine Lehre aus dieser letzten Konfrontation gezogen hatten, dann diese: Selbst wenn alles zerstört war, sie lebten zumindest noch. Jeder weitere Krieg aber, das war ihnen deutlich bewusst, würde dies ändern. Die Politiker der einzelnen Länder kamen schließlich zu langen Sitzungen zusammen, in denen sie gemeinsam nach Wegen suchten, ein friedliches Zusammenleben zu garantieren. Auseinandersetzungen sollten in Zukunft von vornherein ausgeschlossen sein.

    Nachdem die Städte vollkommen zerstört waren, einigten sich die Führer final auf den Bau einer einzigen, gigantischen Stadt, in der die letzten Überlebenden friedlich zusammenleben sollten. Es musste eine Stadt sein, die von allen Seiten vor einer kontaminierten Luft, vor tödlichem Regen, vor einer zu heißen Sonne und unberechenbaren Winden geschützt war.

    Es wurden gigantische Luftfilter geschaffen, die zugleich einen Großteil der Elektrizität für die Stadt produzieren sollten. Via Sub-Nanotechnologie lassen sich seit der Entstehung dieser Stadt durch Umwandlung der physikalischen Struktur aus dem Nichts Gegenstände herstellen. Fahrzeuge, Kleider und Möbel, sogar Lebensmittel können dadurch in großen Mengen fabriziert und unter das Volk verteilt werden. In riesigen Kanalisationssystemen, die sich automatisch selbst reinigen, wird der Unrat der Bürger aus dem bewohnten Teil der Stadt gebracht, um gereinigt zu werden. Der Unrat einer perfekten Zivilisation kann dann wiederverwendet werden.

    Eine gigantische Stadt, in der die verschiedensten Völker, Rassen und Religionen leben sollen. Ein gigantisches Dach, das jedem Überlebenden Schutz vor einer tödlichen Umwelt bietet und das man selbst aus dem Weltall als Zeichen der menschlichen Resistenz und Gemeinschaft erkennen kann.

    Wie aber bringt man die unterschiedlichen Völker, Rassen und Religionen zusammen, ohne dass es zu erneut zu Auseinandersetzungen kommen würde?"

    Der Mann blickte erwartungsvoll ins Publikum, ohne dass er eine Antwort erwartete. Kommentare oder bedeutungsloser Meinungsaustausch waren während der Schulung nicht erlaubt. Ein jeder sollte sich allein auf seine Worte konzentrieren.

    „Dafür wurde eine neue Sprache entwickelt, die aus den noch existierenden bestehen sollte. Die neuen Bürger unseres Stadt-Giganten wurden nach dem Zufallsprinzip in den verschiedenen Abschnitten untergebracht. Die Stadt ist zudem so angelegt worden, dass es für die Bewohner der einzelnen Abschnitte keine Umwege gibt. Es wurde ein Straßensystem erstellt, das die Bewohner problemlos von einem Kommunalzentrum zum anderen gelangen lässt. Verschiedene Städte mit unterschiedlichen Geschichten unter einem gemeinsamen Dach.

    Zum Schutz der Gemeinschaft wurde jedem Bürger ein Speicherplättchen eingepflanzt, welches das Zusammenleben optimiert. Auf diesem Chip, der auch heute noch in verbesserter Form verwendet wird, sind alle wichtige Daten wie Alter, genetische Merkmale und gesellschaftliche Stellung des Trägers gespeichert. Durch diese Chips können unter anderem Krankheiten sofort erkannt werden, um eventuelle Ausbreitungen von Seuchen zu verhindern. Ferner gewährleistet er eine fortwährende Kommunikation und grenzenlose Unterhaltung."

    Er hielt ein kaum sichtbares Scheibchen in die Kamera einer schwebenden Drohne. Das Bild wurde im selben Moment auf einem riesigen Hologramm gezeigt. Sämtliche Augen wanderten wie automatisch auf das projizierte Bild des Mikrochips, obwohl jeder der Bürger selbst einen im Kopf trug.

    „Die Gründer unserer Stadt – mögen sie in Frieden ruhen – hatten für unser aller Heil entschieden, dass es keine weiteren Unterschiede zwischen den Bürgern geben durfte. Das bedeutet zugleich keine Familien, keine zwischenmenschlichen Beziehungen, keine Religionen. All diese Verbindungen hatten in der Vergangenheit lediglich zu unnötigen Ausgrenzungen von Teilen der Menschheit geführt und führten, wie die Vergangenheit deutlich zeigte, wiederholt zu tödlichen Auseinandersetzungen. Da missverständliche Empfindungen wie Zusammengehörigkeit und ein stets unberechenbares menschliches Verlangen unkalkulierbare Gefahren sind, können nur die Einschränkung persönlicher Rechte das Überleben der Gesamtheit garantieren. Es ist die letzte Chance für die Menschheit, und wir dürfen sie nicht wegen persönlicher Belange gefährden!

    Es wurde ein Quantencomputer erschaffen, der den Überlebenden sämtliche Entscheidungen abnehmen sollte, um sie vor sich selbst zu schützen. Ohne den Menschen weiter zu einem anstrengenden Denken zu zwingen, für den er nicht geschaffen worden war, nimmt uns dieser heilige Computer sämtliche zeitintensiven Denkprozesse ab. Wir können uns dadurch völlig auf die vielen Annehmlichkeiten unserer perfekten Zivilisation konzentrieren.

    Damit die Bürger nicht verwirrt werden, ist Geschlechtsverkehr ausschließlich der Obrigkeit gestattet. Nur wer in der Jugend wie diese einen notwendigen Unterricht bekommen hat, weiß damit umzugehen. Den normalen Bürger verwirrt dieser Akt lediglich. Er kann ihn weder begreifen noch weiß er ihn einzuordnen.

    Ein jeder lebt für sich allein in einer vom Zentralcomputer zugewiesenen Wohneinheit, die von der Volljährigkeit bis zum Tod das Zuhause bedeutet. Wenn der Bürger dann zum letzten Mal sein Heim verlässt, wird sie gereinigt und dem nächsten Bürger zugewiesen. Jegliche persönlichen Gegenstände des Bewohners werden nach dem Ableben unverzüglich beseitigt, damit er nichts von sich zurücklässt, das seiner Existenz eine besondere Bedeutung geben könnte.

    Die Stadt, in der wir leben, verkörpert alles für uns, ist Schutz, Luft, Nahrung, Mutter und Vater. Sie kann aus diesem Grund auch keinen Namen haben.

    Lasst uns alle zusammen in Demut niederknien und dem allmächtigen Quantencomputer danken, der allein die Sicherheit unserer Gemeinschaft garantiert und uns zu einer großen, einzigartigen Familie werden lässt! Wir wären nichts ohne seinen Schutz, nichts ohne die Weisheit des allmächtigen Systems."

    Real TV

    Es war an diesem Tag später geworden als sonst, wenn Zeit überhaupt eine Bedeutung hatte in einer künstlichen Welt, in der es nie dunkel wurde. Jade W10C erledigte letzte Arbeiten und signalisierte dem Computer durch eine kurze Geste den Dienstschluss. Das synthetische Licht, das unaufhörlich auf die Bürger dieser gigantischen namenlosen Stadt schien, beleuchtete grell diese Handlung, bevor sie die Lampe ebenfalls durch einen Wink abstellte.

    Jade W10C arbeitete im 5. Departement der Aufsichtskontrolle, die sich um soziale Kontakte zwischen den verschiedenen Abschnitten der Stadt kümmerte. Das 5. Departement funktionierte wie ein Filter, der etwaige Spannungen zwischen den Stadtteilen abbaute, zu denen es unter diesem gewaltigen Dach jederzeit kommen konnte. Die Stadt als homogene Einheit konnte nur durch Administrationen wie das 5. Departement existierten, so wurde Jade wiederholt eingetrichtert. Dank gehorsamer Mitarbeiter wie ihr war es möglich, diese bedeutsame Aufgabe zu bewältigen.

    Die Stadt war so stark wie ihr schwächstes Glied. Da es aber kein schwaches Glied geben durfte, hatte das Aufsichtsamt dafür zu sorgen, dass auf den Straßen stets Harmonie herrschte. Staatsbedienstete wie Jade kümmerten sich akribisch um die unteren Abteilungen und bestraften, falls sich störende Elemente kristallisierten. Das Aufsichtsamt war allerdings nie gezwungen, eine Strafe zu verhängen. Niemand wagte es, gegen die Vorschriften des Quantencomputers zu verstoßen. Es gab keine Stimme, die sich erhob, falls weitere Anordnungen erlassen wurden, niemand demonstrierte gegen neue Verbote, da Verordnungen und Gesetze allein dem Wohl der Allgemeinheit dienten.

    Jade W10C sehnte sich nach der Ruhe ihres kleinen Appartements, in der sie keine aufdringlichen Anfragen störten, die den ganzen Tag aus dem Computerchip in ihrem Kopf drangen. Wie grausam es war, ständig erreichbar zu sein. Als wenn sie bestraft werden sollte, ließen ihr die Stimmen keinen Moment der Ruhe. Sie forderten und bestimmten, machten Anfragen oder gaben Anordnungen. Erst nach Dienstschluss herrschte vollkommener Friede von diesen Stimmen. Jade genoss die Ruhe ihrer kleinen Wohnung, die ihr half, am nächsten Tag wieder die fortwährenden Stimmen ihrer Mitbürger zu ertragen. Sie hatte nicht mitentscheiden können, als ihr der Posten zugeteilt worden war. Niemand konnte die Stelle ablehnen, die die Oberste Behörde für einen aussuchte. Die Oberste Behörde irrte in keiner Entscheidung. Sie wusste genau, welche Position den Qualifikationen des gehorsamen Bürgers entsprach.

    Jade musste an ihre Kindheit und die Schule denken: Sie war wie alle Kinder am gewaltigen Großrechner der Stadt angeschlossen gewesen, um mit eben den Informationen geimpft zu werden, die sie später einmal benötigte. Wenn sie damals nur geahnt hätte, wie es sein würde, diesen Chip im Kopf zu tragen, der befahl, was sie wann zu erledigen hatte, sie wäre nicht so freudig zum Unterricht erschienen.

    Die Stimmen verwirrten, ließen ihr keine ruhige Minute. Ständig waren da fremde Menschen, die Anordnungen gaben, Anträge einreichten oder Auskünfte verlangten, die freundlich, verärgert, müde, verstimmt klangen. All diese Anrufer bedeuteten Schicksale, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Sobald sie allerdings das Büro verließ, verstummten diese bis zum nächsten Tag.

    Die Erinnerung an einen der letzten Abende ließ sich jedoch nicht so einfach abschalten. Die Bilder hatten sie bis in ihre Träume verfolgt, bedrängten sie seit dem Erwachen und würden sie selbst auf dem Heimweg begleiten. Sie fragte sich immer öfter, welchen Sinn diese fest geformte Gemeinschaft hatte. Jade fühlte einen Zweifel, vor dem sie sich fürchtete. Sie begann Dinge infrage zu stellen, die nicht hinterfragt werden durften. Wobei sie nicht einmal wusste, woher diese Ungewissheit kam, wenn zuvor alles in Ordnung gewesen zu sein schien.

    Nach der monatlichen Unterweisung im gewaltigen Gemeinschaftsraum ihres Abschnitts hatte sie sich mit ihrer Freundin Nancy C58V in ihrer Lieblingsbar, dem Frozen Brain Activity, getroffen, um einige Gläser Brain Tumour zu trinken. Sie liebte die nüchtern gestaltete Bar mit den transparenten Möbeln, der sphärischen Musik, den vielen Berühmtheiten, denen eine gewöhnliche Bürgerin ansonsten nicht begegnete. Lichtdrohnen schwebten einige Meter über den Gästen und änderten fortwährend Farbe und Helligkeit, um die Wirkung der Drinks zu verstärken. Die diskreten Kellner flogen unbemerkt zwischen den Tischen umher, unterstützt von kleinen surrenden Drohnen.

    Das Getränk hatte köstlich an ihrem Verstand gekitzelt und sich wie eine Raupe zum Kern ihres Verstands durchgefressen. Sobald dieses sich kreiselnde, bohrende, wühlende Gefühl erst das Zentrum erreicht hatte, verlor Zeit an Bedeutung. Sie löste sich wie die Personen um sie herum, wie das Glas in der Hand, wie die Luft, die sie atmete, in Atome auf. Es blieb ein Gefühl ohne Sinn und Bedeutung, ohne Fragen und Antworten. Sie spürte am Ende nur noch diese unbeschreibliche Leichtigkeit, die ihr ganzes Sein zu erfüllen begann und sie in den Urzustand allen Seins beförderte. Wie herrlich und vernichtend dieser Moment jedes Mal war, wie unvergleichlich rein und unschuldig.

    Nachdem die Wirkung sich allmählich eingepegelt hatte, nisteten sich aus dem Nichts allmählich fantastische Bilder in ihrem Kopf ein, unmerklich, heimtückisch, unberechenbar. Wenn es anfangs noch gewöhnliche Bilder waren, verwandelten sie sich im nächsten Moment bereits in bizarre Kunstwerke, die sie mit sich in ein verzerrtes Reich zogen. Und in diesen grellen Farben und geheimen Fantasien bekam sie das Gefühl, wiedergeboren zu werden. Sie erlebte ein neues Universum, das sie die verschwommene Realität vergessen ließ. Es erfüllte sie ein brennendes Verlangen, für immer mit den unterschiedlichen Bildern zu verschmelzen, kein Erwachen, keine Wirklichkeit, einzig diese bizarre Welt beispielloser Impressionen, in der allein blendende Farben herrschten.

    Dieser vollkommene Moment war irgendwann allerdings zu Ende gewesen und brachte die Wirklichkeit zurück. Die Farben, die Jade zuvor noch fest umschlossen hielten, lösten sich auf, und der kristallklare Ton, den sie sanft in sich getragen hatten, verklang allmählich. Nach und nach rückten die Konturen der anderen Gäste wieder näher, und es bildeten sich diese klaren Formen, die sie gewohnt war. Es wäre nach dem Himmelsflug verlockend gewesen, ein weiteres Glas Brain Tumour zu bestellen, um etwas länger in Richtung Ewigkeit zu fliegen. Nachdem sie allerdings nicht allzu oft einen Ausgehschein ausgestellt bekam, um ihre Freundin zu treffen, hatte sie es vorgezogen, in der Wirklichkeit zu bleiben.

    Die Ausgeherlaubnisse für gewöhnliche Bürger ihrer Stufe waren begrenzt, man musste sorgsam mit ihnen umgehen. Ihre Freundin dagegen genoss gewisse Privilegien, um die sie beneidet wurde. Nancy wusste genau, was in der Stadt gerade geschah, wer sich mit wem traf und wer das Sagen hatte. Nancy C58V arbeitete im 2. Departement der Aufsichtskontrolle, der Abteilung für die Erziehung des Volks. Die mächtige Aufsichtskontrolle entschied, was im allgegenwärtigen TeleVisor gezeigt wurde, welcher Schauspieler eine Lizenz erhielt und wer verschwinden musste, wer für die Karriere leben und wer sterben sollte.

    Da saß sie nun der einzigen Freundin gegenüber, die die Stadt einer gewöhnlichen Bürgerin wie ihr gewährte. Es war seltsam, aber obwohl sie die Frau seit der Kindheit kannte, war sie noch nie in deren Wohnung gewesen oder hatte andere Freunde von ihr getroffen. Eine jede Freundschaft beschränkte sich auf die gelegentlichen Treffen. Mehr war nicht gerne gesehen. Es störte die gewollte Distanz zwischen den Bürgern. Sie hatte somit auch keine Ahnung, was sich ansonsten in ihrem Leben ereignete.

    Nancy sah im Vergleich zu ihr extravagant aus. Die Freundin fiel auf in ihrem auf den schlanken Körper geschneiderten purpurfarbenen Kleid. Kleine Kügelchen, mit denen ihr Oberkörper gepierct war, funkelten wiederholt. Obwohl sie beide jung waren, wusste die gegenübersitzende Trendsetterin so viel mehr aus sich selbst zu machen. Sie wollte auffallen, wollte, dass man über sie redete.

    Nancy wusste genau, was sie mit ihrem Körper anstellen musste, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie liebte es, Haar-, Haut- und Augenfarbe ständig zu verändern. Es ging darum, einem flüchtigen Trend zu folgen, der sich täglich ändern konnte, abhängig was die Schauspieler in den Serien und Filmen trugen. Wenn ihre Haut heute noch schwarz war, konnte sie morgen bereits perlweiß oder sogar grün sein. Nancy liebte es, sich in andere Frauen zu verwandeln. Stets war da dieses Verlangen, mit ihren beeindruckenden Kleidern aus der Menge hervorzustechen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

    Im Vergleich dazu sie, blass, unscheinbar, mit einem reizlosen Körper. Sie hatte nicht wie die Freundin schöne Kurven, die sie weiblicher machten. Braunes, glanzloses Haar, ein ausdrucksloses Gesicht, müde Augen. Sie waren ein seltsames Paar: Auf der einen Seite eine gewöhnliche Bürgerin wie sie, unbedeutend, nicht besonders wortgewandt und auf der anderen Seite diese schöne, intelligente Frau, die schlagfertig war und genau wusste, was sie vom Leben erwartete. Seitdem Jade denken konnte, hatte sie ihre Freundin beneidet. Sie wollte stets wie sie sein, mit diesen Sonderrechten und besonderen Beziehungen, die ihr ein ausschweifendes Leben ermöglichten. Dennoch verband sie seit ihrer Kindheit eine starke Freundschaft, in der es keine Geheimnisse gab.

    Nancy verwaltete im Bereich Öffentlichkeitsarbeit um die 50 Schauspieler und Sänger. Wobei sich die Anzahl an Künstlern, für die sie verantwortlich war, jederzeit ändern konnte. Zu viele Gesichter lenkten das Publikum ab, hatte die Behörde entschieden.

    Die Bürger hätten Probleme, sich auf die Kernbotschaft zu konzentrieren, gleichgültig wie diese aussieht. Sobald ihre Kartei zu groß wurde, musste zwingend eine vorgegebene Anzahl gestrichen werden. Die Freundin hatte die Aufgabe, zu entscheiden, wer nicht mehr länger den Erwartungen entsprach. Die Schauspieler würden in der Rolle, die sie spielten, entweder einen Unfall erleiden oder in einer belanglosen Nebenrolle verschwinden, um bald vergessen zu werden. Das Publikum musste stets unterhalten sein und durfte sich nicht langweilen!

    Während die Wirkung des Drinks allmählich nachließ, fragte Jade sich erneut, ob es all diese Schauspieler überhaupt gab oder es sich nicht nur um virtuelle Personen handelte, Geschöpfe gefühlloser Computer, die mühelos gefühlvolle Gestalten schaffen konnten. Nancy hatte ihr einmal gezeigt, wie leicht künstliche Figuren am Rechner erschaffen wurden: Die Konturen eines Gesichts wurden mathematisch erschaffen, und der Rechner veränderte diese Information innerhalb von Sekunden in eben das Gesicht, das basierend auf Algorithmen vom Publikum gewünscht wurde.

    Wenn es in Wirklichkeit nur so einfach wäre, Gestalt und Aussehen zu ändern. Wie gerne sähe sie so aus wie eine dieser künstlichen Schöpfungen auf dem TeleVisor. Sie wollte im Spiegel ebenfalls in Augen blicken, die ein derart durchdringendes Blau hätten und sich in Sekunden in ein feuriges Rot verwandeln konnten. Selbst wenn es unbedeutend war, wie jemand aussah, sie ekelte sich vor dem eigenen Spiegelbild. Im Vergleich zu den Menschen, die Jade tagtäglich auf dem TeleVisor betrachtete, fand sie sich selbst bleich und nichtssagend. Den Bürgern wurde dabei von frühester Kindheit an beigebracht, dass Geschlecht und Aussehen unwichtig waren. Obwohl darin eine gewisse Heuchelei lag. Schauspieler setzten ständig Erotik ein, um die Zuschauer zu bannen. Alles in dieser Stadt war lediglich Schein, um Spannungen zu verhindern und eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten.

    Um ein perfektes System zu wahren, das ihr Zusammensein gewährleistete, musste es genaue Vorschriften geben, die den Alltag und das Miteinander bis ins Detail regelten. Selbst die Anzahl an Kindern wurde vom Staat klar bestimmt. Eine jede Frau hatte sich ab einem bestimmten Alter an die Abteilung für Bevölkerungsplanung zu wenden, die darüber entschied, ob sie genetisch vollkommen gesund war. Sollte die Untersuchung positiv verlaufen, wurde ein > Erlaubnisschein < für ein Nachkommen ausgestellt, ob die Bürgerin dies wollte oder nicht. Danach suchte der Zentralrechner einen genetisch passenden Partner aus. Sobald dieser gefunden worden war, wurden der Frau Eizellen entnommen, um sie im Labor künstlich zu befruchten.

    Jade wusste nicht weshalb, aber sie verspürte in letzter Zeit wiederholt Sehnsucht nach einem Baby. Sie sehnte sich danach, Mutter zu werden, selbst wenn ihr bewusst war, dass einem der Nachwuchs unverzüglich nach der Geburt weggenommen wurde. Ohne die Mutter zu informieren, wo und wie das Neugeborene groß aufgezogen würde, brachten es die Pfleger in einem der vielen Heime unter. Dort wurde es zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft erzogen.

    Dennoch wünschte Jade sich ein Baby, als könne sie dadurch etwas von sich hinterlassen. Sie

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