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Leben ist kälter als der Tod: Broken Mirror
Leben ist kälter als der Tod: Broken Mirror
Leben ist kälter als der Tod: Broken Mirror
eBook538 Seiten7 Stunden

Leben ist kälter als der Tod: Broken Mirror

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Über dieses E-Book

Colin Fox erhält den Auftrag, in Barcelona einen Mann zu töten. Eigentlich verläuft die Mission nach Plan. Aber nur eigentlich. Denn die Folgen des Mordes lassen ihn erkennen, was aus ihm geworden ist, und an seine Vergangenheit denken. Ohne wirklich zu wissen, was in den letzten Monaten passiert ist, wird ihm klar, dass er zurück in sein 'altes' Leben will. Durch einen weiteren Auftrag erhält er einen Hinweis auf den Mann, den er für alle vergangenen Katastrophen verantwortlich macht: William St.John-Smith. Obwohl ihm eine direkte Spur fehlt, nimmt er die Verfolgung seines Todfeindes auf, die ihn nicht nur nach Mexico-City führt. Währenddessen will der neue Leiter des ESS seinen verloren geglaubten Top-Agenten zurück – tot oder lebendig…
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. Aug. 2016
ISBN9783741835629
Leben ist kälter als der Tod: Broken Mirror

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    Buchvorschau

    Leben ist kälter als der Tod - Callum M. Conan

    Prolog

    Wenigstens wimmelt es hier nicht von Touristen. Das war sein einzig positiver Gedanke, als er auf der Spitze des Montjuїc angekommen war. Er begab sich zu der einige Schritte entfernten Holzbank und setzte sich darauf. Missmutig blickte er sich um. Im Sommer war hier normalerweise mächtig Betrieb. Dass dem heute nicht so war, hatte Vor- und Nachteile. Sein Kontaktmann hatte offenbar nur die Vorteile gesehen.

    Die Sonne strahlte vom Himmel und erwärmte die Luft, die durch die milden Temperaturen der letzen Tage ohnehin sehr angenehm war. Einige Vögel zwitscherten umher, als wäre bereits der Frühling ausgebrochen und ein Kaninchen hoppelte über die kurzgemähte Wiese. Es war Sonntag, der 24. Dezember. Ein Heiligabend wie jeder andere, bis auf das Wetter vielleicht. Wäre da nicht dieser Auftrag...

    Colin Fox zog das Trikot des FC Barcelona mit dem Messi-Aufdruck aus der großen Sporttasche, die er seit der Ankunft am Sants-Estació bei sich trug. Er war sich reichlich blöd vorgekommen, mit dem Ding vom Plaça de Catalunya über die Flaniermeile La Rambla zu laufen. Wer würde schon an einem Heiligabend zum Sport gehen? Noch dazu, wenn es ein geschäftsfreier Sonntag war, an dem nicht einmal die spanische Fußballliga Spiele austrug. Am Ende war Spanien nun einmal doch ein katholisches Land, das wenigstens an Weihnachten die kommerziellen Wünsche der TV-Sendeanstalten zurückstellte. Fox zog eine Grimasse. Aber im Grunde konnte es ihm ja auch egal sein, wie die Menschen in der Innenstadt der katalonischen Hauptstadt auf ihn reagierten. Er hatte schließlich einen Job zu erledigen, nur deshalb war er hier. Kein Gedanke an etwas Anderes!

    So nahm er auch die lächerliche Erkennungsprozedur einfach hin. Ein Messi-Trikot war vermutlich nirgendwo auf der Welt als besonderes Merkmal geeignet. Aber so waren die Spanier eben. Fox schoss der flüchtige Gedanke durch den Kopf, warum er eigentlich so lange kein Spiel seiner Dortmunder Borussia gesehen hatte. Der Gedanke löste ein seltsames Gefühl in ihm aus. Fast so etwas wie Heimweh... Verärgert unterdrückte er die Regung.

    Denk an den Auftrag!

    Genau das war jetzt wichtig. Nichts Anderes. Wenn nur endlich dieser verdammte Kontaktmann auftauchen würde. Bis Mitternacht sollte alles erledigt sein und bis zu der Villa am Fuß des Tibidabo war es ja auch noch ein ganzes Stück. Eigentlich hatte er sich vorab noch einen Eindruck vor Ort verschaffen wollen, aber wie es aussah, musste er wohl auf die Aufnahmen und die Erinnerungen an die virtuelle Observation im ESS-Headquarters zurückgreifen. Sein Blick ruhte auf der Sagrada Familia, der großen Basilika im Zentrum Barcelonas, als sein iPhone vibrierte. Er nahm es hervor und registrierte die Nachricht. Es würde glücklicherweise nicht mehr lange dauern. Er sah wieder auf, dann erhob er sich und ließ seinen Blick über das Panorama der Stadt schweifen. Der Torre Agbar fiel ihm durch die ovale Form und den gläsernen Baustil sofort ins Auge. So wirklich passte er nicht zum Stadtbild. Wenn, dann hätte man ihn an den Hafen setzen sollen. Im Kreis der Luxusliner wäre er gar nicht aufgefallen. Ein müdes Lächeln huschte über Fox‘ Lippen, während er die Ausfahrt eines Schiffes aus dem großen Fährhafen beobachtete. Das Ziel seines Auftrages war ebenfalls über das Wasser nach Barcelona gekommen. Man hatte seine Ankunft für den heutigen Vormittag prognostiziert und recht behalten. Der Auftrag musste schnell und präzise ausgeführt werden, weil man befürchtete, dass sich das Zielobjekt nicht lange in der spanischen Hafenstadt aufhielt. Fox hatte keinerlei Informationen über die Art seines Zielobjekts. Er wusste lediglich, dass es sich um einen Menschen handelte und eben, dass es nicht viel Zeit gab, den Auftrag zu erledigen. Umso wichtiger, dass sein spanischer Kontakt endlich auftauchte.

    Der Wind frischte etwas auf. Es würde doch jetzt keinen Wetterumschwung geben? Das hatte ihm auch noch gefehlt. Er wusste zwar nicht, was genau er für seinen Auftrag gleich bekommen würde, aber je schlechter das Wetter, desto schwieriger würde definitiv auch das erfolgreiche Ausführen der Aufgabe sein. Fox klappte den Kragen seiner schwarzen Jacke hoch. Sie war speziell für solche Aufträge entwickelt worden – irgendwas zwischen Jackett und Windjacke, aber vor allem mit der Möglichkeit zwischen einem elegant gekleideten und einem unsichtbaren Mann zu wechseln. Ein großer Fortschritt im Vergleich zu den militärischen Tarnjacken – die hätte er in vornehmen Etablissements sicherlich nicht tragen können.

    Aus Richtung der Seilbahnstation kamen einige Menschen in seine Richtung.

    Nun also doch mehr los!

    Fox breitete das Messi-Trikot neben sich auf der Bank aus, so dass die Nummer zehn und der Namensschriftzug deutlich zu erkennen waren. Laut Vereinbarung hätte er das Jersey anziehen sollen, aber über die Spezialjacke bekam er es definitiv nicht. Er untersuchte nochmals die Sporttasche, um sich zu vergewissern, dass alle wichtigen Gegenstände herausgenommen worden waren. Das war offenbar der Fall. Dann betastete er die großen Innentaschen seiner Jacke und stellte befriedigt fest, dass er die Umrisse dieser wichtigen Gegenstände fühlen konnte. Mit einem Tritt beförderte er die Tasche vor die Bank. Die Menschen aus der Seilbahn kamen immer näher. Der Wind hatte sich schon wieder gelegt.

    Ein Paar mit einem kleinen Mischlingshund und eine größere Familie, die lautstark plauderte, gingen an ihm vorüber, ohne auch nur von ihm Notiz zu nehmen. Schnell wurde es wieder ruhig. Fox lehnte sich zurück und nahm ein Kaugummi aus der Verpackung. Langsam begann er, darauf zu kauen. Aus dem Augenwinkel erkannte er einen Schatten, der seine Bank fast erreicht hatte. Als er sich wie zufällig in die Richtung des Schattens drehte, erkannte Fox, dass es sich um einen Mann mittleren Alters handelte. Vermutlich ein Katalane. Schwarze, lockige Haare, kurzer Bart, ein Tattoo, das seinen Nacken zierte. Automatisch speicherte Fox auch noch alle weiteren Informationen, die er auf den ersten Blick erkennen konnte und die für eine exakte Beschreibung wichtig waren oder bei einer körperlichen Auseinandersetzung hilfreich sein konnten.

    Der Mann schob das Trikot zur Seite und setzte sich wortlos neben ihn auf die Bank. Eine schwarze Sporttasche, die er bei sich trug und die der von Fox erstaunlich genau ähnelte, stellte er zwischen sie auf den Boden. Eine Weile saßen sie beide so da. Der Katalane kratzte sich ein paar Mal am Hals und zündete sich nach einigen Minuten eine Zigarette an. Nichts passierte. Die Vögel sangen weiterhin ihr Lied, zu dem Kaninchen hatte sich mittlerweile ein zweites gesellt und ein lautes Tuten kündigte die Ankunft eines weiteren Kreuzfahrtschiffes an. Fox nahm sein iPhone hervor und rief eine Nachrichten-App auf. An Heiligabend stellten sich augenscheinlich selbst die Agenturen auf Ruhe und Besinnlichkeit ein – laut der News-Übersicht war am Tage noch rein gar nichts passiert.

    Als die nächste Seilbahn die Bergstation erreicht und einige wenige Fahrgäste ausgespuckt hatte, warf der Spanier seine Zigarette weg. Lustlos griff er zu seiner Sporttasche hinunter und hob sie vom Boden auf. Er trat den noch qualmenden Stummel aus und trottete langsam zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.

    Fox sah sich langsam um. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihn beobachtete, nahm er die Sporttasche und stopfte das Trikot hinein. Während er den Reißverschluss zusammenzog, warf er einen kurzen Blick ins Innere: Ein Scharfschützengewehr also. So wusste er zumindest, wie er den Auftrag angehen konnte. Die Übergabe hatte reibungslos geklappt. Blieb zu hoffen, dass sich das am Abend genauso darstellte. Fox stand auf, nahm die Tasche und schlenderte in Richtung Seilbahnstation. In der Nähe des Casa Milà, eines der berühmten Gebäude des Modernisme-Architekten Antoni Gaudí, befand sich ein gutes Restaurant, in dem er auch mit der Sporttasche nicht besonders auffallen würde. So konnte er die Zeit, bis er in Richtung Norden fahren würde, gut rumkriegen.

    Es war bereits dunkel, als das Taxi ihn am Fuße des Tibidabo absetzte. Er zahlte ein angemessenes Trinkgeld, weniger als gewöhnlich, um nicht besonders aufzufallen, und schritt die Straße entlang, bis er die Rückseite eines kleineren Anwesens erreicht hatte, dessen Garten auf einer Seite durch ein kleines Wäldchen begrenzt wurde. Schnell blickte er sich um und schlug sich dann in die Büsche. Was ihm fehlte, war ein Nachtsichtgerät. Lediglich das Visier des Scharfschützengewehrs hatte eine solche Funktion. Beim Beobachten war er also auf seine eigenen Augen angewiesen, wenn er nicht extra die sperrige Waffe herausnehmen wollte.

    Fox zog ein Blatt Papier aus seiner Jackentasche, das er zuvor in der Sporttasche entdeckt hatte. Es zeigte das Zielobjekt auf seiner Yacht, einige Wochen zuvor. Nach wie vor wusste er nicht, wen er da eigentlich vor sich hatte und es war ihm auch egal. Er musste sich nur die wichtigsten Merkmale einprägen, um ihn zu erkennen. Aber da es auf dem Anwesen nicht nach einer Party aussah, würde er vermutlich ohnehin nicht zwischen vielen Menschen unterscheiden müssen. Die Ruhe, die den großen Garten und das Haus umgab, deutete darauf hin, dass der Herr des Hauses allein war. Es sei denn, er hatte Personal. Oder Familie. Was ein Problem darstellen würde. Aber auch kein allzu großes.

    Langsam und geduckt schlich er sich an der Grundstücksbegrenzung entlang in Richtung Wald. Dabei ließ er das Haus nicht aus den Augen. In diese Richtung gab es nicht viele Fenster, aber ein einziges konnte ja schon ausreichen, um dem Hausherrn einen Blick auf ihn zu ermöglichen. Genau das wollte er vermeiden. Fox erreichte das kleine Wäldchen und drang tiefer in die Botanik ein. Als er ein paar Baumreihen zwischen sich und das Grundstück gebracht und die Sporttasche mit dem Gewehr so auf dem zum Grundstück hin abfallenden Gelände platziert hatte, dass sie nicht umfallen konnte, drehte er sich erstmals um. Durch die Äste und Zweige hindurch spähte er zum Haus. Ein schwacher Lichtstrahl fiel aus einem oberen Fenster. Noch erkannte man nicht viel. Im schwachen Mondlicht konnte Fox lediglich die Umrisse des Anwesens und die Reflektion auf der Wasseroberfläche eines Pools erkennen. Einen wirklichen Überblick über die Lage hatte er von hier aus nicht. Seine Hoffnung hatte sich also nicht erfüllt. Aber irgendwie würde sicherlich alles klappen. Er wusste von den Fotos, dass sich der Hauptwohnbereich, wenn man es denn so nennen konnte, zu dieser Seite hin erstreckte. Eine große Glasfassade wie von einem Wintergarten schloss sich direkt an die Terrasse vor dem Pool an. Zumindest würde er so einiges im Blick haben.

    Die nächste halbe Stunde nutzte Fox, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und sich ein genaueres Bild von der Lage zu verschaffen. Er prägte sich die natürlichen Hintergrundgeräusche der Umgebung ein, um auf jedwede Störung aufmerksam zu werden. Viele Tiere waren zu dieser Jahreszeit nicht unterwegs. Das Bellen eines Hundes auf dem Nachbargrundstück war während der gesamten Zeit das Lauteste, was er vernahm. Einmal glaubte er, ein ankommendes Auto zu hören, aber das stellte sich letztlich als Trugschluss heraus. Die Familien waren wohl doch bereits von der Christvesper wieder nach Hause gekommen.

    Dank seiner Spezialjacke und der milden Temperaturen fröstelte er nicht. Nach dieser halben Stunde fasste er einen Entschluss. Wenn alles so kam, wie geplant, wäre dies der beste Plan. Er legte sich flach auf den Waldboden und nahm das Scharfschützengewehr aus der Tasche. Fox vergewisserte sich, dass alles richtig angebracht und funktionsfähig war und überprüfte zuletzt noch die Munition. Dann stellte er die Waffe auf das Zweibein und zielte auf die Glasfläche hinter dem Pool. Ein Blick durch das Visier bestätigte ihm die richtige Einstellung der Mündung. Durch die Enge zwischen den Bäumen hatte er zu den Seiten nicht viel Spiel, aber sobald sich sein Zielobjekt am richtigen Fleck befand, würde es gehen. Er musste nur schnell reagieren.

    Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich etwas tat. Um kurz vor halb zehn wurde in dem wintergartenähnlichen Vorbau ein Licht eingeschaltet. Fox wartete darauf, dass der Spanier in sein Blickfeld kam, aber es tat sich nichts. Zumindest schien seine These bestätigt, dass sich nicht viele Menschen im Haus aufhielten, denn sonst wäre es nicht so ruhig geblieben. Er nahm ein paar Korrekturen an der Visierlinie vor und lud die Waffe durch. Ein Vogel wurde durch das Geräusch aufgeschreckt, aber da niemand in seiner Nähe war und er das Überraschungsmoment auf seiner Seite wusste, erregte es keinerlei Aufmerksamkeit. Schnell wurde alles wieder ruhig.

    Als Fox erneut durch das Zielfernrohr blickte, zog eine Bewegung im Haus seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sah auf und erkannte eine Gestalt, die sich langsam durch den Raum bewegte und sich dann auf einem der breiten Sofas niederließ, die von hier aus gut zu erkennen waren. Es war eindeutig eine Frau. Fox fielen sofort die geschmeidigen Bewegungen auf. Das war nicht sein Zielobjekt Er warf einen weiteren Blick durch das Visier und erschrak. Er kannte die Frau. Hier an diesem Ort, in diesem Kontext hätte er sie niemals erwartet, aber es gab keinen Zweifel. Dieses Ziehen in seiner Brust, das er heute schon in ähnlicher Weise bei dem Gedanken an Borussia Dortmund registriert hatte, meldete sich zurück. Diesmal aber erheblich stärker. Er konnte es nicht genau lokalisieren, geschweige denn beschreiben. Etwas wie Heimweh, aber nicht wirklich. Er vermutete es in seiner Brustgegend, aber vielleicht war das auch ein Trugschluss. Warum nur hatte er dieses Gefühl?

    Verärgert versuchte er auch dieses Mal es abzuschütteln. Aber es gelang nicht wirklich. Er musste an den Auftrag denken, nur an den Auftrag!

    Der Gedanke in seinem Kopf verblasste zu seinem Entsetzen. Er konnte das Gefühl nicht ignorieren. Aber er kannte auch den wirklichen Grund dafür nicht. Eine weitere Bewegung im Haus lenkte ihn ab. Ein Mann trat auf die Frau zu, die sich erhob und ihn zärtlich umarmte. Fox erkannte ihn: Das war sein Zielobjekt. Der Spanier war nicht direkt in seiner Schusslinie, das hinderte ihn daran sofort abzudrücken. Er wollte Perfektion – und das war an diesem Abend sein Fehler. Während er darauf wartete, dass sich der Mann bewegte, fiel ihm sein beinahe unverschämt gutes Aussehen auf. Fox fragte sich, warum er in dieser Situation an so etwas dachte, aber auch dieser Gedanke bekam keine befriedigende Antwort. Die beiden Personen im Haus umarmten sich noch intensiver und begannen sich zu küssen. Fox‘ Magen krampfte sich zusammen.

    Jetzt denk an deinen Auftrag, Mann!

    Der Mann löste sich aus der Umarmung der Frau und wollte sie mit sich auf das Sofa ziehen. Dabei bewegte er sich so weit, dass er exakt zwischen zwei Baumstämmen auftauchte, die bislang noch ein Hindernis im Schussfeld dargestellt hatten. Fox drückte ab.

    Noch während er das charakteristische Geräusch der aus dem Schaft austretenden Kugel vernahm, wusste Fox, dass er einen Fehler gemacht hatte. Es war nicht der erste an diesem Abend, aber ein folgenschwerer. Mit einem lauten Krachen zerbarst das Glas der Fensterfassade und fiel in tausend Einzelteilen klirrend zu Boden. Fox sprang auf. Schon mit bloßem Auge erkannte er, dass er sein Ziel verfehlt hatte. Der Spanier war zwar zu Boden geworfen worden, aber es hatte sich lediglich um einen Streifschuss gehandelt. Aufgeregte Rufe aus Richtung des Hauses drangen an sein Ohr, während er das Gewehr halbherzig in der Sporttasche verstaute und sich mit schnellen Schritten in diese Richtung aufmachte. Auf seinem Weg nahm er die Walther PPQ aus seinem Halfter.

    Nur für Notfälle! Das hier war einer.

    Fox schwang die Tasche über die Schulter und hielt sie mit dem Riemen in einer Hand. In der anderen hatte er die Pistole, die bereits durchgeladen und entsichert war. Er musste aufpassen, um nicht über die Veranda oder in den Pool zu stolpern, aber er erreichte auf schnellstem Wege den wintergartenähnlichen Vorbau. Drinnen lag der Spanier inmitten eines Scherbenhaufens auf dem Boden und stöhnte vor Schmerz auf. Die Frau hatte sich über ihn gebeugt und versuchte verzweifelt, etwas gegen das austretende Blut an seiner Schulter zu unternehmen. Sein Name, den Fox bislang nicht gekannt hatte, schien Àlex zu sein, denn sie wiederholte ihn mehrfach in ihrem Wortschwall der Verzweiflung.

    Der Spanier hatte Fox offenbar bemerkt, denn er drehte seinen Kopf zur Seite und schrie etwas Unverständliches in die Nacht. Im Hintergrund lief ein Song der Beatsteaks, der so gar nicht in dieses spanische Ambiente passte, sich von dem vorherrschenden Chaos aber nicht beeindruckt zeigte. Als er direkt über dem Spanier stand und auf ihn zielte, drehte die Frau sich zu Fox um. Ihre Blicke trafen sich und ließen einen sehr langen Moment nicht voneinander ab. Er registrierte ihre Verzweiflung, die ihn zu fragen schien „Warum tust du das?". Eine kurze Regung zeigte sich in seinem Gesicht, dann wandte er sich von Lavinia ab und schoss dem Spanier direkt in den Kopf.

    1

    Neue Wege

    Ein Jahr zuvor, am Montag, den 19.12., in Konstanz:

    Ronald Freud war kein Mann, den man gerne warten ließ. Trotz seiner ziemlich kleinen, aber robusten Gestalt, konnte er auch den noch so stärksten Gegner einschüchtern, was vermutlich vor allem seiner absoluten Ruhe und Selbstsicherheit zuzuschreiben war. Der sechzig Jahre alte Interimschef des European Secret Service, kurz ESS, dem man sein Alter wenn überhaupt nur durch das deutlich zurückgehende und angegraute Haar ansah, stand vor dem großen Fenster, das den Blick auf den Seerhein freigab und zeigte keinerlei Regung, als Constantin Fröhlich an die Tür klopfte und dann eintrat. Draußen schipperte ein kleines Fischerboot vorbei und ein abschätziges Lächeln huschte über Freuds Miene. Einige Minuten verharrte er noch in dieser Position, dann drehte er sich langsam zu seinem Gast um, der immer noch vor dem großen Eichenschreibtisch stand. Wortlos wies er ihn an, Platz zu nehmen und verschwand dann auf dem Flur. Nach kurzer Zeit kam er wieder und setzte sich ebenfalls.

    -„Ich hatte vor einer Viertelstunde meinen Tee bestellt und der ist immer noch nicht da. Offenbar muss man hier erst ein bisschen Druck machen, bis etwas passiert."

    Fröhlich lächelte ein unsicheres, zustimmendes Lächeln und wartete darauf, dass sein Chef fortfuhr.

    „Na ja, fangen wir trotzdem mal an." Er nahm seine Brille von der breiten Nase und fuhr sich mit der Hand über das rundliche Gesicht. „Was macht Ihr Death-Panel?"

    -„Alles läuft soweit nach Plan. So wie es aussieht, bekommen wir im neuen Jahr auch noch weitere Personen, die wir in das Programm einspannen können. Bislang haben wir ja nur zwei sehr unterschiedliche Testpersonen, die zwar für eine Überprüfung der Vorbereitung geeignet sind, aber nicht ausreichen, um das Panel erfolgreich in die Tat umzusetzen. Zumindest nicht in dem Maße, wie wir es zuletzt geplant hatten."

    -„Wie Sie Ihre Leute rekrutieren ist für mich zweitrangig. Der Erfolg des Programms ist wichtig. Wie sieht es mit Colin Fox aus?"

    -„Ich hatte erwartet, dass Sie das fragen." So allmählich entspannte sich Fröhlich. Hier war er in seinem Element. Dass sein Chef unangenehme Fragen stellte und schroffe Kommentare abgab, war er gewohnt. Es ging am Ende nur darum, das, was er tat, erfolgreich zu verkaufen. Als Leiter einer völlig neuen Abteilung im Geheimdienst, von dem weder die federführende Europäische Union, noch die für die Gründung des ESS verantwortlichen Vereinten Nationen wussten, hatte er eine große Verantwortung, aber auch einiges an Spielraum. Das Death Panel, eine Unterabteilung, beschäftigte sich mit einem Gebiet, das schon immer in das Ressort der Geheimdienste gefallen war, niemals aber offiziell gebilligt wurde. So war es in den letzten Jahren zunehmend abgebaut und verändert worden, aber Fröhlich teilte die Auffassung Ronald Freuds, dass den Gefahren des neuen Jahrtausends nur mit großer Härte zu begegnen war und auch ein Feld in der Arbeit nicht vernachlässigt werden durfte: Das Feld der politischen Morde.

    Er war noch nicht einmal zwei Wochen im Amt, aber zusammen mit einigen anderen einflussreichen Männern in unterschiedlichsten politischen und außerpolitischen Kreisen hatten er und sein Chef schon vor Monaten mit den Planungen begonnen. Als sich dann Ende November ankündigte, Freud würde in ein Gremium gehoben werden, das dem ESS so nahe stand, dass es möglich war, Einfluss zu nehmen, waren ihre Ideen erstmals konkreter geworden. Constantin Fröhlich hatte keine Ahnung, wie es zu den Veränderungen im Service und letztendlich zu der Einsetzung Ronald Freuds als Leiter des ESS gekommen war, aber es interessierte ihn im Grunde auch gar nicht. Sein Metier war die tägliche Arbeit am Programm, an der Beeinflussung und Ausbildung von Menschen. Es gab einiges zu tun, um einen Menschen zu dem zu machen, was er am Ende für das Death Panel sein sollte: ein Killer. Aber eben ein Killer, der für das Gute kämpfte. Es ging nicht darum, grundlos Menschen zu töten und Profite daraus zu schlagen. Es ging vielmehr um die Sicherheit der gesamten Weltbevölkerung. Was die Amerikaner sich vor Jahrzehnten auf die Fahnen geschrieben hatten, die Demokratie in alle Teile der Welt zu bringen und für die Sicherheit der Welt zu sorgen, war ein hehres Ziel. Darauf mussten sie heute aufbauen, wenn auch aus einer anderen Position heraus und mit weniger eindeutig politischen Absichten, als vielmehr aus sicherheitstechnischen Gründen. Die Maßnahmen, die dafür nötig waren, konnten auf den ersten Blick schockierend wirken, aber der Nutzen war das Entscheidende. Ein Satz, der Fröhlich jeden Morgen, bevor er zur Arbeit fuhr, wieder in den Sinn kam.

    „Um Ihre Frage kurz zu beantworten: Es sieht durchaus erfolgsversprechend aus. Fröhlich lächelte bei dem Gedanken daran, dass dies die einzige Antwort war, die seinen Chef zufriedenstellte. „Offenbar haben die Umstände, unter denen Sie ihn mir vorgesetzt haben, seine psychische Verfassung stark beeinträchtigt. Man kann nicht wirklich von einer eindeutigen psychischen Diagnose sprechen, das haben mir auch unsere Experten bestätigt. Vielmehr scheint seine Welt vor kurzem auf den Kopf gestellt worden zu sein. Eine Art Schock oder Verwirrung verhindert, dass er sich unseren Maßnahmen dauerhaft widersetzt. Von Zeit zu Zeit kommt zwar eine gewisse Stärke in ihm zum Vorschein, aber da er offenbar keinen Anhaltspunkt hat, um die Frage nach richtig und falsch zu beantworten, ist es keine große Herausforderung für uns, das in den Griff zu bekommen.

    -„Ihnen sollte aber klar sein, dass er uns schwach und unberechenbar nichts nützt. Wenn wir ihn als Prototyp in das Death Panel einspannen, muss er funktionieren. Reibungslos und jederzeit."

    -„Das ist mir bewusst. Wissen Sie, ein Hauch von Verunsicherung flog erneut durch sein Gesicht, „das Programm ist genau so angelegt, dass es anfänglich vonnöten ist, den Zustand einer psychischen Desillusionierung zu erreichen. Der Vorteil bei Colin Fox ist, dass er diesen Zustand bereits vor Eintritt in das Programm erlangt hat. Für einen eigentlich – wie die Tests gezeigt haben - geistig starken Dreiundzwanzigjährigen ist das durchaus bemerkenswert.

    -„Nach dem, was in Brüssel vorgefallen ist, erscheint mir das auch nicht gerade verwunderlich. Aber das haben Sie natürlich nicht vor Augen." Freud kostete diese Bemerkung aus. Fröhlich unter die Nase zu reiben, dass er nicht weiter in Dinge eingeweiht war, die von größter Wichtigkeit für das Gesamtsystem schienen, bereitete ihm offensichtlich eine gewisse Genugtuung.

    -„Wie dem auch sei. Sie brauchen sich über das Fortkommen des DPs keine Sorgen zu machen."

    -„Wenn das so ist... Eine Frage habe ich allerdings noch, bevor ich die erste größere Sitzung unter meiner Leitung eröffne, an der Sie teilnehmen können, falls Sie das wünschen. Abwesend betrachtete Ronald Freud seine Brillengläser durch eine größere Distanz und entschied dann, dass sie sauber waren. „Wann wird er seinen ersten Auftrag ausführen können?

    -„Das sollte bereits zu Beginn des neuen Jahres möglich sein. Aber wir sollten vorsichtig anfangen, falls es zu Komplikationen kommt..."

    -„... sind Sie natürlich dafür verantwortlich", beendete Freud den Satz.

    Fröhlich schluckte. Wie sollte es auch anders sein? Er hatte zwar große Freiräume, aber die Verantwortung lag am Ende doch auf seinen Schultern. Sein Boss sicherte sich natürlich großräumig ab. Doch er war sich dessen bewusst und hatte selbst seine Vorkehrungen getroffen. Um fahrlässig zu sein, kannte er Ronald Freud zu gut. Diesen Fehler würde er nicht machen.

    -„So, Freud erhob sich langsam aus seinem Bürosessel, „es ist gleich neun. Ich will die Sitzung schnell zu Ende bringen, also sollte ich nicht länger warten. Wollen Sie dabei sein?

    -„Ach, ich weiß nicht..."

    -„Doch, ich denke, es wäre eine gute Gelegenheit, Ihre neuen Kollegen kennen zu lernen und unter die Lupe zu nehmen. Was wir absolut nicht gebrauchen können, ist zu großer Widerstand aus den eigenen Reihen."

    Im Flur kam ihnen ein Angestellter mit einer Tasse Tee entgegen.

    -„Die ist dann wohl für mich, bemerkte Freud leicht genervt. „Besser spät als nie.

    Der Angestellte wollte ihm die Tasse reichen.

    -„Was soll ich jetzt damit? Stellen Sie sie in den Konferenzraum, ich werde dort erwartet."

    Der Mann wandte sich eingeschüchtert um und folgte den beiden anderen in den Konferenzraum, wo er die Tasse auf den Platz am Kopf des Tisches stellte und dann schnell verschwand. Freud schob den breiten Sessel zur Seite und begrüßte die bereits anwesenden Abteilungsleiter und führenden Angestellten des European Secret Service. Als er bemerkte, dass noch nicht alle Plätze besetzt waren, verzog er kurz die Miene und setzte sich dann in seinen Sessel. Fröhlich ließ sich auf dem Platz zu seiner Rechten nieder. Nach einem skeptischen Blick in die Runde begann Ronald Freud langsam mit einem kleinen Löffel in seinem Tee zu rühren.

    -„Können wir die Anderen noch erwarten?", fragte er mit leichter Verärgerung. Gerade als er zu einer wütenden Bemerkung ansetzen wollte, weil ihm niemand antwortete, traten weitere Männer ein, unter ihnen auch Orlando Gomez und Filip Ekholm, die Leiter der Abteilungen für operative Einsätze und Informationsbeschaffung.

    -„Da wir nun vollzählig sind, können wir anfangen, stellte Freud angesäuert fest, während die Neuankömmlinge sich mit betretener Miene auf ihren Plätzen niederließen. „Ich bin also der neue Opal Alpha. Ich denke, wirklich vorstellen müssen wir uns einander nicht. Wir werden in den nächsten Wochen Zeit genug haben, uns kennen zu lernen und im Grunde liegt mir auch mehr daran, Sie für Ihre Arbeit zu beurteilen und nicht für irgendwelche Nebensächlichkeiten, die Sie uns heute hier präsentieren. Mein Name ist Ronald Freud und ich wünsche auch weiterhin so angeredet zu werden, da mir, auch wenn ich nicht umhin komme, diesen Titel weiterzutragen, diese Opal-Bezeichnung etwas albern erscheint. Er warf einen Blick in die Runde und trank einen Schluck Tee. „Mir liegt viel an Effizienz und Erfolg und daher hoffe ich, dass wir diese Sitzung hier schnell hinter uns bringen, damit wir uns wieder dem Wesentlichen zuwenden zu können. Ich weiß, dass es einige organisatorische und verwaltungstechnische Angelegenheiten zu regeln gibt, also schlage ich vor, jemand von Ihnen präsentiert mir kurz ihre bisherige Struktur und anschließend teile ich Ihnen mit, was es von ganz Oben Neues gibt. Zwar ist mir ein theoretischer Einblick in die Organisation dieses Dienstes bereits gewährt worden, aber um sich näher damit vertraut zu machen, fehlte mir bislang leider die Zeit. Wenn ich also um eine Einführung bitten dürfte."

    -„Ich denke, das wäre dann wohl meine Aufgabe", meldete sich ein Mann in den Dreißigern mit einem Hauch von französischem Akzent zu Wort. Ein aufgeweckter, drahtiger Typ, wie Freud missbilligend feststellte. Nicht gerade die Art von Mitarbeitern, die er schätzte. Stellte für gewöhnlich zu viele Fragen. Aber das blieb abzuwarten.

    -„Bitte sehr."

    -„Ich bin Opal Sigma, Leiter der Verwaltungs- und Kommunikationsabteilung. Mein Name ist Rene Lecout. Um den allgemeinen Organisationsaufbau kurz zusammenzufassen: Bislang hatten wir eine pyramidale Grundstruktur, die sich in vier Hauptabteilungen aufteilte, denen die Geheimdienstleitung überstand und einige weitere Unterabteilungen unterstanden. Zum Führungsteam der vier Abteilungen gehören Joachim Bergmann für die Ausrüstungs- und Ausbildungsabteilung Gamma, Bergmann erhob sich kurz und nickte Freud zu, „Filip Ekholm für die Informationsbeschaffungsabteilung Delta, auch Ekholm erhob sich, Orlando Gomez für die operative Abteilung Omega, Gomez deutete ein salutieren an, blieb aber sitzen, „und zuletzt ich selbst. Uns unterstehen jeweils weitere Führungskräfte und eine Vielzahl von Angestellten."

    -„Wie dem auch sei, unterbrach ihn Freud, „mich würde nun vordergründig die Aufteilung für die geheimdienstliche Arbeit interessieren. Wie erledigen Sie das tägliche Geschäft und die Vorgehensweise bei speziellen Einsätzen?

    -„Nun, ich schätze, da können Ihnen die jeweiligen Abteilungsleiter und ihre Führungskräfte detailliertere Informationen bereit stellen, aber ganz allgemein teilen wir die Arbeit bei uns derzeit in HUMINT und SIGINT. Während die Informationsbeschaffungsabteilung laufend Daten sammelt und stets mit den staatlichen Geheimdiensten sowie der Europäischen Union in Kontakt steht, werden operative Einsätze jeweils speziell geplant. Natürlich gibt es einige Einsatzgebiete, die dauerhaft von uns bearbeitet und überwacht werden, aber da wir eine sehr gute Zusammenarbeit mit den nationalen Institutionen pflegen, liegt die Präferenz auf speziellen Einsätzen, die wir von hier aus koordinieren."

    -„Und was genau sind das für Fälle?"

    -„Im Grunde genommen geht es letztendlich immer um die Weltsicherheit. Die von den Vereinten Nationen unter einem Deckmantel gegründete World Security Intelligence Organisation, kurz WSIO, zu der wir ebenfalls gehören, soll letztendlich ergänzend zu den nationalen Geheimdiensten fungieren. Da wir aber offiziell eine an die EU angehängte Institution sind..."

    -„...geht es vor Allem um europäische Angelegenheiten, beendete Freud den Satz. „Ja, danke, das ist mir bereits bekannt. Man wird nicht an die Spitze eines so großen Geheimdienstes befördert, wenn man keine Ahnung hat, was der Dienst überhaupt tut und wie er aufgebaut ist. Sie werden also verzeihen, wenn ich Sie unterbreche, aber mir ging es lediglich um die Herangehensweise bei Einsätzen. Um eine Information von meiner Seite vorweg zu nehmen: Es wird bei den bislang bestehenden zwei Geheimdiensten unter der WSIO-Leitung nicht bleiben. Vielmehr sind einzelne kontinentale Vertretungen geplant. Der ESS wird aber der bedeutendste Dienst bleiben. Was die innerdienstliche Organisation angeht, wird es ebenfalls einige Änderungen geben. Ihnen allen liegt ein Dossier vor, das die für Sie relevanten Änderungen zusammenfasst. Zum Teil geht es darin um Bestimmungen, die uns von der Europäischen Union auferlegt worden sind, zum Teil aber um Neuerungen, die ich einführe. Ich hatte gehofft, dass durch meine kleine Einstiegsfrage deutlich wird, was ich als ein Problem der bisherigen Arbeit unter meiner Vorgängerin ansehe: Der ESS arbeitet progressiv, reagiert nur, statt zu agieren. Sie sprachen zwar gerade von einigen fortlaufenden Einsätzen, Lecout, aber im Grunde sind diese eindeutig zweitrangig. Solange nicht eine offensichtliche Gefahr vermittelt wird, überlassen wir die Arbeit den nationalen Kollegen. Das gedenke ich ab heute zu ändern. Freud ließ seinen kurzen Vortrag nachwirken und blickte in eine Reihe skeptischer Gesichter. Ihm war klar gewesen, dass er zu Beginn keine große Zustimmung ernten würde. Die Frage war nur, wie verblendet die Männer und Frauen in diesem Dienst von der Vorgehensweise seiner Vorgängerin waren. Sollte die Loyalität ihr gegenüber größer sein als gegenüber der Sache, konnte das zu einem Problem für ihn werden. Es würde aber ebenso schnell zum Ende der Karriere der jeweiligen Mitarbeiter führen. „Was also passieren wird", fuhr Freud fort, „ist Folgendes: Ab jetzt werden wir agieren, werden den weltweiten Gefahren degressiv begegnen. Wir werden die Sicherheit gewährleisten, indem wir Probleme bekämpfen, bevor sie wirklich entstehen. Die Anschläge in Deutschland vor gut drei Wochen haben mal wieder gezeigt, dass der Terror die größte Gefahr weltweit ist. Ich schließe mich der Bundeskanzlerin und dem US-Präsidenten an, wenn ich sage, dass der Kampf gegen den Terror unseren größten Einsatz verdient.

    Dazu wird es einige strukturelle Veränderungen in dieser Organisation geben. Zuallererst wird eine neue Abteilung ins Leben gerufen, die strikter Geheimhaltung unterworfen ist. Was Sie hier an diesem Tisch darüber wissen dürfen, wird Ihnen gleich der Leiter dieser Abteilung mit der Abkürzung DP, Constantin Fröhlich, erläutern. Sie wird vollkommen unabhängig von allen anderen Abteilungen sein und verwaltet werden. Lediglich eine Information geht indirekt auch Sie an. Freud wandte sich an Gomez. „Colin Fox hat sich bereit erklärt, der Abteilung beizutreten und wird Ihnen demnach ab sofort nicht mehr zu Verfügung stehen. Sollte es Möglichkeiten und Notwendigkeiten geben, Ihre Abteilung mit dem DP zu verknüpfen, werden Sie das zu gegebenem Zeitpunkt mit Herrn Fröhlich besprechen. Gomez nickte skeptisch. Etwas in seinem Blick gefiel Freud nicht, aber es war zu früh darüber zu urteilen. Bis zu diesem Punkt verlief alles zu seiner Zufriedenheit. Niemand stellte unnötige Fragen, und das, obwohl er selbst so wenige Informationen wie möglich über die neue Abteilung gegeben hatte. „Die Informationen zu den weiteren neuen Abteilungen, die durch die Anweisungen aus Brüssel und Straßburg eingesetzt wurden, entnehmen Sie bitte den Dossiers. Ich habe mir erlaubt, diese neuen Posten mit meinen eigenen Leuten zu besetzen, statt sie hier heute wählen zu lassen. Im Gegenzug wird vorerst jeder Einzelne von Ihnen seinen bisherigen Posten behalten." Mache Zugeständnisse und konfrontiere sie dann erst mit Neuem – so kannst du nur gewinnen. Wie es aussah, ging seine Taktik auf. Niemand wandte etwas ein. „So konnte ich auch gleich die nächste Auflage der EU erfüllen und die neuen Führungsplätze so mit Frauen besetzen, dass wir die Quote erfüllen. Wo wir gerade bei Frauen sind: Man hat mir bislang keine feste Sekretärin zugeteilt. Mit den bisherigen war ich nicht wirklich zufrieden. Ich denke, es wäre Ihre Aufgabe, Lecout, mir jemanden vorzuschlagen."

    Rene Lecout schaute etwas pikiert auf das Dossier vor ihm, das er bereits zu lesen begonnen hatte, und wandte sich dann seinem neuen Chef zu.

    -„Da Sie uns gerade mitgeteilt haben, dass Colin Fox von seinem bisherigen Posten zurückgetreten ist, gehe ich davon aus, dass wir ihn in anderen Abteilungen nicht mehr einplanen müssen?"

    -„Davon können Sie ausgehen. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie alle ihre Einsatzagenten nach eingehender Besprechung nun mit einer Kennung versehen wollen. Wie lautet die für Colin Fox?"

    -„Wir hätten ihm die Bezeichnung Omega 5 zugewiesen. Es wäre rein aus verwaltungstechnischen Gründen passiert."

    -„Die Idee finde ich trotzdem durchaus gut. Er wird diese Kennung auch in neuer Funktion behalten, berücksichtigen Sie das bitte. Aber zurück zu meiner Sekretärin..."

    -„Fox hatte bislang eine Privatsekretärin, ich denke, die benötigt er in der neuen Funktion nicht mehr, wenn die Verwaltung der Abteilung ohnehin unabhängig organisiert ist. Also schlage ich vor, dass Sie Lisa Maytree übernehmen. Sie war zuvor schon Sekretärin Ihrer Vorgängerin."

    -„In Ordnung. Ich übernehme sie. Freud blickte auf seine Uhr. Das alles hier dauerte länger, als er geplant hatte. „Ich denke, ich werde Sie gleich allein lassen müssen. Ich habe noch zu tun.

    -„Eine Sache, der Sie zustimmen müssen, gäbe es da noch, wandte Lecout ein. „Es existiert ein Rahmenvertrag mit der Firma Centrotherm und der Würth-Gruppe...

    -„Über diese Sache bin ich bereits informiert. Wir übernehmen das Centrotherm-Gebäude für unsere Zwecke, es wird der Abteilung Delta zugewiesen. Und was die Würth-Gruppe angeht, so brauchen Sie sich darum nicht weiter zu kümmern. Also, Gentlemen, bevor ich gehe:, Freud hob herrschaftlich die Hand, „auf eine gute Zusammenarbeit. Dann verschwand er aus dem Konferenzraum und ließ einige sehr verunsicherte Gesichter zurück.

    Joachim Bergmann und Orlando Gomez trafen sich zufällig zwei Stunden nach der Konferenz am Kaffeeautomaten im Aufenthaltsraum. Beide schwiegen erst eine ganze Weile, bis Bergmann etwas sagte.

    -„Und was halten Sie vom neuen Opal Alpha?"

    -„Ich weiß nicht. Gomez nahm die Tasse mit dem heißen Kaffee entgegen. „Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Schlimm genug, dass er alles umkrempeln will, aber seine Herangehensweise wirkt so... bedrohlich.

    -„Vielleicht sind wir ja auch einfach nur ein bisschen eingerostet und nicht mehr so flexibel."

    -„Möglich, dass Sie recht haben. Gerade wo wir doch eigentlich besonders flexibel sein sollten."

    -„Eben." Bergmann schüttete sich einen halben Becher Zucker in den Kaffee.

    -„Das ist aber nicht gerade gesund, was Sie da machen", bemerkte Gomez lachend.

    -„Ich beuge nur vor, falls Ihr Gefühl Sie doch nicht trügt. Zyankalikapseln haben wir ja leider keine hier."

    Beide mussten lachen.

    -„Aber Spaß beiseite, Gomez wurde wieder ernst. „Mir gefällt diese Sache mit der neuen Abteilung außerhalb des inneren Verwaltungsapparats nicht. Schlimm genug, dass Freud sich nicht näher zu den Veränderungen und neuen Abteilungen geäußert hat. Zumindest konnte er uns seine neuen Leute nicht vorstellen, weil die Neuerungen erst zum Jahreswechsel greifen. Aber was dieser Fröhlich über das Death Panel angedeutet hat, klingt sehr nach den alten Methoden, die wir als unabhängiger Geheimdienst gerade nicht mehr unterstützen wollten.

    -„Zumindest hat er uns ja ziemlich im Unklaren gelassen. Vielleicht sehen wir auch einfach nur Gespenster, weil wir eine so fantastische Chefin hatten."

    -„Mag sein..." Gomez trank einen Schluck Kaffee und stellte dann fest, dass es Bergmanns Kaffee war. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schluckte er den Kaffee herunter.

    -„Gut, nicht?", witzelte Bergmann.

    -„Süße Plörre!" Er wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. „Wir sollten die Sache zumindest im Auge behalten. Dass er uns alle auf unseren Posten belassen hat, könnte durchaus Taktik sein. Wiege sie ihn Sicherheit, damit sie nicht merken, wie um sie herum alles zusammenbricht. Ein unheimliches Szenario."

    -„Wir werden sehen."

    Währenddessen hatten Constantin Fröhlich und Ronald Freud

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