Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können
Von Winfried Wolf
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1777 trafen sie sich zufällig auf der Wartburg bei Eisenach. Grimm war auf der Durchreise von St. Petersburg nach Paris, Goethe hatte sich im Thüringer Wald eine "Auszeit" genommen. Grimm war in Gesellschaft von Carl Theodor von Dalberg und Goethe notierte in sein Tagebuch: "Die Ankunft des Statthalters schloss mich auf einige Augenblicke auf. Grimms Eintritt wieder zu. Ich fühlte inniglich, dass ich dem Mann Nichts zu sagen hatte, der von Petersburg nach Paris geht."
Das zweite Mal trafen sie sich in Düsseldorf bei ihrem gemeinsamen Bekannten Friedrich Heinrich Jacobi. Grimm war mit seiner "Familie", der Gräfin Bueil und ihren Kindern auf der Flucht vor der Revolution und legte hier mit vielen anderen Emigranten auch, eine Zwischenstation ein. Goethe erinnerte sich später: "Herr von Grimm und Frau von Bueil erscheinen gleichfalls. Bei der Überfüllung der Stadt hatte sie ein Apotheker aufgenommen [...]. 1801 begegneten sich Grimm und Goethe zum dritten Mal. Goethe kam auf Besuch nach Gotha, er hatte hier viele Freunde, darunter auch den Herzog Ernst II. Man traf sich im sog. "Prinzenhaus", das Grimm damals mit seiner "Adoptivfamilie" de Bueil bewohnte.
Goethe hat Grimm indirekt aber schon viel früher kennenlernen dürfen. Er zählte nämlich zu den auserwählten Lesern der Correspondance littéraire. Unter den wenigen Lesern dieses Kultur-Journals, die nicht einem Fürstenhause angehörten, gab es einige geadelte Bürgerliche, darunter auch Goethe.
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Buchvorschau
Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können - Winfried Wolf
Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können
Titel Seite
Ankunft und erste Tage in Karlsbad
Ein gewöhnlicher Kurtag
Heute weder am Sprudel noch am Mühlbrunn
Grimm trifft Goethe am Sprudel
Grimm notiert
Grimm trifft einen alten Bekannten: Lord Findlater
Alle spielen Theater
Ein Ausflug zum Posthof
Grimm und der Kurier der Zarin
Mit Goethe nach Teplitz
Grimm, Goethe und der Prinz Europas
Ankunft und erste Tage in Karlsbad
Der eine kam von Dresden her, der andere aus Jena. Beide hatten das gleiche Ziel, Karlsbad, hier erhofften sie sich Linderung ihrer körperlichen Leiden. Dabei stand der eine mit seinen 46 Jahren noch mitten im Leben, der andere war mit seinen 72 fast schon am Ende seiner irdischen Laufbahn angekommen.
Baron von Grimm war Ende Juni nach Karlsbad gekommen, da ging es im Kurbad noch ruhig zu, er wollte vier, höchstens sechs Wochen bleiben und dann nach Gotha zurückkehren. Goethe hatte sich Anfang Juli mit einem Pack naturwissenschaftlicher Arbeiten und dichterischer Entwürfe auf die Fahrt ins Bad begeben. Nach überstandenen bösen Wegen kam er am 4. Juli abends in Karlsbad an, wo er im Grünen Papagei auf der Wiese sein Quartier nahm, für sieben Gulden die Woche. Zu Eckermann sollte er später sagen: Ich habe gehandelt wie ein Jude. Das Wetter ließ zu wünschen übrig, kalte Regentage, während der Herreise nur selten ein Sonnenstrahl zwischen den Wolken.
Nach den notwendigen Absprachen mit den Wirtsleuten begab sich Goethe in seine kleine Wohnung im dritten Stockwerk. Er hatte es nicht gern, wenn ihm jemand über dem Kopf herumging. Er warf einen prüfenden Blick auf den bescheidenen Schreibtisch und gab dem Burschen, der beim Abpacken des Wagens geholfen und das Reisegepäck nach oben getragen hatte, ein kleines Trinkgeld. Hatte der Türmer bei seinem Eintreffen die Trompete geblasen, er hatte gar nichts gehört, nun, man wird sehen , wenn morgen die Türmersfrau kommen und Glück zur Ankunft wünschen wollte.
Auf dem Sekretär lag die gedruckte Gästeliste des Kurbades. Unter den aufgeführten Namen waren ihm die meisten bekannt: Die verwitwete Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt, die kam ja jedes Jahr. Der Herzogin von Meklenburg-Schwerin war er noch nicht begegnet, auch die Bekanntschaft mit dem Fürsten Moritz von Lichtenstein hatte er noch nicht gemacht, aber den Fürsten Emanuel von Salm-Salm hatte er schon zusammen mit Karl August in Weimar getroffen und auch der regierende Fürst Reuß von Greiz war ihm kein Unbekannter mehr. Ein Name auf der Liste ließ jedoch Goethes Augenbrauen ein wenig nach oben gehen. Baron Friedrich Melchior Grimm hielt sich ebenfalls in Karlsbad auf. Er würde ihn gewiss morgen, sicher aber in den nächsten Tagen am Brunnen treffen. Es war drei Jahre her, da hatte er ihn bei Jacobi in Pempelfort gesehen. Grimm war damals in Begleitung der Gräfin Bueil nach Düsseldorf gekommen, auch deren Kinder waren dabei. Er glaubte sich erinnern zu können, dass Grimm mit seiner „Familie", wie er die Bueils nannte, in einer Apotheke logierte, es gab ja kaum Platz für die vielen Emigranten. Wie Goethe von den Frankenbergs aus Gotha wusste, hatte Grimm mit seiner Adoptivfamilie später Aufnahme bei Herzog Ernst gefunden.
Ja, die französischen Emigranten, sie zogen jetzt von Hof zu Hof und bettelten um Unterstützung. Grimm wird es aber nicht so arg getroffen haben, er ist ein Freund des Herzogs und stand in seiner Pariser Zeit in dessen Diensten und, was viel wichtiger ist, er ist ein enger Vertrauter der Kaiserin von Russland. Wie man hört, kommen regelmäßig Kuriere aus St. Petersburg nach Gotha und Grimm scheint tatsächlich das Ohr der Zarin zu haben. Sehr wahrscheinlich wird sie ihm auch das nötige Geld zuschießen. So schlimm wird es mit Grimm also nicht stehen. Er wohnt jetzt, wie Goethe über die Frankenbergs wusste, mit seiner „Familie" im alten Haus des Prinzen August und der Herzog soll ihm ja auch eine schöne Ausstattung überlassen haben. Goethe machte sich für das Bett zurecht, morgen wollte er schon um fünf Uhr am Brunnen sein.
Während Goethe auspackte, stand Grimm an diesem Abend in seinem Zimmer am Fenster und sah auf den dunklen Markt hinaus, um diese Zeit war kein Leben mehr in den Gassen. Er rieb sich die geröteten Augen, konnte aber dadurch auch nicht viel besser sehen. Grimm dachte an Katharina und an seinen Auftrag. Ja, er war nach Karlsbad gekommen, weil ihm die Kur schon einmal gut getan hatte, das war vor drei Jahren gewesen, gleich nach seiner Flucht aus Frankreich.
Aber es waren nicht nur seine körperlichen Leiden, die er hier auskurieren wollte, es gab noch einen wichtigeren Grund über den er mit niemandem hier sprechen konnte. Vordergründig war es die Sache mit seinen Augen, die nicht besser werden wollten. Karlsbad hatte, das wusste er, schon viel Nutzen bei mancherlei Augenleiden geleistet, besonders bei sekundären Affektionen, die bloß Reflex eines chronischen Leidens des Pfortadersystems waren. Die Dämpfe der heißen Quellen konnten vielleicht die leichten Nebelflecke der Hornhaut, die sich bei der Entwicklung des grauen Stars einstellten, verschwinden lassen. Doktor Damm sprach noch gestern davon, dass durch eine streng eingehaltene Trinkkur dem pathologischen Kleeblatt Hämorrhoiden, Gicht und Lythiasis zu Leibe gerückt werden könne. Das Brunnenwasser, sagte der Arzt, bewirke die erwünschten kritischen Ausscheidungen durch den Darmkanal und die Urinwege. Grimm hatte jedoch Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Geschichte, die ein gefälliger Kurgast in Umlauf gesetzt hatte. Nach dessen Darstellung konnte er schon in der vierten Woche seiner Kur mit dem linken Auge wieder den kleinsten Vogel in der Luft sehen und mit dem rechten war es ihm möglich, was er zu Anfang seiner Kur nicht konnte, die Anzahl der Finger, die ihm der Arzt vorhielt, zu bestimmen. Grimm musste lächeln, eine solche Geschichte hätte auch im Unterhaltungsteil seiner Correspondance littéraire stehen können.
Ja die Correspondance littéraire , das lag nun auch schon 20 Jahre zurück, damals hatte er mit seinem Periodikum von Paris aus ganz Europa in Erstaunen versetzt, auch den jungen Herrn Goethe, der heute hier eingetroffen sein soll. Er wird sich wohl auch in die Gästeliste aufnehmen lassen. Grimm hatte zunächst Bedenken, sich über diese Liste den Anwesenden bekannt zu machen aber es ist doch recht nützlich zu erfahren, wie man sich bei zu machender Bekanntschaft zu titulieren habe. Darauf hatte er immer großen Wert gelegt; man muss den Herrschaften die nötige Ehrerbietung zeigen, sonst gewähren sie dir keinen Einlass in ihre inneren und äußeren Gemächer.
Diderot hatte ihm einmal seine vielen Bücklinge vor den Großen und Mächtigen vorgeworfen. Der Philosoph hatte aus seiner Sicht vielleicht Recht aber wäre er, Grimm, ohne Schmeichelei und Liebedienerei an den Tisch der Fürsten und Könige geladen worden? Wichtig war doch, dass man sich selbst treu blieb. Nein, bestechlich war er nie gewesen und was er vor zwanzig Jahren für richtig hielt, war heute immer noch richtig. Aber bei Gott, die Zeiten hatten sich geändert. Frankreich ist von einem Schwindelgeist ergriffen worden. Ein Haufen von halbtrunkenen Advokaten und Edelleuten hat sich einfallen lassen, eine Menge Rechte abzuschaffen, die seit Jahrhunderten bestanden. Katharina ist zuzustimmen, wenn sie sagt, dass Frankreich jetzt eine strenge Hand und einen wirklichen Führer braucht. Sie hatte ihm geschrieben: „ Cäsar wird kommen, da können Sie sicher sein ."
Ja, auch er war überzeugt, dass sich jedermann in Frankreich nach dem republikanischen Abenteuer und dem Terror der Jakobiner die Rückkehr zur Monarchie wünschen wird. Grimm warf noch einmal einen Blick auf die Kurliste, sie hieß offiziell „ Geschriebene Specifikation der Badegäste, welche sich in der königlichen Stadt Karlsbad der heilsamen Gesundbrunnen hier bedient haben ". Die Fürsten Reuß und Lichtenstein standen auf der Liste, sie könnten ihn ein wenig über die österreichischen Verhältnisse aufklären. Katharina war nicht nur mit den Preußen unzufrieden. Sie suchte einen starken Partner, der ihr den Rücken im Kampf gegen die Türken freihielt, aber die Österreicher wollten nicht. Seit Joseph II. hatte die Habsburger Monarchie keinen entschlossenen Führer mehr an ihrer Spitze. Verdiente Männer wie sein Freund, Fürst de Ligne, waren kaltgestellt worden.
Es klopfte, der Hausbursche brachte die Speisen, die Grimm heute Mittag im „ Goldenen Ochsen bestellt hatte: Rindfleisch mit Meerrettich, eingemachtes Gemüse und etwas gekochtes Obst, dazu eine Bouteille roten Melnicker Wein. Vielleicht sollte er zu Abend weniger essen, nun ja, er will ja so gut es geht auf den Rat des Arztes achten: nicht zu stark gesalzen oder gewürzt und keine geräucherten und fetten Speisen sollen es sein. „Ich werde mich überwinden müssen
, seufzte Grimm in sich hinein, „gehen wir bald schlafen, ich muss meine Kur einhalten".
Ein gewöhnlicher Kurtag
In den ersten Tagen seiner Kur hatte sich Baron Grimm ganz auf die Einhaltung einer strengen Kur konzentriert, so wie es ihm Doktor Damm, der hiesige Arzt, vorgeschlagen hatte. Er erhoffte sich viel von einer Verbesserung seines Gesundheitszustandes, die nächsten Jahre würden ihm noch viel Kraft abverlangen und es war ohnehin erstaunlich, welche Lasten er noch mit sich herumschleppen konnte. Da war seine „Familie" in Gotha, dann die aufgetragene Sorge um die anderen französischen Emigranten, denen er, so gut es ging, mit Katharinas Hilfe ein Überleben in Deutschland sichern sollte und ja, er selbst stand weiter im Dienst der Kaiserin von Russland und ihr wollte er wirklich dienen, solange es seine Kräfte zuließen.
Schon nach wenigen Tagen hatte sich Grimm an einen Tagesablauf gewöhnt, den er mit kleinen Abweichungen auch ohne größere Probleme einhalten konnte: Um 5, spätestens um 6 Uhr morgens verlässt Grimm das Bett. Ein Blick aus dem Fenster sagt ihm, wie er sich für den Tag zu kleiden habe. Dann wandert er, mit dem Becher in der Hand, zum Brunnen. Er trinkt dort zwei bis drei Becher, macht ein paar Schritte, trinkt vielleicht noch einen und wandert wieder gemächlich auf und ab. Inzwischen hat man den einen oder anderen Bekannten gesehen und treibt die übliche Brunnenkonversation in meist angenehmer Gesellschaft. Nach dem letzten Becher steht eine Nachpromenade von etwa einer halben Stunde an, sodann macht man Aufwartung, geht zu Gaste oder bewegt sich sonst in Gesellschaft.
Bei schlechtem Wetter geht Grimm zurück in den Mohren oder besucht eines der Kaffeehäuser auf der Wiese. Bei gutem Wetter sucht er sich einen Platz unter den Kastanien, dort findet sich immer ein Kreis von neuen und alten Bekannten. In einem der Kaffeehäuser nimmt er dann gewöhnlich bis gegen 9 oder 10 Uhr auch sein Frühstück ein. Manchmal hat er ein Journal dabei oder er setzt ein paar Gedanken für einen Brief auf mitgebrachtes Papier. Wenn er noch Lust zum Gehen hat, macht er dann wieder eine Promenade und nimmt um 1 spätestens 3 Uhr das Mittagsmahl ein. Er hat sich aber auch schon das Essen in seine Wohnung bringen lassen, das war, als es ihm nicht besonders gut ging.
Nach Tisch begibt sich Grimm bis gegen 4 Uhr zur Ruhe. Ein Schläfchen aber will er sich nur selten gestatten. Der Arzt empfahl ihm für die Zeit nach dem Essen eine leichte Lektüre oder, wenn es sich ergeben sollte, ein Spielchen. Dann ist wieder Bewegung angesagt, man tritt, oft hat man am Morgen schon eine lockere Verabredung für den Nachmittag getroffen, in hoffentlich heiterer Gesellschaft eine Promenade an, vielleicht ergibt es sich, einen Kaffee oder Tee an einem der Belustigungsorte zu sich zu nehmen oder man geht bei schlechtem oder zu heißem Wetter von 4 bis 6 ins Theater. Eine Spazierfahrt in die Umgebung von Karlsbad bietet sich an, wenn eine geeignete Begleitung vorhanden ist.
Wenn der Arzt es angeordnet hat, kann man zwischen 5 bis 7 Uhr Abends wieder ein oder zwei Becher trinken, promeniert dann, so einen die Beine noch tragen können, und nimmt dann bis 8 oder 9 Uhr sein Abendmahl ein. Damit ist der Kurtag zu seinem Ende gekommen, es sei denn, es liegt noch eine Einladung zu einem Ball oder zu einer Abendgesellschaft vor, die man nicht ablehnen kann. Für gewöhnlich aber legt sich Grimm, wie alle anderen Kurgäste, um 9, spätestens um 10 Uhr zu Bett. Davor aber gedenkt er noch seiner Katharina und seiner „Familie", das versteht sich von selbst. In sein Tagebuch notiert er am dritten Tag seiner Kur:
„Es findet sich hier eine geschlossene Gesellschaft ein. Der hohe Adel überwiegt, auf der Kurliste stehen Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt, Fürst Czartorynsky, die Herzogin von Mecklenburg-Schwerin, Fürst Moritz von Lichtenstein, Fürst Emanuel von Salm-Salm, Fürst Reuß etc. ... Man spricht hier vor allem Französisch, aber auch Deutsch, Italienisch, Russisch und Polnisch. Man kann die Stadt am Tepelfluss als eine internationale Oase in einer aufgewühlten Welt betrachten. Sonst lässt es sich in Karlsbad recht wohl sein, man fühlt sich zwischen den Mächten Russland, Österreich, Frankreich und Preußen wie auf einer friedlichen Insel."
An Gräfin Bueil und die Kinder hatte er nach Gotha geschrieben: „Ich wohne im Gasthaus