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Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck: Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen
Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck: Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen
Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck: Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen
eBook485 Seiten6 Stunden

Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck: Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen

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Über dieses E-Book

Die gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse, wie sie durch die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und durch den sozialen Wandel ausgelöst und angetrieben werden, bleiben nicht ohne Folgen für das Gesundheitssystem und insbesondere für die medizinische Versorgung. Unter dem damit einhergehenden wachsenden Zeitdruck drohen der Arzt-Patient-Beziehung als Kern der medizinischen Versorgung ökonomische Fremdbestimmung und Marginalisierung. Die Autorinnen und Autoren beleuchten diese Prozesse unter historischen, philosophischen, natur- und sozialwissenschaftlichen sowie medizinischen und gesundheitspolitischen Blickwinkeln. Ihre Beiträge verbinden Einblicke in die Praxis der medizinischen Versorgung mit wissenschaftlichen Analysen, Stellungnahmen von Spitzenfunktionären des Gesundheitswesens sowie Anregungen zur persönlichen Entschleunigung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Juni 2020
ISBN9783647999401
Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck: Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen

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    Buchvorschau

    Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck - Martin Scherer

    Vorwort der Herausgeber

    »Die Zeit ist ein Machtinstrument.«

    (Peter Høeg, 2019, S. 208)

    In der Einführung zu ihrem Buch »Die ärztliche Konsultation« geben Bruno Kissling und Peter Ryser eine Einschätzung des gegenwärtigen Schweizer Gesundheitssystems ab, die unmittelbar auch den Kern der Problematik berührt, die wir in diesem Band darstellen und diskutieren: »Die Medizin und das Gesundheitswesen durchlaufen seit einiger Zeit eine kritische Phase. Diese zeigt sich im Spannungsfeld zwischen mehr und mehr hoch technologischen medizinischen Möglichkeiten, die sich zunehmend im Grenzbereich abspielen, und einer Kostenlast, die der Bevölkerung höchste Sorgen bereitet. Parallel zur technischen Entwicklung verkümmert die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten, die tarifarisch ungenügend honoriert wird« (Kissling u. Ryser, 2019, S. 14).

    Die Autoren verweisen auf die erfolgreichen technischen Innovationen der Medizin, markieren auch deren Grenzen bei chronischen Erkrankungen und »Polymorbidität« (S. 14) und kommen nach einem skeptischen Blick auf die bei Laien hohe Erwartungen weckende und sie zugleich verunsichernde Wirkung der frei verfügbaren Gesundheitsinformationen im Internet zu einem kritischen Schluss:

    »Unter allen diesen Veränderungen haben sich unsere Ansprüche an die Medizin sowie unsere Bedürfnisse und Erwartungen an die ärztliche Tätigkeit maßgeblich gewandelt und gesteigert. Die Summe dieser medizinischen und gesellschaftlichen Veränderungen führt die medizinischen Aktivitäten zusätzlich auch mehr und mehr in den Grenznutzenbereich. Neben einem möglichen Nutzen wächst das Risiko für potenziellen Schaden aus unnötigen Abklärungen, Überdiagnosen, unnötigen Behandlungen – und beim Arzt die Angst, etwas zu verpassen. Eine Angst, die weitere Maßnahmen zur Beseitigung der immer verbleibenden Ungewissheit erforderlich macht und sich leider auch kommerziell bewirtschaften lässt. Damit schießt die Medizin an ihrem ursprünglichen Ziel vorbei und kann sich paradoxerweise zur Gefahr für den Menschen entwickeln. Die Kosten des Gesundheitswesens ufern aus und gelangen in den Bereich der Verschwendung von finanziellen und personellen Ressourcen. ›The medical establishment has become a major threat to health‹ (Illich, 1975)« (Kissling u. Ryser, 2019, S. 14).

    Kissling und Ryser belassen es bei dieser Feststellung. Sie wollen in diesem Zusammenhang nur verständlich machen, warum sie in der ärztlichen Praxis versuchen, »systemisch-lösungsorientiert«, wie es im Untertitel heißt, ein Gegengewicht zu schaffen. Sie kritisieren zwar, dass das bedächtige, sorgfältige und damit zeitraubende Eingehen auf Patientinnen und Patienten nicht angemessen honoriert wird, und sie wissen, »dass Ärzte und Ärztinnen heute auch in gesundheitlichen Extremsituationen das Gespräch mit dem Patienten, der Patientin über diese grundsätzlichen Themen kaum aufnehmen« und »sich in medizinisch-technischen Hyperaktivismus (flüchten), der in der Regel nicht zu den erwarteten Resultaten führt, jedoch zu Folgemaßnahmen, mehr Unsicherheit und Angst letztlich zu einer schlechteren Qualität und zu exorbitanten Kosten« (Kissling u. Ryser, 2019, S. 16). Aber was die einen zur Hektik treibt und andere – wie die Verfasser auch – dazu drängt, dem Gesundheitssystem Nischen der Besinnung auf die Bedürfnisse der Kranken abzutrotzen, bleibt unausgesprochen.

    Wir wollen etwas zur Kenntnis dieser Hintergründe beitragen – letztendlich mit dem nämlichen Ziel, das Nachdenken darüber zu befördern, wie die medizinische Versorgung sowohl in der Klinik als auch in der hausärztlichen wie in der fachärztlichen Praxis trotz des Zeitdrucks, von dem auch sie erfasst wird, eine neue Beziehungsqualität gewinnen kann. Wir sehen es als ein positives Zeichen an, dass die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) dabei ist, das Recht des Patienten auf Beziehung in ihre Zukunftsstrategie aufzunehmen.

    »Beschleunigung« und »Zeitdruck« sind zentrale Themen der heutigen Gesellschaft. Den unbestreitbaren Vorteilen der technisch ermöglichten Beschleunigung hinsichtlich Ortswechsel, Informationsaustausch, Dienstleistungen und Versorgung mit Konsumgütern stehen inzwischen bekanntermaßen zahlreiche negative Folgen entgegen wie der rapide Schwund natürlicher Ressourcen, der menschliche Anteil an der auf dramatische Weise sich zuspitzenden Klimakrise und die immer deutlicher sichtbar werdende Kluft zwischen den Profiteuren und den Opfern der Beschleunigungsprozesse. Es gibt heute berechtigte Zweifel daran, dass der Beschleunigungszug noch aufzuhalten ist – trotz aller offenkundigen Belastungen und Dysfunktionalitäten, die er mit sich bringt. Vor einigen Jahren bereits hat der Soziologe Hartmut Rosa die gegenseitige Verschränkung von Technologie, sozialem Wandel und Lebenstempo und den daraus entstandenen »Akzelerationszirkel« umfassend beschrieben und analysiert (Rosa, 2005, S. 243 ff.; siehe den Beitrag »Beschleunigungsprozesse: Historische und sozialwissenschaftliche Streiflichter« von Berghold in diesem Band), der alle Lebensbereiche – organisierte wie private – mitgerissen hat und damit auch die Medizin als eine der großen und für den Erhalt der Gesellschaft unentbehrlichen Institutionen.

    In der medizinischen Versorgung werden besonders viele problematische Faktoren der gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse erkennbar. Dazu gehören:

    –die zunehmende, an kurzfristiger Rendite interessierte Ökonomisierung des Gesundheitssektors, wie sie sich in einer Bürokratie äußert, für die Personalknappheit Gewinn versprechend ist und die sogar Einfluss auf die Therapie zu nehmen sucht, um Kosten zu reduzieren;

    –der durch Wettbewerb ausgelöste Druck auf Forschung und medizintechnische Entwicklung, in kürzester Zeit Neues und therapeutisch wie ökonomisch Verwertbares zu liefern;

    –finanzielle Fehlanreize, die einerseits zu Überversorgung, andererseits zur finanziellen Unterbewertung der ärztlichen Beziehungs- und Beratungsarbeit führen – ein Problem, das sich mit dem demografischen Wandel und den damit einhergehenden Erscheinungen wie Multimorbidität, chronischen Erkrankungen und Polypharmazie stetig verschärft;

    –die durch Fehlinformationen (auch von medizinischer Seite) ausgelösten oder durch die Erwartungen der Arbeitswelt bedingten Patientenansprüche an unrealistisch schnelle Behandlungserfolge, die jeder biologischen und psychischen »Eigenzeitlichkeit« von Genesung, Krankheitsverläufen und körperlichem Verfall zuwiderlaufen;

    –die digitale Sammlung, Konzentration und Übermittlung von Patientendaten ohne ausreichende Sicherheit gegen Diebstahl, unbefugte Weitergabe und Verwertung;

    –die im Zuge der modernen Beschleunigung des Lebenstempos vorangetriebene Aktivitätsverdichtung mit dem – nach den Worten von Jonas Niemann – dominanten Anspruch, »die eigenen Bedürfnisse komplett zurückzustellen, […] um möglichst gut eine Aufgabe zu erfüllen« (S. 263 in diesem Band), was nicht unwesentlich zur Zunahme an Erschöpfungszuständen in den medizinischen und pflegenden Berufen beiträgt, die allenfalls bei den Ärzten durch ein überdurchschnittliches Einkommen zum Teil kompensiert werden;

    –der besonders hohe Grad an Spezialisierung und komplexer Arbeitsteilung in der medizinischen Versorgung, der die schon allgemein wirksamen Faktoren des modernen Zeit- und Beschleunigungsdrucks verstärkt, die sich aus Unverträglichkeiten in der zeitlichen Abstimmung zwischen unterschiedlich schnellen Teilsystemen (in Form von Leer- und Wartezeiten) ergeben – wie dies zum Beispiel in der Überbeanspruchung von Notfallambulanzen zum Ausdruck kommt.

    Neben dem breiten Spektrum an belastenden, verunsichernden oder auch bedrohlichen Auswirkungen der großen Beschleunigungstrends sind aber auch wichtige Verbesserungen und Erleichterungen anzuerkennen, die durch sie möglich wurden und werden – sei es im Sinne technischer Errungenschaften, die manche medizinischen Behandlungen und Eingriffe kürzer, ungefährlicher und effizienter machen konnten und damit zu einer verbesserten Gesundheit und Lebenserwartung beitragen; sei es aber auch im Sinne der von mehreren Interviewpartnern und -partnerinnen in diesem Band vertretenen Hoffnung, dass mit Hilfe einer konsequenten und durchdachten Digitalisierung Zeit gewonnen werden kann, die den Patientinnen und Patienten in Form ausführlicherer Beratung und Zuwendung zugute kommt.

    Unser Buch geht also von der These aus, dass die gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse, wie sie durch die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik angestoßen und angetrieben werden, nicht ohne weitreichende Folgen für das Gesundheitssystem im Allgemeinen und für die medizinische Versorgung im Besonderen bleiben. Um diese Zusammenhänge sichtbar zu machen, haben wir an den Anfang Beiträge gestellt, die das, was in der Medizin an Beschleunigung geschieht und als Zeitdruck erlebt wird, mit naturwissenschaftlichen, historischen und sozialwissenschaftlichen Informationen und Reflexionen zu den Phänomenen »Zeit« und »Schnelligkeit« rahmen. Dem folgen Einblicke in Fehlentwicklungen in der medizinischen Forschung (Zunahme an Fehlern, Überproduktion), die durch den wachsenden Zeitdruck bedingt sind. Im Zentrum steht die Darstellung und Analyse von Problemen in der medizinischen Versorgung, insbesondere in der Arzt-Patient-Beziehung, zunächst in Form eines resümierenden Beitrags zur Forschungssituation, sodann durch den Blick auf zwei spezielle Erfahrungsbereiche (Endometriose; Vergleich der Zeitproblematik in deutschen und tansanischen Gesundheitseinrichtungen) und schließlich durch die Einholung von Expertenwissen bei Spitzenfunktionären des deutschen Gesundheitswesens. Der Band schließt mit Anregungen zur persönlichen Entschleunigung für Ärzte und Ärztinnen – aber nicht nur für sie.

    Zu den Beiträgen im Einzelnen:

    Hans-Hermann Dubben nähert sich dem Phänomen »Zeit« über beobachtbare Veränderungen (Tageszeiten, Jahreszeiten) und deren physikalische Ursachen sowie immer exaktere Messungen. Nur geben auch sie keine Antwort auf die Frage, was Zeit »eigentlich« ist. Über Aristoteles, Augustinus von Hippo, Newton, Leibniz, Mach und Einstein geht er Glaubenssätzen, Vermutungen und Eingeständnissen des Nichtwissens nach, bis er über den »zweiten Hauptsatz der Thermodynamik« auf die Unumkehrbarkeit von Prozessen stößt und bei Stephen Hawking auf die Prägung unseres Zeitbewusstseins durch Entropie (Zunahme an Unordnung) und kosmologische Vorgänge (Ausdehnung des Universums). Gestützt auf Hartmut Rosas soziologische Zeittheorie sieht Dubben den Homo sapiens als Opfer der von ihm selbst ausgelösten Beschleunigungsprozesse. Sein Resümee: »Zeit wird nicht schneller und auch nicht weniger. Sie wird lediglich mit immer mehr Aktionen befrachtet.«

    Dem vorangegangenen Versuch einer naturwissenschaftlichen Zeitbestimmung stellt Josef Berghold eine historisch-sozialwissen-schaftliche an die Seite. Er geht der Beschleunigung des Verkehrs und der Lebensverhältnisse aufgrund technischer Entwicklungsschübe nach, unter anderem auch der faschismusnahen Bewegung des Futurismus. Beide werden schon sehr früh von kritischen Stimmen begleitet. Geradezu »gespenstisch« mutet den Autor an, wie wenig Beachtung der leicht erkennbare Zusammenhang findet, dass technische Beschleunigung nicht zu mehr Hektik, sondern im Gegenteil zu mehr Muße im Alltagsleben führen müsste. Mit Hartmut Rosa verfolgt er die miteinander verflochtenen Dimensionen gesellschaftlicher Beschleunigung – Technologie, sozialer Wandel und Lebenstempo – in Geschichte und Gegenwart, einschließlich ihrer negativen Auswirkungen und Dysfunktionalitäten für Individuum und Gesellschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem durch den kapitalistischen Konkurrenzdruck den Menschen aufgezwungenen Zeittakt und den damit einhergehenden funktionalen Differenzierungsprozessen wie Arbeitsteilung und Spezialisierung. Sie werden über die Sozialisierung verinnerlicht und finden schließlich in maximaler Flexibilität als Forderung und individuelles Wunschbild ihren Ausdruck. Hinter der damit einhergehenden Beschleunigung des Lebenstempos exploriert Berghold Motive einer Flucht vor unserer Sterblichkeit und setzt ihr – wiederum mit Hartmut Rosa – Kategorien der Entschleunigung und Möglichkeiten ihrer Umsetzung entgegen.

    Mit seinem Beitrag über den »Tempowahn« illustriert Winfried Wolf einen Aspekt des Beschleunigungsdiskurses, der als Bewusstseinsphänomen (alles ist technisch machbar; alles muss schneller gehen; es gibt ein Recht auf Schnelligkeit) weit über den Straßenverkehr hinausreicht. Er nimmt die Proteste gegen die Internationale Automobilausstellung 2019 zum Anlass, die sogenannten »Transportrevolutionen« in der Geschichte des Verkehrs mit ihren Opfern an materiellen Ressourcen, Landschaft/Natur, Gesundheit und Menschenleben in Erinnerung zu rufen, und verweist auf die Ignoranz und den Zynismus, womit die Automobilindustrie und gelegentlich auch die Politik die Folgen der motorisierten Beschleunigung bestreiten. Hinter der auf Höchstgeschwindigkeiten zielenden Aufrüstung von Pkw erkennt er eine Verführung zur Aggressivität im Verkehr – besonders bei Männern. Sie sind verantwortlich für die meisten durch aggressives Fahren verursachten Unfälle. Bei Autorennen wird eine weitere Dimension des Temporauschs sichtbar: Risiko und Tod werden ideologisch-religiös überhöht. Nicht zufällig identifizieren sich autoritäre politische Systeme gern mit einer Aura von Todesbereitschaft.

    Die Reproduzierbarkeit von Ergebnissen gilt nach Hans-Hermann Dubben als oberstes Qualitätskriterium für die Forschung. Um dieses Ziel zu erreichen, stehen ihr mehrere Möglichkeiten zur Verfügung (etwa Wiederholung von Studien oder Signifikanztests), deren Vor- und Nachteile der Autor diskutiert. Zu den methodenimmanenten Problemen treten mögliche Verwerfungen in der Publikation (»Publication bias«). Unter Zeitdruck (»Hamsterrad«) mehren sich die Fehler auf beiden Ebenen. Zu den Fehlentwicklungen gehört auch die Produktion von »Forschungsmüll«. Davon ist die Medizin in großem Umfang betroffen, was ethische wie ökonomische Fragen aufwirft – vom offensichtlichen Betrug ganz zu schweigen. In seinem »Plädoyer für eine bedächtige Forschung« empfiehlt Dubben, schon bei der Planung von Untersuchungen deren mögliche Fehleranfälligkeit mit zu bedenken. Dazu verweist er auf den Wert von systematischen Reviews und Metaanalysen von Primärstudien, die über längere Zeiträume hinweg durchgeführt wurden.

    Ausgehend von der sofortigen Verfügbarkeit einer schier grenzenlosen Fülle von Informationen als allgemeines Kennzeichen der »neuen Medien« schlägt Thomas Zimmermann einen Bogen zur Datenerhebung und Praxisverwaltung in der Medizin und weiter zur weltweiten Vernetzung von Daten und Personen in der (medizinischen) Wissenschaft. Die Datenmenge erfordert ein Wissensmanagement zur Digitalisierung von Beständen und zur zielgerichteten Systematisierung/Synthetisierung von Informationen durch Algorithmen. Die Entwicklung in den empirischen Disziplinen und mit ihnen in der Medizin ist charakterisiert durch ein hohes Tempo der Wissensproduktion, deren Ergebnisse kaum mehr überschaubar, geschweige denn überprüfbar sind (Problem von Fälschungen, Selektion, Verschweigen von Ergebnissen). Eine Gefahr sieht der Autor auch in der – vielfach durch die Politik forcierten – Ökonomisierung der Forschung, weil die Hoffnung auf rasche Verwertbarkeit der Ergebnisse einen Publikationsdruck erzeugt, der keine seriöse Sicherung der Daten mehr zulässt.

    Mit der Forderung nach Forschungsergebnissen in der Medizin, die »mit großer Wahrscheinlichkeit wahr sein« sollen, eröffnet Hans-Hermann Dubben die Diskussion von Problemen, die eine beschleunigte medizinische Forschung mit sich bringt. Er sieht sie einerseits beim Publikationsdruck, bei fragwürdigen Peer-Reviews, bei der Bewertung von Publikationsorganen (Impact-Faktor), bei der Überproduktion von Wissenschaft und bei der Tendenz, Publikationszahlen und die Verwendung des Impact-Faktors als Maßstäbe für Wissenschaftlichkeit heranzuziehen. Andererseits bestehen für ihn systemimmanente Schwierigkeiten: Zu ihnen zählt er das Complience-Problem bei randomisierten Studien, die Interpretationsproblematik bei Kohortenstudien, die Aussagekraft von Fall-Kohorten- und Diagnostikstudien und die Verallgemeinerbarkeit von ökologischen Studien. Mit »Surrogatendpunkten« lasse sich zwar schneller forschen und publizieren, entsprechende Untersuchungen führten aber unter Umständen zur falschen Einschätzung der Wirksamkeit. Hinsichtlich des ökonomischen Drucks auf die Medizin vertritt er den Standpunkt, dass in einer humanen Medizin Wirtschaftlichkeit nicht den »schwarzen Zahlen« zu gelten habe, sondern der optimalen Nutzung der Ressourcen.

    Martin Scherer stellt einleitend fest, dass auch die ärztliche Versorgung einerseits von den gesellschaftlichen Beschleunigungsprozessen, ausgelöst zum Beispiel durch Digitalisierung und Ökonomisierung, erfasst wird, andererseits die Medizin durch die Fortschritte in medizinischer/pharmazeutischer Wissenschaft und Technologie den Zeitdruck selbst mit erzeugt, dem sie sich ausgesetzt sieht. Wie er mit Blick auf zahlreiche Studien feststellt, ist davon in hohem Maße die Arzt-Patienten-Beziehung (Konsultationsdauer, Qualität von Diagnose, Beratung und Therapie) betroffen. Zu den »hausgemachten« Beschleunigungsfaktoren im Gesundheitssystem zählt er das Honorierungssystem und die Fehlverteilung von Ärzten (Stadt-Land-Gefälle). Das Problem verschärft sich noch durch den demografischen Wandel (Multimorbidität). Scherer plädiert dafür, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass die Ärzte auch ohne ökonomische Einbußen mehr Zeit für ihre Patienten haben.

    Endometriosepatientinnen sind, wie Antje Buitkamp untersucht hat, vom Zeitdruck in der ärztlichen Versorgung in besonderer Weise betroffen. Einerseits leiden sie schon aufgrund der Eigenart ihrer Erkrankung häufig unter chronischen Schmerzen, Ängsten, Depressionen und dem Gefühl, sozial ausgeschlossen zu sein, andererseits erfahren sie von medizinischer Seite aus nicht die Zuwendung und Betreuung, die sie als hilfreich empfinden. In Interviews mit einer Patientin, zwei Gynäkologinnen und einer Psychologin erfährt die Autorin, wie sehr der Zeittakt in der Klinik sorgfältige Beratung, vollständige Therapien sowie empathische Begleitung und Lebensplanung verhindert und damit Kränkungen auslöst, während Ärztinnen, die ihm zu widerstehen versuchen, ihre psychische Gesundheit gefährden. Günstigere Voraussetzungen für »Zeitoasen« bieten gelegentlich Rehabilitationseinrichtungen. Wenn Betroffene im Internet Hilfe suchen, erhöht sich die Gefahr von Fehlinformationen.

    Vor dem Hintergrund zweier sozialwissenschaftlicher schulischer Oberstufenprojekte – Interviews mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern über ihre unterschiedlichen Lebensbereiche und Arbeiten zur Entwicklungszusammenarbeit mit dem Schwerpunkt des Aufbaus einer Krankenstation in Tansania – stellt Christa Maria Bauermeister westliche (deutsche) und afrikanische (tansanische) Lebensweisen einander gegenüber. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Umgang mit Menschen, die auf medizinische und pflegerische Hilfe angewiesen sind. Aus Interviews mit Ärzten, Krankenschwestern, Pflegepersonal und Hebammen privatisierter Kliniken in Deutschland entstehen Bilder von Selbstausbeutung, Agieren in engen »Zeitkorridoren«, Isolation und Entfremdung im Beruf – mit negativen Folgen sowohl für die Kranken als auch für die persönliche Lebensführung. Dem gegenüber stehen die Eindrücke der Schülerinnen und Schüler bei Besuchen in tansanischen Health Centers, in denen die Kranken ohne rigiden Zeittakt behandelt und gepflegt werden, immer in Anwesenheit von Angehörigen. Der Kontrast arbeitet nach der Rückkehr in den jungen Menschen weiter als Frage nach der Rolle der Zeit in ihrem eigenen Leben.

    In Telefoninterviews holt Martin Scherer die Überlegungen von sieben Vertreterinnen und Vertretern des Gesundheitssystems sowie eines Arztes und Romanautors zur Frage »Zeitdruck und gesundheitliche Versorgung« ein:

    Jonas Niemann, Hausarzt und Autor des Buchs »Patient Krankenhaus – Dr. Faber hat Dienst«, wiederholt die dort beschriebenen Zustände in der Klinik. Als Hauptursachen für den Zeitdruck sieht er an: die Abrechnung nach Fallpauschalen, die ungleiche Verteilung von Ärzten, den Personalmangel im Pflegebereich, den »Dokumentationswahnsinn« und nicht zuletzt die von den Patienten ausgehenden Erwartungen nach möglichst schneller und erfolgreicher Behandlung. Der im ganzen System spürbare wirtschaftliche Druck verdränge das Patientenwohl.

    –Für Katrin Balzer wird der Zeitdruck wegen des akuten Personalmangels vor allem im Bereich der Pflege sichtbar. Er zwingt im Klinikalltag zur ständigen Neupriorisierung der Aufgaben. Betroffen von den begrenzten Ressourcen sind in erster Linie ältere Krankenhauspatienten. Reformansätze erkennt sie in der wissenschaftlichen Professionalisierung, sie sieht diese aber erst in Jahren wirksam werden. Für die nähere Zukunft erwartet sie eine vermehrte Unterstützung durch wissenschaftliche Expertisen und ein verstärktes Engagement der pflegerischen Berufsgruppe in eigener Sache.

    –Die Gefahr einer gehäuften Fehleranfälligkeit sieht Erika Baum als die gravierendste Folge des Beschleunigungsdrucks an. Unter Bezugnahme auf die eigene Praxis kritisiert sie die zunehmende Anonymisierung im Gesundheitswesen und die daraus entstehenden Kontrollmechanismen und Dokumentationszwänge. Ein Problem besteht für sie auch in der wachsenden Ungeduld auf Patientenseite. Für eine willkommene Systemänderung hielte sie die Einschreibung in die hausärztliche Versorgung anstatt der Fallpauschalen. Wie sie für sich selbst stets versucht, dem Druck von außen standzuhalten, erhofft sie sich auf Patientenseite ein verstärktes Verantwortungsgefühl für die eigene Gesundheit.

    Stephan Hofmeister merkt kritisch an, dass die Fülle an jederzeit verfügbaren, ungefilterten Informationen auch über Gesundheit Patienten dazu führt, Ärzte damit zu konfrontieren und eine »Alles-und-sofort«-Erwartung zu entwickeln. Er registriert zudem – auch als Folge einer defizitären Gesundheitserziehung – einen Verlust an theoretischer und praktischer Gesundheitskompetenz, die dazu führe, dass die ganze Verantwortung für das eigene gesundheitliche Befinden an die Ärzte delegiert werde. Auf beiden Seiten sei die Geduld verlorengegangen. Was mögliche Systemänderungen angeht, spricht sich Hofmeister für eine Verstärkung der hausärztlichen Versorgung und bei der Honorierung für eine Balance von Pauschal- und Einzelleistung aus. Den Gesetzgeber fordert er auf, Anreize zu schaffen, die der Qualität und nicht der Quantität der ärztlichen Leistungen zugutekämen.

    –Auf manchen Feldern des Gesundheitswesens registriert Ferdinand M. Gerlach einen »hyperdynamischen Stillstand«: viel Bewegung, ohne dass sich wirklich etwas verändert (Metapher »Hamsterrad«). Seine Kritik gilt insbesondere Fehlsteuerungen durch falsche Anreizsysteme. So gebe es in der Klinik wie in den Hausarzt- und Facharztpraxen die Tendenz, in die Menge zu gehen, weil das System kontakt- und morbiditätsorientiert sei. Gesunderhaltung, Abwarten, Begleiten, Trösten … blieben auf der Strecke, Prävention sei quasi geschäftsschädigend. Zur Verlangsamung der »Hamsterräder« schlägt Gerlach die Schaffung von lokalen Versorgungszentren vor. Seine Empfehlungen zur persönlichen Entschleunigung: innere Übereinstimmung mit dem, was man tut, und gutes Selbstmanagement.

    –Nach Frank Ulrich Montgomery wird sich der Zeitdruck auf die ärztliche Versorgung infolge von Personalmangel, Zwang zu Spezialisierungen und wegen der allumfassenden Digitalisierung in der Zukunft noch verstärken. Neben positiven Entwicklungen (etwa vergleichsweise kürzere Verweildauer im Krankenhaus; Ablösung chirurgischer Verfahren durch medikamentöse oder radiologisch-interventionelle Verfahren) beobachtet er negative Folgen wie die Fokussierung der Ärzte auf den Patienten in der Praxis ohne Blick auf seine Lebensverhältnisse oder chronische Erschöpfungszustände beim medizinischen Personal (» Sisyphos-Phänomen«). Zur Entspannung der Situation hält er für unabdingbar: Vermehrung hoch qualifizierten Personals, Reduzierung von Bürokratie, Widerstand gegen die Weitergabe des ökonomischen Drucks von der Administration auf die medizinische Versorgung und die Priorisierung der kurativen Medizin gegenüber politischen Strukturdiskussionen.

    Heyo K. Kroemer sieht die Politik in ein Aktions-Reaktions-Spiel mit den sozialen Medien eingespannt, dem auch die Medizin nicht entkommt. Er stellt zudem eine Akzeleration aller Arbeitsvorgänge fest, für die er mehrere Ursachen ausmacht. Unter ihnen steht das Honorierungssystem (Fallpauschalen) an erster Stelle. Der Zwang für die Universitätskliniken, längerfristige Planungen mit Fallzahlen und Schweregraden vorzulegen, widerspricht seiner Vorstellung von einem Krankenhaus. Das Zeitproblem wird sich seiner Ansicht nach mit dem demografischen Wandel noch verschärfen, weil der steigenden Zahl von Leistungsempfängern eine schrumpfende Zahl von Leistungserbringern gegenübersteht, die dazu mit dem rasanten Fortschritt der medizinischen Wissenschaft zurechtkommen müssen. Die Digitalisierung könne vom bürokratischen Ballast befreien, so dass Ärzte und Pfleger in die Lage kämen, sich wieder verstärkt dem Patienten zuzuwenden.

    Urban Wiesing unterteilt zunächst allgemein in von Beschleunigung erfasste und beschleunigungsrestistente Bereiche. Bezogen auf die Medizin erkennt er ein zunehmendes Tempo eher in der Wissensproduktion als in der Entwicklung von Therapien. Daneben gebe es auch »Eigengesetzlichkeiten«, die sich dem Zeitdruck widersetzten (Schwangerschaft, Arzt-Patient-Beziehung). Beschleunigende Faktoren sind für ihn neben der Wissenschaft die Wirtschaft und die Lebenswelt der Patienten mit ihren eigenen Geschwindigkeitsimpulsen. Als eine Besonderheit der heutigen Medizin sieht er »Narrative über die Zukunft« an, Phantasien also über die Möglichkeit, wesentliche Probleme der Menschheit binnen Kurzem wissenschaftlich-technisch zu lösen. Vor dem Hintergrund des Hippokratischen Eides resümiert er: »Wir sollten die Medizin soweit beschleunigen oder soweit entschleunigen, damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann«.

    »… als das sich intensivierende Bemühen, immer mehr Verhaltensoptionen in immer kürzere Zeitintervalle hineinzupressen« sieht Till Bastian im abschließenden Beitrag den Kern von »Mobilität« an. Sie gehe mit Ungeduld, Hektik, Eile und mit der Angst einher, das Beste zu verpassen. Unter den Beschleunigungsfaktoren, die dem Gesundheitswesen selbst zuzuschreiben sind, steht für ihn an erster Stelle das Fallpauschalensystem, begleitet von der Digitalisierung und einer unangemessenen Ökonomisierung. Weil er der Politik nicht zutraut, entschleunigende Bedingungen zu schaffen, setzt er seine Erwartungen auf die Fähigkeit der einzelnen Ärzte zur Selbstregulation: sich in Geduld zu üben, schöpferische Pausen einzulegen, Außenreize zu reduzieren, Prioritäten zu überdenken und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen zu suchen.

    Im 71. der »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm mit dem Titel »Sechse kommen durch die ganze Welt« (1819/1994, S. 132 ff.) fühlt sich ein Kriegsheimkehrer durch seinen König miserabel entlohnt. Voller Zorn beschließt er, sich von ihm zu holen, was ihm vorenthalten worden ist: »Wart«, sprach er, »das lass ich mir nicht gefallen. Find ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die ganzen Schätze des Landes hergeben.« Zu den »rechten Leuten«, die er findet, gehört einer, »der stand auf einem Bein und hatte das andere abgeschnallt und neben sich gelegt. Da sprach der Soldat: ›Du hast dirs ja bequem gemacht zum Ausruhen!‹ ›Ich bin ein Laufer‹, antwortete er, ›und damit ich nicht gar zu schnell springe, habe ich mir das eine Bein abgeschnallt; wenn ich mit zwei Beinen laufe, so geht’s geschwinder, als ein Vogel fliegt.‹« Das gefällt dem Veteran, und er engagiert ihn auf der Stelle.

    Für die Figur des »Laufer« bieten sich zwei Deutungen an. Die individualisierende zielt auf die persönliche Regelung des Lebenstempos und der von außen kommenden Beschleunigungszumutungen. Wem alles zu schnell geht, der kann »abschnallen«, verweilen, wieder zur Ruhe kommen, nachdenken, wie es weitergehen soll, sich überlegen, ob und auf welche Weise er das atemberaubende Gesellschaftsspiel in und außerhalb seiner Profession mitspielen will – und dann, wenn es darauf ankommt, rasch entscheiden und handeln. Er ist der Herr seiner Zeit. Die zweite Deutung ist eine politische, und so war sie zur Zeit der Brüder Grimm auch gemeint. Der »Laufer« lässt sich von einem, der glaubt, nicht zu seinem Recht gekommen zu sein, einladen, zusammen mit anderen, die gleichfalls über besondere Eigenschaften verfügen, den Herrscher zu entmachten und sich zu holen, was der sich angeeignet hat.

    Die erste Deutung schließt unmittelbar an Till Bastians Anregung zur »Selbstregulierung« an. Die zweite will nicht als Alternative, sondern als notwendige Ergänzung verstanden werden. Die Auseinandersetzung mit der Ökonomisierung als stärkster Antriebskraft hinter den Beschleunigungsprozessen in der Medizin kann nicht privat bestanden werden. Ob es ausreicht, die Verantwortung dafür an Funktionäre zu delegieren oder ob die Betroffenen nicht selbst politischer werden müssten, kann nur von ihnen selbst beantwortet werden.

    Wir danken allen Autorinnen und Autoren, Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern für ihre Mitwirkung an diesem Band.

    Martin Scherer, Josef Berghold, Helmwart Hierdeis

    Literatur

    Grimm, W., Grimm, J. (1819/1994). Sechse kommen durch die ganze Welt. In Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand, Bd. 3 (S. 132–135). Stuttgart: Reclam.

    Høeg, P. (2019). Durch deine Augen. München: Hanser.

    Kissling, B., Ryser, P. (2019). Die ärztliche Konsultation – systemisch-lösungsorientiert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt: Suhrkamp.

    1

    Naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Grundlagen

    Hans-Hermann Dubben

    Anmerkungen zum Begriff »Zeit«

    Etwas Zeit für die Zeit

    Sie kann stehen bleiben. Man kann sie vertreiben. Sie ist Geld. Man kann sie verschwenden. Man kann sie sparen – bei der Zeitsparkasse (Ende, 1973). Man kann sie jemandem stehlen. Man kann sie sich nehmen. Aber woher? Sie zerrinnt zwischen den Fingern, rasen kann sie auch und vergehen wie im Flug. Sie nagt mit ihrem einzigen Zahn an wirklich allem. Man kann sie totschlagen. Sogar mehrmals!

    Zeit ist offenbar sehr vielseitig – oder ungenau definiert. Vielleicht bringt dieser Beitrag etwas Ordnung in die Sache. Allerdings wird hier nahegelegt, dass niemand so richtig weiß, was Zeit ist; dass die Zeit nicht beschleunigt ist; dass sie vielleicht nicht existiert, aber vielleicht eine Richtung hat.

    Erfindung der Zeit

    Veränderungen in der Umgebung, das eigene Altern und das der anderen lassen vermuten, dass »etwas« abläuft. Dieses Etwas hat den Namen »Zeit« erhalten und wird mit Uhren gemessen. Die Uhr ist eine Erfindung des Menschen. Sie ist nicht identisch mit der Zeit. Ebenso wenig ist ein Zollstock identisch mit dem Begriff Raum. Eine Uhr ist nur ein Messinstrument, ganz gleich, ob Sonnenuhr oder Atomuhr. Unser Leben ist durchdrungen von Zeitangaben. Trotzdem ist unklar, was die Zeit an sich ist; ob es sie wirklich gibt oder ob sie nur eine Einbildung oder Erfindung des Menschen ist¹; ob sie gleichmäßig fließt oder mal schneller und mal langsamer »vergeht«; ob sie gar Chronon für Chronon, dem hypothetischen Elementarteilchen der Zeit, springt und ruckt wie mancher Uhrzeiger und die Körner in der Sanduhr.

    Messung der Zeit

    Kaum ein Lebewesen auf dem Planeten Erde entgeht dem Rhythmus von Tag und Nacht und dem Rhythmus der Jahreszeiten. Als Jäger und Sammler und erst recht mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor ca. 10.000 Jahren hat der Mensch seine Tätigkeiten an diesen Rhythmen ausgerichtet. Seinen Taktgeber trug er nicht am Handgelenk, sondern er war von ihm umgeben. Der Tag wird durch Sonnenaufgang und Sonnenuntergang getaktet. Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind ein periodischer Prozess mit je nach Breitengrad mehr oder weniger deutlichen Unterschieden in der Tageslänge und im jahreszeitlichen Wetter. Für das Überleben ist es von Vorteil zu wissen, wie viele Tage die einzelnen Perioden dauern und an welchem Tag oder welcher Stunde in diesem Zyklus man sich gerade befindet. Landwirtschaftliche Arbeiten wie Aussaat und Ernte sowie Vorratswirtschaft werden dadurch planbar; anfallende Arbeiten koordinierbar. Die Jahreszeiten bestimmen, wann Arbeiten fertig sein müssen, damit ausreichend Nahrung und Brennmaterial eingelagert ist, um gut über den Winter zu kommen. Innerhalb eines Jahres muss ein bestimmtes Arbeitskontingent erledigt werden.

    Die Taktgeber für das Arbeitstempo sind die Umdrehung der Erde um sich selbst und der Umlauf der Erde um die Sonne. Die Jahreszeiten beruhen darauf, dass die Drehachse der Erde gegen die Umlaufachse um 23,5 Grad geneigt ist. Dadurch bekommt einmal die Nordhalbkugel und einmal die Südhalbkugel mehr Sonnenlicht ab. Das ist schon fast das gesamte Uhrwerk. Ein weiterer Taktgeber ist der Mond. Er sorgt für unterschiedlich helle Nächte und für die Gezeiten. Für einen einfachen Kalender mit Uhr (aber ohne Gezeitenangaben) reicht es, einen Stock fest in die Erde zu rammen. Haltbarer ist natürlich ein steinerner Obelisk, der in stattlicher Ausführung auch gut zum Repräsentieren geeignet ist.

    Die Dauer der Erd- und Sonnenumläufe kann der Mensch nicht beeinflussen. Ein Umlauf um die Sonne dauert ungefähr so lange wie 365,25 Umdrehungen der Erde um sich selbst. Zwischen den Polarkreisen kann die Zeitdauer von einem Sonnenaufgang zum nächsten, also die Dauer eines Tages bzw. einer Erdumdrehung, mit Hilfe von Uhren aufgeteilt werden. Uhren beruhen ihrerseits auf periodischen Vorgängen. Durch Abzählen dieser Vorgänge – im Grunde zählt man das Ticken der Uhr – wird Zeitdauer gemessen. Ein periodischer Prozess ist beispielsweise die Schwingung eines Pendels. Ein so genanntes mathematisches Pendel von etwa 100 cm Länge (genauer: 99,4 cm auf dem 45. Breitengrad) benötigt für eine Halbschwingung – Uhrmacher nennen das einen »Schlag« – eine Sekunde. Die Sekunde war einmal definiert als der 86.400ste Teil der Zeitdauer einer Erdumdrehung, entsprechend 24 Stunden à 60 Minuten à 60 Sekunden.

    Nach und nach wurden für technische und wissenschaftliche Zwecke immer genauere Zeitmessungen erforderlich und durch technische Neuerungen auch möglich. Mit den Schwingungen eines Quarzes oder der Strahlung bestimmter Elektronenübergänge in Atomuhren sind sehr viel genauere Messungen möglich als mit einer Pendeluhr. Atomuhren vertun sich in mehreren Millionen Jahren um weniger als eine Sekunde. Diese Genauigkeit ist für Navigationssatelliten erforderlich. Für Pünktlichkeit im Alltag ist sie wohl mehr als ausreichend. Die hohe Genauigkeit der Zeitmessung hatte zur Folge, dass die Sekunde neu definiert wurde. Derzeit gilt: »Die Sekunde ist das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133 Cs entsprechenden Strahlung.« Diese Definition bezieht sich auf ein Cäsiumatom im Ruhezustand bei einer Temperatur von 0 ° Kelvin (Physikalisch-Technische Bundesanstalt, 2007). Der Taktgeber ist nicht mehr mit menschlichen Sinnen wahrnehmbar, und die Maßeinheit der Zeit ist von der »astronomischen Uhr«, bestehend aus Erde und Sonne, vollständig abgekoppelt.

    Da Zeitmessungen extrem genau möglich sind, ist auch das Meter, die Maßeinheit für räumliche Dimensionen, inzwischen über eine Zeitdauer definiert: »Das Meter ist die Länge der Strecke, die Licht im Vakuum während der Dauer einer 1/299.792.458 Sekunde durchläuft« (Physikalisch-Technische Bundesanstalt, 2007). 299.792.458 Meter pro Sekunde ist die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Mit einer Zeitdauer eine Länge zu definieren, erscheint auf den ersten Blick etwas abgehoben, ist aber ganz alltäglich: »Vom Hotel zum Strand sind es fünf Minuten.«

    Trotz der hohen Genauigkeit bei der Messung von Zeit – oder treffender: dem Abzählen periodisch wiederkehrender Ereignisse – bleibt die Frage bestehen: »Was ist eigentlich Zeit?«

    Was ist Zeit?

    Der folgende Abschnitt mit zahlreichen Zitaten berühmter Persönlichkeiten zeigt eine Auswahl von Gedanken zum Wesen der Zeit. Der Zeitbegriff ist nicht abschließend verstanden, jedenfalls nicht vom Autor dieses Textes. Eine endgültige Antwort auf die Frage, was Zeit an sich eigentlich ist, werden Sie hier daher nicht finden – aber woanders wohl auch nicht.

    Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass die Zeit mindestens aus Vergangenheit und Zukunft besteht. Das klingt einfach, birgt aber einen Widerspruch, den bereits Aristoteles (384–322 v. Chr.) beschrieb.

    »Ihr einer Teil ist vergangen und jetzt nicht mehr, der andere soll erst kommen und ist noch nicht. Aus diesen beiden aber besteht die unendliche Zeit […] Was aber Teile hat, die nicht da sind, das kann, so scheint es, unmöglich am Dasein Anteil haben« (zitiert nach Aichel burg, 2006, S. 102).

    Das nährt Zweifel daran, dass Zeit überhaupt existiert. Dass wir Zeit messen können – oder es zumindest glauben –, beseitigt den Zweifel nicht. Veränderungen (Bewegung) haben den Menschen auf die Idee gebracht, dass es etwas wie die »Zeit« geben müsse. Mit Hilfe der Veränderungen – der Bewegung von Pendeln und Uhrzeigern – wird wiederum die Zeit gemessen. Aristoteles wies darauf hin, dass dies ein Zirkelschluss ist: »Wir messen aber nicht nur Bewegung durch die Zeit, sondern auch Zeit durch die Bewegung« (zitiert nach Aichelburg, 2006, S. 103).

    Meist wird der »Lauf der Zeit« in drei Bereiche aufgeteilt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aber auch durch das Hinzufügen des schmalen Grats der Gegenwart wird der von Aristoteles beschriebene Widerspruch laut Augustinus von Hippo (354–430) nicht ausgeräumt: »[…] jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist?« (Augustinus, 397–401/1888, Buch XI, Kap. 14). Und: »Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die

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