Ethik im Gesundheitssystem: Steuerungsmechanismus für die Medizin der Zukunft
Von Klaus Dörner, Hans Gutzmann, Ellen Neubauer und
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Buchvorschau
Ethik im Gesundheitssystem - Silvia Hedenigg
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
Herausgeber
Prof. Dr.phil. Dr. rer. medic. Silvia Hedenigg
Theologische Hochschule Friedensau
Studiengangsleiterin Sozial- und Gesundheitsmanagement (M.A.)
An der Ihle 5a
39291 Friedensau
Tel.: 03921 / 916-144
E-Mail: silvia.hedenigg@thh-friedensau.de
Prof. (em.) Dr. med. Dr. h.c. Günter Henze
Pädiatrische Onkologie und Hämatologie
Charité CVK, Universitätsmedizin Berlin
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
E-Mail: Guenter.Henze@charite.de oder ghr.henze@web.de
Autoren
Prof. Dr. med. Christoph Bührer
Klinik für Neonatologie
Charité Universitätsmedizin Berlin
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Tel.: 030 / 45 05-66 122
E-Mail: christoph.buehrer@charite.de
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner
Nissenstraße 3
20251 Hamburg
Tel.: 040 / 46 77 40 42
Prof. Dr. med. Hans Gutzmann
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Krankenhaus Hedwigshöhe
Höhensteig 1
12526 Berlin
Tel.: 030 / 67 41-30 01
E-Mail: h.gutzmann@alexius.de
Dr. med. Ellen Neubauer
Klinik für Gynäkologie, gynäkol. Onkologie und Endokrinologie
Universitätsklinikum Marburg Gießen
Baldingerstrasse 1
35033 Marburg
Tel.: 06421 / 58-64 450
E-Mail: manne@staff.uni-marburg.de
Prof. Dr. Rainer Patjens
Lehrgebiet Recht der Sozialen Arbeit
Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart
Fakultät Sozialwesen
Herdweg 29
70174 Stuttgart
Tel.: 0711 / 18 49-621
E-Mail: patjens@dhbw-stuttgart.de
Bernd Quoß
Geschäftsführer
Krankenhaus Waldfriede e.V.
Argentinische Allee 40
14163 Berlin
Tel.: 030 / 81 810-02 13
E-Mail: B.Quoss@waldfriede.de
Prof. Dr. phil. Margarete Reinhart
Diplom-Pädagogin GuK
Theologische Hochschule Friedensau
Studiengang Gesundheits- und Pflegewissenschaft
An der Ihle 19
39291 Möckern-Friedensau
Tel.: 03921 / 916-0
E-Mail: margarete.reinhart@thh-friedensau.de
Dr. med. Bernhard Röhrich
St. Joseph Krankenhaus
Wüsthoffstr. 15
12101 Berlin
Tel.: 030 / 78 82-28 30
E-Mail: consultation@sjk.de
Katja Schreyer
Diplom-Sozialarbeiterin
Klinische Sozialarbeit
Zum Steinhof 9
472459 Duisburg
Tel.: 0203 / 31 71 744
E-Mail: schreyerberatung@googlemail.com
www.katjaschreyer.de
Christoph von Mohl
Rechtsanwalt
Kanzlei für generationenübergreifende Lebensvorsorge
Wallgässchen 2/2a
01097 Dresden
Tel.: 0172 / 99 94 433.
E-Mail: christoph.mohl@googlemail.com
Dr. med. Edgar Voltmer
Theologische Hochschule Friedensau
Gesundheitswissenschaften und Sozialmanagement
An der Ihle 19
39291 Möckern-Friedensau
Tel.: 03921 / 916-203
E-Mail: edgar.voltmer@thh-friedensau.de
Vorwort
Dieser Band hat eine Geschichte. Seit mehreren Jahren beobachten wir die Entwicklung im Gesundheitssystem mit Besorgnis, steigendem Unmut – und zunehmendem Gefühl der Ohnmacht. Mit diesem Eindruck sind wir nicht allein, wie wir in vielfältigen beruflichen und privaten Gesprächen festgestellt haben. Im Jahre 2009 wollten wir unseren Wahrnehmungen konzentrierter, systematischer und mit mehr Ruhe nachgehen. Unter dem Titel »In Sorge um das Gesundheitssystem« haben wir in einer interdisziplinären Fachtagung in Kooperation mit dem Krankenhaus Waldfriede an der Theologischen Hochschule Friedensau Aspekte der Ökonomisierung, der zunehmenden Technologisierung der Medizin und denkbarer Implikationen im gesellschaftlichen Wandel der soziodemographischen Veränderungen diskutiert. Neben einer für alle Beteiligten überraschend dichten, persönlichen und unprätentiösen Atmosphäre eines anregenden, fachübergreifenden Austauschs kamen wir bei nahezu allen Vorträgen an den Punkt, zu sagen: »Das ist eigentlich eine ethische Fragstellung«, »das müsste man noch einmal unter ethischen Gesichtspunkten diskutieren«, und es kristallisierte sich bei den Referenten und Teilnehmern der Wunsch heraus, eine Ethiktagung zu veranstalten. Zusammen mit denselben Referenten der ersten Runde – bis auf eine – konnten wir dann auch in der gleichen Besetzung das Thema Ethik in der Medizin vertiefen. Bereichert wurde die Tagung insbesondere durch Klaus Dörner als neuen Referenten dieser 2. Friedensauer Fachtagung am Masterstudiengang »Sozial- und Gesundheitsmanagement«.
»Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin?« – der Titel war provokant, und das sollte er auch sein. Er spiegelt unser Empfinden einem Gesundheitssystem gegenüber wider, das fast ausschließlich von einem Mechanismus »gesteuert« erscheint, den wir als systemfremd betrachten, nämlich dem der Finanzierbarkeit. Was auch immer das Regulativ der Finanzierbarkeit steuert, Ethik in der Medizin wird damit zumindest in wesentlichen Teilaspekten konterkariert. Exemplarisch seien nachfolgend einige der Auswirkungen dieser Entwicklung dargestellt:
Eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine patientenorientierte Medizin, die es erlaubt, sich um den Patienten angemessen zu kümmern und ihm zuzuwenden, ist das ausreichende Vorhandensein von Zeit. Der gegenwärtige Trend ist aber gerade die Verdichtung von Arbeit durch Personalkürzungen – eine Maßnahme, die stets mit Mangel an Ressourcen begründet wird. Gleichzeitig erfolgt zunehmend eine Belastung des Personals mit Aufgaben, für die es weder gedacht noch ausgebildet ist: Die Zunahme von Bürokratie, ganz besonders der Dokumentation, hat sowohl für das Pflegepersonal als auch für Ärzte¹ausufernde Dimensionen angenommen.
Gegenwärtig könnte man den Eindruck gewinnen, dass der Mangel an Zeit durch Aktionismus kompensiert werden soll. Dieser drückt sich neben einer zunehmenden juristischen Absicherung anhand einer Flut von Einwilligungserklärungen und überbordende Dokumentation aus oder aber darin, in großer Zahl z. T. unnötige apparative oder Laboruntersuchungen zu veranlassen. Vertrauensbildend ist dieses Vorgehen nicht, insbesondere dann, wenn der Patient das Empfinden hat, dass solche Maßnahmen unter Zeitdruck und -not erfolgen.
Von Aktionismus geprägt sind zunehmend aber auch Verhaltensweisen bei Patienten, die sich in besonders kritischen Situationen befinden. Häufig werden in nach menschlichem Ermessen aussichtslosen Situationen noch aufwendige und teure Verfahren angewendet, die erwartungsgemäß den Tod des Patienten nicht verhindern, sein Leiden aber möglicherweise verlängern. Patientenverfügungen sollen hier Klarheit schaffen. Aber sind sie tatsächlich immer wirksam und führen zum beabsichtigten Ergebnis?
Aktuell findet eine Diskussion über die auffällige Zunahme von – insbesondere teuren operativen – Maßnahmen statt, deren erwirtschaftete Einnahmen entsprechend dem Entgeltsystem (DRG) der Finanzierung und Existenz der Krankenhäuser dienen. Sofern sogenannte Zielvereinbarungen mit den behandelnden Ärzten abgeschlossen worden sind, kommen sie auch diesen zugute. Beispiele dafür sind Hüft- und Kniegelenkendoprothesen, Herzkatheteruntersuchungen, Organ- und Stammzelltransplantationen. Diese können für Patienten sogar potenziell gefährlich und nachteilig sein.
Die Liste ließe sich verlängern.
Das Entgeltsystem wurde eingeführt mit dem Ziel, die Kosten im Gesundheitssystem zu begrenzen. Genau dieser Effekt ist aber bisher nicht eingetreten. Was als »Ökonomisierung« im Gesundheitswesen begründet wurde, stellt vielmehr eine Kommerzialisierung dar.
Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin dabei (noch)? Soll Ethik innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems gewissermaßen als Trostpflaster die ausufernden Folgen der Ökonomisierung/Kommerzialisierung kompensieren? Oder wollen wir uns erlauben, das Gesundheitssystem anders zu denken? Mit »Ethik« als Steuerungsmechanismus? Wenn ja, was könnte das bedeuten? Haben wir Anhaltspunkte dafür, worauf können wir zurückgreifen, was müssten wir neu erfinden? Wem käme eine Steuerungshoheit zu? Gibt es überhaupt eine? Woran würden wir erkennen, dass Ethik eine Rolle spielt? – Dieser Band versucht darauf Antworten zu finden. Vielfältige: vertraute, überraschende, schneidend logische.
Wir wollten mit der Tagung und dem thematisch erweiterten Sammelband das Thema Ethik und ihre potenzielle Bedeutung für die Zukunft der Medizin interdisziplinär aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und dabei sowohl Fachvertreter als auch Betroffene zu Wort kommen lassen. Wir haben Vertreter der Medizin und Pflege, aber auch Juristen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler eingeladen, mit uns gemeinsam über diese Fragen nachzudenken. Unsere Vorstellung war, ein Mosaik aus vielen Teilbereichen zu entwerfen, das es uns in der Gesamtheit erlaubt, einen Eindruck zu gewinnen, ob ein »Mehr an Ethik« die Medizin der Zukunft besser gestalten ließe? Wir glauben, ja. Bestärkt werden wir diesbezüglich insbesondere durch die Erfahrungsberichte Betroffener. Ihre Offenheit, ihre Schonungslosigkeit in der Darstellung ihrer Erlebnisse, das Ausmaß an möglicher Verletzung und die Wahrnehmung tiefen Trostes selbst in schwersten Momenten sprechen dafür, dass unser Gesundheitssystem eines »Mehr an Ethik« bedarf.
Systematisiert haben wir unser Anliegen einerseits unter einem kurzen Impuls zur »Kybernethik« von Heinz von Foerster und seinem kreativen Denkpotenzial (Silvia Hedenigg) sowie der Einstiegsfrage, ob Ethik als Steuerungsprinzip zur Finanzierung des Gesundheitssystems herangezogen werden könnte (Bernd Quoß).
Im zweiten Teil wollen wir mosaikartig ein Bild zeichnen, ob und wenn ja welche Rolle Ethik in den Teilbereichen der Medizin spielt bzw. spielen könnte: in der Psychiatrie – und darüber hinausweisend (Klaus Dörner), der Pädiatrischen Onkologie (Günter Henze), der Neonatologie (Christoph Bührer), der Geriatrie und Gerontopsychiatrie (Hans Gutzmann) sowie in der Pflege (Margarete Reinhart). Unser Anliegen war es dabei, nicht nur Fachvertreter aus ihrer professionellen Perspektive zu Wort kommen, sondern insbesondere auch Erfahrungsberichte von Patienten einfließen zu lassen (Katja Schreyer, Bernhard Röhrich, Ellen Neubauer). Das Gesamtbild, das wir damit zeichnen konnten, ist ein sehr differenziertes, eines das weder beschönigend idealistisch noch resignativ desillusionierend ist. Die Argumente der Fachvertreter basieren auf aktuellen Faktenlagen, nehmen Bezug auf medizinisch-juristische Dilemmata und sind gekennzeichnet durch eine empathische Anwaltschaftlichkeit für ihre jeweiligen Patientengruppen. Die Erfahrungsberichte von Betroffenen beschreiben zum Teil anhand einer Krankengeschichte, dass abhängig von der Einrichtung und unter Umständen der darin gelebten Medizinkultur frustrierende, entmutigende Erfahrungen möglich sind, an anderer Stelle Menschlichkeit, Empathie, Zuwendung, ernsthafte Einbeziehung des Patientenwillens und aller Ressourcen des Patienten erlebbar waren.
Im dritten Teil unseres Bandes wollen wir untersuchen, ob abstrakte Prinzipien wie sie in der Ethik allgemein, der Medizinethik im Besonderen, zugrunde gelegt werden, operationalisierbar sind. Dazu wurden Beziehungsstrukturen und Kommunikationskulturen (Silvia Hedenigg), der Umgang mit Behandlungsfehlern und deren Reflexion in der Fehlerkultur des Gesundheitssystems (Edgar Voltmer) einbezogen und letztlich vor der Frage des Spannungsfeldes von Medizin, Recht und Ethik (Rainer Patjens) diskutiert, um abschließend das Prinzip der Menschenwürde in Bezug zur Patientenverfügung zu betrachten (Christoph v. Mohl). Dieser dritte Teil öffnet die Perspektiven noch einmal über die engen Grenzen der Medizin hinaus, um sozialwissenschaftliche, juristische und philosophische Aspekte einfließen zu lassen. Dass die Gesellschaft die Lösung dieser komplexen Fragen nicht an das Gesundheitssystem und schon gar nicht an die Politik allein delegieren darf, kann Rainer Patjens mit seiner sachlich-logisch juristischen Auslegung des Beziehungsgeflechts von Medizin, Ethik und Recht erörtern:
»Ethik bewegt sich […] nicht im juristischen Spannungsfeld der Medizin, sondern prägt von außerhalb das Spannungsfeld zwischen Recht und Medizin. Da weder Recht noch Medizin Selbstzweck sind, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen haben, muss die Entscheidung was zulässig, gewollt und ethisch vertretbar ist, noch immer von der Gesellschaft beantwortet werden.«
Wir hoffen, dass wir mit unserem Band einen kleinen Beitrag zu dieser Diskussion leisten können, und wünschen den Lesern und uns weiterhin vielfältige Anregungen und Denkanstöße zum Weiter- und Andersdenken über ein Gesundheitssystem der Zukunft.
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text auf die ausdrückliche Nennung der weiblichen Form verzichtet.
Teil I
Steuerungsmechanismen
1 Impulse
Silvia Hedenigg
Wenn es darum geht, darüber nachzudenken, wie viel Ethik sich die Medizin gestattet und welche Implikationen dies für das Gesundheitssystem haben könnte, zeichnet sich der Expertenkreis, der sich in diesem Band um eine Annäherung an diese Frage bemüht, durch ein hohes Maß an Gestaltungswillen und Gestaltungskraft aus: Es handelt sich um Vertreter ihrer jeweiligen Fachdisziplinen, die sich nicht abgefunden haben mit den Ist-Situationen ihrer Zeit, sondern die ihre jeweiligen Bereiche aktiv gestaltet, verändert, geprägt haben und dies noch immer tun. In diesem Sinne steht der Band unter folgendem Motto:
»Ich möchte nicht die Trends, die da sind, extrapolieren, sondern von einer Zukunft sprechen, die ich haben möchte: Das heißt, ich sage nicht, wie die Zukunft sein wird, sondern wie die Zukunft sein soll. […] Wenn ich in die Zukunft schaue, möchte ich gerne eine Zukunft haben, die so und so ist, nicht warten, bis mir ein anderer die Zukunft macht. […] Ich möchte mir zum Beispiel nicht vom Markt vorschreiben lassen, was ich tun soll, sondern ich möchte dem Markt vorschreiben, was er für mich tun soll« (von Foerster 2007, S. 326).²
Die Realität im Alltag der Medizin sowie gesundheitspolitische Lösungsstrategien legen nahe, dass das Gesundheitssystem gegenwärtig maßgeblich von zwei Motivationsgrößen bestimmt wird: den biomedizinisch-technischen Fortschrittsbemühungen und der Finanzierbarkeit von Gesundheit. Geleitet von M. Foucaults (1986, S. 15) Postulat, dass es »[…] im Leben Augenblicke [gibt], da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist«, stellt sich für die vorliegende Themenstellung die Frage: Gibt es eine Möglichkeit über Ethik in der Medizin nachzudenken, die uns anregt, anders zu denken und wahrzunehmen – um zu einer Zukunft zu gelangen, deren Akteure wir sind? Andererseits aber auch dem berechtigten Einspruch nachzugehen: bedarf es denn notwendigerweise immer eines »Weiters« – oder nicht eher der Gelassenheit?
Auf der Suche nach Anregungen zu diesem »Anders-Denken«, ist es die »Kybernethik« des österreichischen Physikers, Philosophen und Konstruktivisten Heinz von Foerster, die interessante Impulse zu beinhalten scheint. Der Leitgedanke ist dabei, das Gesundheitssystem als Regelkreis zu verstehen, dessen Funktionsweise dem kybernetischen Steuerungsprinzip folgt, sich über einen Sensor selbst zu regulieren. Man kann sich die Frage stellen, welcher »Sensor« für die Steuerung des Systems aktuell wirksam ist. Eine Hypothese könnte sein, dass der maßgebliche Sensor, der das Gesundheitssystem steuert, in der Finanzierbarkeit zu sehen ist. Die vielerorts festgestellte Unter-, Über- und Fehlversorgung sowie unzählige ableitbare Dysfunktionalitäten könnten darauf hinweisen, dass die Finanzierung als maßgeblicher Steuerungsmechanismus im Gesundheitssystem nicht (mehr) funktionsfähig ist. Folgt man dieser Annahme, wäre es unter Umständen ein möglicher innovativer Impuls, »Ethik« und die ihr zugrunde liegenden Prinzipien der Würde des Menschen und die daraus stringent abzuleitenden Argumente und Handlungsstrukturen als Regulativ in die »Kybernetik« des Gesundheitssystems zu integrieren, wie es das sprachliche Konstrukt der Kybernethik Foersters nahelegt.
Wie aber sind selbstreferenzielle Systeme, die sich selbst steuern, beeinflussbar – fehlt uns doch die Möglichkeit einer Steuerung von außen (vgl. z. B. Luhmann 1984)? Die Kybernetik hat darauf eigentlich nur eine Antwort: gar nicht. Selbstreferenzielle Systeme funktionieren zirkulär und beeinflussen sich selbst.
»Da soziale Systeme also prinzipiell nicht steuerbar sind, kann man über Bedingungen in ihrer Umwelt lediglich Impulse geben, damit das System sich selbst verändert. ›Steuerung kann nur so greifen, dass die Umweltbedingungen bzw. der Verhaltenskontext des Systems gezielt verändert wird, dadurch für die Reproduktion des Systems andere Ausgangsbedingungen hergestellt werden und somit eine Verhaltensänderung in eine bestimmte Richtung – vielleicht – erreicht werden kann‹ […]« (Reis, Schulze-Böing 1998, zit. nach Wansing 2005, S. 173).
Greifen könnte somit der Mechanismus der Kontextsteuerung personenbezogener Dienstleitungen, zu denen auch gesundheitsbezogene Leistungen zählen. Dabei gilt es, »als wichtigsten ›Kontext‹ […] bei der Steuerung der Sozialleistungen die Nutzer zu berücksichtigen«. Die Voraussetzung dafür ist jedoch die Bereitschaft zur Partizipation: »Auf jeden Fall gilt, dass in diesem Bereich der Inanspruchnahmemotivation bzw. der Mitwirkungsbereitschaft der Klientel entscheidende Bedeutung für den Erfolg der Maßnahmen zukommt« (Kaufmann 1982, zit. nach Wansing 2005, S. 173).
Folgt man dieser These, so wäre auszuloten, wie stark der Kontext der Nutzer, die Partizipation der Patienten gestärkt werden müsste, um die Zukunft des Gesundheitssystems so zu gestalten, wie es aus unserer Sicht wünschenswert wäre: Mit einem etwas Mehr an Reflexion darüber, was man will, ehe man es kann und tut, sowie der aktiven Vergewisserung der Würde des Menschen als Ausgangslage und Zielsetzung medizinischer Maßnahmen und personenbezogener Dienstleistungen im Gesundheits- und Sozialsystem.
Ein weiterer und daran anschließender Impuls aus Försters Kybernethik könnte in seinem »kategorischen Imperativ« liegen, so zu handeln, dass sich die Wahlmöglichkeiten erweitern, wobei von Foerster von dem jüdisch-christlichen Tragikerleben geprägt ist, das zu der schicksalsschweren Entscheidung von Pontius Pilatus führt³. Hier findet sich eine Argumentationsfigur, nämlich die, keine andere Wahl gehabt zu haben, die den Neoliberalismus Thatchers ebenso kennzeichnete wie die »Alternativlosigkeit« der Merkel-Regierung. Nicht zuletzt wegen des massiven Einsatzes wurde die »Alternativlosigkeit« zum »Unwort des Jahres 2010« gekürt. So befand die Jury:
»Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe« (Klassen 2011).
Mit der Frage nach Alternativen und von Foersters Forderung nach einem Ausbau derselben ist ein Konstrukt impliziert, das konsequent durchdacht, eine Reihe aktueller Anregungen auf allen Ebenen des Gesundheitssystems bietet: auf der Systemebene, der personalen Ebene der Verantwortungs- und Handlungsebene. So ergibt sich die Frage, welche Rückkoppelung eine Erweiterung der Wahlmöglichkeiten auf die Finanzierbarkeit des Systems hätte? Würde es notwendigerweise bedeuten, dass es implodiert oder dadurch entschärft wird, dass beispielsweise eine breite Bevölkerungsschicht ein technologiegeleitetes Ausklingen des Lebens ablehnt und somit Alternativen schafft?
Der Anspruch, Ethik in der und für die Medizin noch einmal – und immer wieder – zu durchdenken ist aber auch im Sinne Försters nicht gebunden an die hier angeführten Facetten. Je vielfältiger, kontrastreicher, kreativer wir gemeinsam nach den Impulsen der Ethik für die Medizin fragen und unterschiedlichste Disziplinen zur Sprache kommen, desto eher können wir die Ethik in der Medizin auch mit erfinden. Ich lade Sie herzlich ein, mit aller Muße über die angeschnittenen Fragen nachzudenken – und erneut in einen kreativen, konstruktiven interdisziplinären Austausch zu treten.
Erlauben Sie mir dazu abschließend noch eine kleine Anekdote: Von Foerster leitete das Department of Electrical Engineering an der University of Illinois und wollte einen Logiker einladen, der sich mit Hegel und fernöstlicher Philosophie auskennt:
»Dann hat natürlich der Vorsitzende meiner Abteilung, meiner Lehrkanzel gesagt: ›Der ist doch ein Logiker, der beschäftigt sich mit Hegel. Der vertritt fernöstliche Philosophie. Wir sind eine Lehrkanzel für electrical Engineering‹. Ich habe gesagt: ›Deswegen brauchen wir einen Logiker, der mit fernöstlicher Philosophie vertraut ist‹ (v. Foerster 2007, S. 237).
Literatur
Foucault M (1986) Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Luhmann N (1984) Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Kaufmann F-X (1982) Elemente einer soziologischen Theorie sozialpolitischer Interventionen. In: Kaufmann F-X (Hrsg.): Staatliche Sozialpolitik und Familie. München, Wien: Oldenbourg. S. 49-86.
Klassen R (2011) »Alternativlos« ist das »Unwort des Jahres«: Das Basta für Softies. Stern (http://www.stern.de/panorama/alternativlos-ist-das-unwort-des-jahres-das-basta-fuer-softies-1644487.html; Zugriff am 10.12.2012).
Reis C, Schulze-Böing M (Hrsg.) (1998) Planung und Produktion sozialer Dienstleistungen. Die Herausforderungen »neuer Steuerungsmodelle« (= Modernisierung des öffentlichen Sektors: Sonderband 9). Berlin: Edition Sigma.
von Förster H (1993) Kybernethik. Berlin: Merve.
von Förster H, Bröcker M (2007) Teil der Welt Fraktale einer Ethik – oder Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. 2. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer.
Wansing G (2005) Teilhabe an der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
2 Ethik als Steuerungsprinzip zur Finanzierung des Gesundheitssystems?
Bernd Quoß
Die nachstehende Abhandlung war Teilinhalt meines Vortrages anlässlich der Friedensauer Fachtagung im Mai 2011 zu dem Thema »Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin«? Vorwiegend wurde der betriebswirtschaftliche und gesundheitsökonomische Aspekt – in Abgrenzung zur Ethik – eines Krankenhausbetriebes beleuchtet. Der Anstieg der