Schaschlik: und der Traum vom Fliegen
Von null Possenbach
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Über dieses E-Book
Das Leben auf einer tristen Straßenkreuzung in einer kargen Zeit, die das Wort digital lange hinter sich gelassen hat, wird durch den Besuch von Paul mit seinem Schaschlikimbiss merklich verändert....
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Buchvorschau
Schaschlik - null Possenbach
Prolog
„Es geschah in Kleinstadt, zu einer Zeit als Arme natürlich immer ärmer aber sogar Reiche nicht reicher wurden. Dem Verfall waren Mauern und Dachstühle längst nicht mehr genug. Er hatte die Träume erobert. Einer aber, der war immun, der hatte sich einen Traum bewahrt, dem er sein genügsames und oft trostloses Leben widmete..."
Eine kalte Nacht im März
Das Tretgetriebe klappert; der Treibriemen quietscht; die grobe, alte Nähmaschinennadel ächzt und frisst sich mühsam durch einen grausilber flimmernden Stoff. - Kunze näht schon seit Stunden. Seine Augen sind gerötet, seine Finger weiß vor Kälte, sein linkes Knie schmerzt vom ewigen Treten des Pedals. Er hält inne und beugt sich über eine monströse, das schmerzende Knie umklammernde Ledermanschette, aus der ein die Gelenkfunktion unterstützendes Stahlgestänge starrt, dessen Verbindungen aus Scharnieren und kleinen Zahnrädchen an das Pleuelgestänge einer Dampflok erinnern. Kunze richtet eine Schraube, erhebt sich von einem einfachen Holzschemel - wobei das Gestänge leise quietscht - nimmt die an einem Balken hängende Arbeitsleuchte und lässt ihren Lichtschein über den Dachboden streifen. Das Gebälk ist morsch. Riesige, Staub beladene Spinnweben schlingern im Luftzug und durchs baufällige Dach blinken einige Sterne. Aus großen, funkelnden Augen betrachtet Kunze ein silbernes Gebirge aus Stoff, dessen längste Bahn wie ein Gletscher bis in die Nähmaschine reicht. Kunze schiebt zwei Finger zwischen die Lippen, pfeift leise, worauf es im schimmernden Gebirge raschelt und sich augenblicklich eine Beule formt, die rattenflink auf Kunze zurast. Die vorwitzige Schnauze eines kleinen Hundes erscheint unter dem Saum. Er verharrt eine Sekunde, springt an Kunze hoch, der ihn auffängt, und zärtlich streichelt. Zwei zierliche, goldene Initialen glänzen auf dem schmalen Hundehalsband:
J
für Jingle und
B
für Bell.
Über eine schmale, eiserne Trittleiter gelangt Kunze zu einer hölzernen Dachluke. Er hat Mühe hinaufzukommen: Die quietschende Manschette behindert ihn sehr, zumal er Jingle Bell auf den Schultern balanciert. Aber Jingle Bell kennt die Prozedur. Gekonnt hält er das Gleichgewicht, bis Kunze die Dachluke geöffnet hat und den flachen Giebel des Daches betritt.
Die kleine Stadt liegt noch im silbrigen Licht des zunehmenden Mondes. Im Westen ragen die Ruinen und Skelette verrotteter Fabrikanlagen in den nachtblauen Himmel. Einige Straßenlaternen flackern und irgendwo schreit eine Katze. Sogar im Zauberlicht des Märzmondes bleibt der Anblick dieses kleinen Städtchens trist und fade. Mit steifen Fingern schlägt Kunze den Kragen seines grauen Wintermantels hoch, knotet seinen dicken, roten Wollschal, setzt sich schließlich vorsichtig in einen knarrenden Korbsessel, vor dem ein gezimmertes, nach allen Richtungen schwenkbares Holzstativ steht. Die beachtliche Konstruktion trägt ein betagtes, bleigraues, eineinhalb Meter langes Fernrohr. So kann Kunze bequem Himmelszelt und Umgebung betrachten, ohne eine üble Halsstarre davonzutragen. Er klopft sich auf die Oberschenkel; und darauf hat Jingle Bell mit aufmerksam gespitzten Ohren schon gewartet: Sofort hüpft er auf Kunzes Schoß und kuschelt sich flink in den Wintermantel. Kunze richtet das Fernrohr gen Osten, wo hügelige Wälder an die kleine Stadt grenzen. Auf einer kahlen Kuppe steht ein eigenartiges Gebäude. Kunze nimmt es ins Visier, korrigiert die Schärfe bis er die dunkelgrauen Umrisse einer Sternwarte klar und deutlich erkennen kann. Allmählich steigt die Morgenröte über den gewellten Horizont. Fasziniert lässt Kunze den Blick des Fernrohrs über die aufglühenden Morgenwolken schweifen bis ihn nach einer Viertelstunde ein gewaltiges Gähnen übermannt. Er lehnt sich zurück, seufzt leise und schläft sofort ein.
Frühstück
Die Sonne steht schon zwei Hand breit über dem Horizont, als ein schriller Sirenenton Kunze aus dem Schlaf reißt. Von Hektik gepackt will Kunze aufspringen, kippt aber mit dem Korbsessel um, robbt unbeirrt zur Dachluke, wo Jingle Bell schon fröhlich auf und ab trippelt. Er wartet bis Kunze fast durch die Luke verschwunden ist und springt ihm geschickt auf die Schultern. Mit jedem Anschwellen wird der Heulton lauter.
Die massive, vom Dachboden ins Treppenhaus führende Holztür, ist mit zwölf mächtigen Schlössern gesichert. Obwohl Kunze seinen riesigen Schlüsselbund geschickt führt, braucht er eine Weile, bis er die Tür auf der Dachbodenseite auf und der Treppenhausseite wieder zu geschlossen hat.
Auf dem Treppenabsatz stehend blickt er hinab. Vor seinen abgeschabten Boots gähnt ein Abgrund: Von der ersten Etage bis hinauf zum Dachboden fehlen die Holztreppen. Allein die steinernen Absätze vor den Türen der einzelnen Geschosse sind erhalten geblieben. Irgendwo da unten heult die Sirene. Ihre Intervalle sind kürzer und immer lauter geworden, mischen sich mit ihrem eigenem Echo im Treppenhaus zu einem furchtbaren Getöse. Sogar einige Putzstücke bröckeln aus der maroden Treppenhauswand und segeln hinab. Unbeirrt angelt Kunze Jingle Bell mit einer Hand vom Treppenabsatz, mit der anderen greift er eine, an einem Flaschenzug hängende Schaukel. Dieser Flaschenzug ist eine besondere Konstruktion: Das starke Drahtseil, das auf der rechten Schaukelbrettseite befestigt ist, führt über sechs unterschiedlich große Rollen, die unter der Decke hängen, zu einer Handkurbel betriebenen Winde auf der linken Seite der Schaukel. Gleichmäßig und langsam bewegt Kunze die Winde. Jingle Bell, unter seinem rechten Arm klemmend schaut, lustig die Nase weit vorausstreckend, in den Abgrund, und an den leer stehenden Etagen vorbei schweben sie langsam abwärts.
Zwischen riesigen Federkissen aufrecht im Bett sitzend zieht Oma Kunze heftig an einem Seilzug, der das Schwungrad einer großen Standsirene antreibt. Oma Kunzes feistes Gesicht wirkt außerordentlich entspannt; sogar das enorme Sirenengetöse nimmt sie wie selbstverständlich hin. Ihr Schlafzimmer ist klein und ärmlich eingerichtet. Die vergilbte Rosentapete, die ihre einstmals roten Blüten nun in hässlichen Brauntönen zeigt, löst sich an den Kanten; eine Bahn ist schon halb herabgefallen, die anderen leiden unter großen, hässlichen Wasserflecken. Kunze stolpert herein; auf Oma Kunzes fahlen Lippen erscheint ein triumphierendes Lächeln. Sie lässt den Sirenenzug los, sieht Kunze aus böse funkelnden Augen über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg an. Kunze, diesem Blick ausweichend, humpelt um das Bett herum und kollidiert mit einem uralten Rollstuhl. Unterdessen ist Jingle Bell auf die Bettdecke gehüpft, will zur Begrüßung Oma Kunzes Gesicht schlecken. Angewidert packt sie den niedlichen Hund, schleudert ihn energisch gegen die Wand. Jingle Bell jault, und Kunze muss nun den Kopf einziehen, denn Oma Kunze versucht eine saftige Ohrfeige zu landen. Sie verfehlt Kunze nur knapp und raunzt ihn mit barscher Stimme an.
„Halt still!"
Kunze muss sich überwinden, aber er gehorcht. Mühelos platziert seine Oma die Ohrfeige. Es klatscht heftig, aber Kunzes Miene bleibt starr und ernst wie die einer Beethovenbüste. Oma Kunze, über den geringen Eindruck, den ihre Ohrfeige hinterlassen hat, keineswegs überrascht, seufzt und schüttelt den Kopf.
„Du bist spät! Los jetzt, hol mich hier raus!"
Vor Anstrengung stöhnend hievt, zieht und schiebt Kunze seine Zwei-Zentner-Oma aus dem Bett, bringt sie schließlich im metallisch knatschenden Rollstuhl zum Sitzen. Erschöpft wischt er sich den Schweiß von der Stirn und bugsiert Rollstuhl samt Oma durch den engen, dunklen Wohnungsflur in die kleine Küche.
Aus dem Lautsprecher des alten Küchenradios, das auf einer schmalen, schmutzigen Anrichte steht, knistert leise ein Streichquartett. Kunze nimmt einen verbeulten Aluminiumtopf vom Gasherd, schüttet dampfende Milch in zwei schlichte Blechtassen, schaut sich vorsichtig nach Oma Kunze um, die am schmalen Küchentisch unter dem fast blinden Küchenfenster sitzt, gerade ein rohes Ei in ein Glas schlägt, Zucker darauf schüttet, umrührt, das Gemisch in einem Zug wegschlürft, sich mit dem Handrücken den Mund abwischt, Kunze auffordernd ansieht.
„Milch!"
Kunze stellte eine der Tassen vor seine Oma auf den Tisch, öffnet eine rostige, etikettlose Konservendose, füllt den Inhalt in einen Napf, den er dem glücklich winselnden Jingle Bell hinstellt. Missmutig die Lippen kräuselnd beobachtet Oma Kunze die Fütterung. Als Kunze sich an den Tisch setzt und an seiner Milchtasse nippt, zieht Oma Kunze eine kleine Schublade im Küchentisch auf und entnimmt ihr eine braune Tüte, auf der das Rattengiftzeichen prangt. Ein gequälter Seufzer dringt aus ihrer Kehle. Zitternd aber mit selbstmörderischer Entschlossenheit schüttet sie eine beträchtliche Menge des Giftes in ihre Milchtasse, rührt dramatisch langsam um, blickt dabei Kunze aus leidvollen Augen an, hebt schließlich, die Augen schließend, die Tasse zum Mund, zögert. – Kunze rührt sich nicht, beobachtet seine Oma, hoffend und neugierig zugleich. Aber Oma Kunze schüttelt hinterhältig lächelnd den Kopf, kippt die Milch auf den schmutzigen Küchenboden, schnalzt mit der Zunge und lockt Jingle Bell.
„Komm! Lecker, lecker... Na, komm schon..."
Sofort macht sich Jingle Bell über die Milchpfütze her. Kunze springt auf, kann aber, durch seine Manschette behindert, Jingle Bell nicht schnell genug erreichen. Als er den kleinen Hund endlich zu fassen kriegt, ist es zu spät. Jingle Bell winselt leise, japst nach Luft, ermattet, zuckt noch einmal und verstirbt in Kunzes Armen. Kunzes Augen füllen sich mit Tränen. Oma Kunze trinkt seine Milch.
Schäfer, ich liebe Dich!
Die einzige im schattigen Hausflur noch existierende Treppe führt von Oma Kunzes in der ersten Etage gelegenen Wohnung hinab zum Erdgeschoss. Die morschen Holzstufen ächzen unter dem Gewicht der dicken Frau, die im Rollstuhl sitzt, den Kunze, vor Anstrengung keuchend, Stufe um Stufe hinabwuchtet. Zwei Schweißperlen rinnen ihm von der Stirn, überwinden die Brauen und fließen ihm in die Augen, derweil Oma Kunze einen zackigen Marsch intoniert. Dazu schwingt sie ihren Krückstock wie einen Feldmarschalstab. Sie erreichen die Mitte der Treppe. Kunze stoppt. Oma Kunze dreht sich verärgert um, erkennt etwas Gefährliches in Kunzes Blick und droht ihm mit dem Krückstock.
„Wehe! Ich warne dich!"
Aber ohne jedes Zögern lässt Kunze den Rollstuhl los, der mit der schreienden Oma die Treppe runterrast, an den Resten blecherner Briefkästen vorbeischießt und durch die Zarge des Eingangs, die schon lange keine Tür mehr trägt, verschwindet.
Schulzke, der Gemüsehändler, klettert gerade aus seinem klapprigen Pritschenwagen als Oma Kunze in ihrem Gefährt aus dem Haus donnert und noch einige Meter über die brüchige Straße holpert. Schulzke grinst amüsiert. Oma Kunze sieht ihn böse an.
„Mensch Schulzke, glotz nicht so blöd und hilf mir!"
Schulzke beißt sich auf die Unterlippe