Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Tanz der Heuschrecken: Roman über den Raubtierkapitalismus
Der Tanz der Heuschrecken: Roman über den Raubtierkapitalismus
Der Tanz der Heuschrecken: Roman über den Raubtierkapitalismus
eBook345 Seiten4 Stunden

Der Tanz der Heuschrecken: Roman über den Raubtierkapitalismus

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der neue Roman des Schriftstellers Ulrich Fritsch heißt: "Der Tanz der Heuschrecken". Er handelt von einem besonderen Fall der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise, die auch heute noch nicht ausgestanden ist. Eines der größten Unternehmen Englands stand vor dem Aus und wurde von einem deutschen Konzern übernommen. Hinter dieser Transaktion verbarg sich ein Insidergeschäft von noch nie gekannten Ausmaßen. Ein Medienfachmann war diesen kriminellen Machenschaften auf der Spur. Ihm halfen die Geliebte eines Bankiers und ein Manager, der in den Tod getrieben wurde. Es ging um das große Geld, um Macht, Gier, Eitelkeiten und eine eigentümliche Liebe.
Die Schauplätze dieser spannenden Handlung: Düsseldorf, Meerbusch, Aachen, London, Zürich, Nischni Nowgorod und die Côte d'Azur.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. März 2015
ISBN9783738021479
Der Tanz der Heuschrecken: Roman über den Raubtierkapitalismus

Ähnlich wie Der Tanz der Heuschrecken

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Tanz der Heuschrecken

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Tanz der Heuschrecken - Ulrich Fritsch

    Vorwort

    Handlung und Figuren des Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

    Früher war ich regelmäßig an der Wallstreet in New York und in der Londoner City. Meine Gesprächspartner sagten oft: Wenn Sie erfolgreich sein wollen, müssen Sie gierig sein und gegebenenfalls Familie und Freunde hinter sich lassen. Einige dieser Bekannten sitzen heute im Gefängnis oder residieren in Luxusorten an der Côte d’Azur, auf den Bahamas oder in der Schweiz. Dieser Einstellung haben wir es zu verdanken, dass unsere Marktwirtschaft fast vor dem Aus stand und wir alle nur mit knapper Not der wirtschaftlichen Katastrophe ent­kommen sind. Umso wichtiger ist es, den Blick für das ethisch und moralisch Vertretbare nicht zu verlieren. Deshalb habe ich diesen Roman geschrieben. Er soll unterhalten, aber auch nachdenklich stimmen.

    Düsseldorf

    Ulrich Fritsch

    Kapitel 1

    Leon Petrollkowicz war schon auch ein Verehrer des anderen Geschlechts. Wenn er auf der Königsallee in Düsseldorf den mehr oder weniger betuchten jungen Damen an den warmen Sommertagen einen frivolen Gedanken zuwarf, wenn er an der Universität von Nischnij Nowgorod mit hübschen Rus­sinnen parlierte, wenn er am Strand von St.Tropez mit den wunderschönen Evas baden ging, dann tauchte er zu gerne in den Wonnen der Weiblichkeit unter, dann verehrte er für viele Augenblicke das andere Geschlecht mehr als sich selbst, dann hätte er ganz in Nächstenliebe aufgehen können.

    Aber im Grundsätzlichen fiel sein Urteil über das andere Geschlecht ganz anders aus. Auch Frauen sind Menschen, sag­te er öfters, und meinte das gar nicht so unernst. Zwar hielt er sich gerne an die positiven Seiten einer Beziehung, doch wenn es zu Störungen kam, dann sah er sehr schnell typisch weibli­che Eigenschaften als die wahren Ursachen an. Er reflektierte dann gerne die Urteile gescheiter Männer und zitierte Strind­berg, Nietzsche, Schopenhauer, Wedekind oder Weininger, die schon manchmal auch Unfreundliches über die Frauen gesagt hatten. Nach seiner unmaßgeblichen Meinung, wie er beschei­den zugab, habe die Frau nur ein Bestreben, durch einen Mann glücklich zu werden, ihn zu lieben, ihn zu bewundern und ihn als Vorbild zu nehmen. Er selbst sei schon bereit, den Frauen dabei zu helfen, müsse sich dann aber an dem spezifisch Weib­lichen reiben, an der Unberechenbarkeit, an der Unlogik, an der diffusen Gefühlswelt, kurzum, seine Männlichkeit erlaube es ihm nur bis zu einem bestimmten Grade, sich mit dem ande­ren Geschlecht auseinanderzusetzen. Ihm reichten schon die vielen kleinen, für ihn typisch weiblichen Randerscheinungen des Alltags. Da war seine Lebensgefährtin Anna. Wenn er mit ihr ausging, musste er in aller Regel spätestens an der dritten Querstraße umkehren, weil der Herd oder das Bügeleisen viel­leicht nicht ausgeschaltet waren. Sobald sie in den oder aus dem Wagen stieg, fiel in der Regel ein Gegenstand auf die Stra­ße, der sich nicht so leicht wiederfinden ließ. Und dann die Lust auf Äußerlichkeit: Auch wenn es noch so kalt war, wurde nur das Notwendigste angezogen, weil sich die unerträgliche Leichtigkeit des Seins auch in der Kleidung widerspiegeln mus­ste.

    Leon Petrollkowicz monierte aber auch zu Hause viele Kleinigkeiten. Wenn er früh aufstand, zog er als Erstes alle Rollläden hoch. Unterhalb eines Rollladengurtes war ein Tischchen, auf dem eine wackelige Stele in Form eines filigra­nen schwarzen Körpers stand – der Geniestreich einer Künst­lerin. Wenn man auch nur an dem magersüchtigen Mame­lucken vorbeihauchte, flog er herunter. In den anderen Zim­mern standen Blumen, auch Kakteen, oft gerade da, wo man ständig entlang gehen musste. Manchmal flog eine Vase um, manchmal fuhr ein Kaktus seine Stacheln aus. Selbst auf der Toilette stand vor dem Fenster noch eine wohlriechende Blu­me. Wenn man lüften wollte, musste man sich erst sehr um­ständlich von dem sperrigen Duftspender befreien. Im Gang neben dem Telefon stand eine Tischlampe mit einem viel zu großen Schirm. Wenn man zum Telefon raste, fiel nicht selten die Lampe herunter. Im Laufe der Zeit nahm der Leuchtkörper bizarre Formen an. Aber warum sich wegen dieser Bagatellen den Kopf zerbrechen. An solche, aus männlicher Sicht nicht immer verständliche Unebenheiten auf der Oberfläche des häuslichen Sperrguts gewöhnt man sich im Laufe der Jahre. Warum sich beklagen?

    „Sehr richtig, Leon Petrollkowicz, pflichtete ihm einer sei­ner gescheiten Freunde bei. „Die Frauen wollen es sich und uns doch nur schön machen. Das Funktionale steht dabei nicht immer im Vordergrund. Meine Frau hatte zum Beispiel auf ihrer Kommode im Schlafzimmer neunundneunzig Par­fümflaschen stehen. Bei der hundertsten knallte der Cham­pagnerkorken. Wann würde ich sonst jemals im Schlafzim­mer ein solch prickelndes Erlebnis haben? „Es gibt, so sagte er dann weiter zu Leon, „nicht nur unsere Sicht der Dinge, auch wenn nur diese uns plausibel erscheint. Liebe heißt, dem Weiblichen nicht immer gleich den Stempel unseres Verständ­nisses aufdrücken zu wollen. Selbst in der Quantenmechanik, die auf der Unschärferelation beruht, sagte der Freund zu Leon und entschuldigte sich für den weit hergeholten Ver­gleich, „kommt man neuerdings zu ganz verblüffenden Er­kenntnissen. Jahrzehntelang war man davon überzeugt, dass die kleinsten aller Teilchen genau definierbare Positionen und Geschwindigkeiten einnehmen. Aber selbst Einstein irrte hier. Bei einem bestimmten System mit gleichen Anfangsbedingun­gen erhält man bei der gleichen Messung einmal das Ergebnis A, einmal das Ergebnis B. War Gott ein weibliches Wesen, das ein Element der Unvorhersagbarkeit oder Zufälligkeit in unsere Welt einführte? Ist es nicht verblüffend, dass Wellen auf Wellen nicht zu stärkeren Wellen führen müssen, sondern dass sich diese Wellen auch gegenseitig aufheben können? Dieses Phänomen der Interferenz haben wir auch im zwi­schenmenschlichen Bereich. Wir meinen, alles kann nur in einer bestimmten Richtung definiert werden, wobei manch­mal genau das Gegenteil ebenso richtig oder zumindest anders ist, als wir glauben annehmen zu müssen." Der Freund von Leon war sehr schlau.

    Leon Petrollkowicz überlegte. Dieser Mensch kam mit Ver­gleichen an, mit denen er wenig anfangen konnte. Er wollte gerne auf jede Unschärferelation verzichten, wenn er an das Weibliche dachte. Aber warum alle diese Überlegungen? Wa­rum musste er sich permanent mit diesem Thema auseinan­dersetzen?

    Leon Petrollkowicz hatte ein Problem. Er liebte Frauen, aber er litt auch unter ihnen. Am schlimmsten erging es ihm in seiner Firma. Er hatte öfters Meinungsverschiedenheiten mit einer erst kürzlich eingestellten Geschäftsführerin, die ihm, dem Inhaber eines mittelständischen Unternehmens für Pu­blic Relations und Marketing mit dem Firmennamen „Public Petrollcowicz", an manchen Tagen das Leben schwer erträglich machte. So auch heute wieder. Er war mit dieser Frau wieder einmal aneinander geraten und hatte deshalb schon etwas vor seiner üblichen Mittagspause fluchtartig das Büro verlassen. Bei dem Versuch, sich in den Straßen von Düsseldorf abzu­lenken, ließ er sich nicht nur von den Schaufenstern in den Einkaufsstraßen beleben, sondern auch von kleinen Begeben­heiten und Zwischenfällen, von dem Treiben in den Straßen­cafés und vom Flair des bunten Völkchens auf den Bürger­steigen. Immer, wenn er beruflichen Ärger hatte, suchte er im städtischen Treiben Zerstreuung: Manchmal spielte irgendeine Straßenband, suchte die Heilsarmee nach Gutgläubigen, ver­suchte sich ein Pantomime in der Körpersprache oder warf ihm ein weibliches Wesen einen freundlichen Blick zu. Endlich die Kehrseite des manchmal so tristen Umgangs mit dem anderen Geschlecht. Auf der Königsallee, der Prachtstraße von Düssel­dorf, konnte er den Duft, die Schönheit, die Grazie, die Erotik der Frauen genießen, vielleicht nur deshalb, weil er keinen un­mittelbaren Kontakt mit ihnen hatte. Je unverbindlicher der Umgang mit ihnen, umso leichter trieb es seine Gedanken in luftige Höhen, wo er endlich nachempfinden konnte, warum Geschichtsschreiber, Poeten, Minnesänger oder Marktschreier dem weiblichen Geschlecht auf jeweils ihre Weise huldigten. Leon Petrollkowicz war kein Historiker und kein Homme de lettres, aber er las gelegentlich die neuen und alten Klassiker und verharrte immer dann, wenn es um das besondere Rol­lenbild der Frau ging. Sie war seit einer Ewigkeit Göttin und Preis für alles. Schon im ersten Gesang der Ilias erscheint das Weib als Belohnung für den Sieger im Spiel oder im Krieg. Nur der Mutigste und Geschickteste erhielt als höchsten Lohn die Schönste. Heute ist man in den Preisen wesentlich prosa­ischer. Geld, viel Geld für ein gewonnenes sportliches Event oder für ein paar richtige Antworten im Fernsehen.

    Wie anders war es doch in den glanzvollsten Epochen der früheren europäischen Geschichte. Aber natürlich wurde nicht jede Frau auf den Schild des Ritters gehoben, sondern nur das bezaubernde Wesen, das in den Träumen der Männerwelt eine größere Realität besaß als in den stickigen Spinnstuben des Alltags. In Chateaubriands „Martyrs wird von einem Feld­herrn erzählt, der sich dem Flimmermeer der Sterne hingibt und plötzlich von einem goldenen Etwas geblendet wird, ei­ner Priesterin, die ihn mit langem blonden Haar umwallt – Veleda, die edle Druidin. „Weißt du, fragt sie den edlen Rit­ter, „dass ich eine Fee bin? „Eine richtige Fee?, fragt dieser. Sieh an, sagte Leon Petrollkowicz zu sich, obgleich eine Fee höchstens in Gedanken oder virtuell vor uns stehen kann, er­scheint sie dem Helden als reales Wesen. Phantasien können so stark sein, dass sie uns wirklich erscheinen und plötzlich die manchmal so raue Wirklichkeit erträglicher machen.

    Leon Petrollkowicz träumte und verwob diese Gedanken mit den Eindrücken des Augenblicks. Die Boulevards erschie­nen ihm wie ein Glacis vor monumentalen Einkaufsburgen, aus denen pappmascheegeformte Glamourgirls und Dressmen ihre Arme durch die Schaufenster streckten, um den Kunden in ein Paradies von käuflichen Großartigkeiten zu locken. Oft erlag er den Verführern, manchmal schenkte er ihnen kauflü­sterne Blicke, jetzt aber zeigte er sich standhaft, weil ihn ein Knurren in der Magengrube nur in eine Richtung drängte. Er ging wie immer zu einer kleinen Imbissbude gegenüber ei­nem Kaufhaus in der Schadowstraße. Schon von weitem sah er die lange Schlange der Hungrigen, die in aller Regel nicht nach einer Bratwurst anstanden, sondern nach einer großen Folienkartoffel mit Quark. Man bekam diese Köstlichkeit in einen facionierten Pappkarton eingepackt, um dann entwe­der an einem der kleinen Stehtische oder an einem anderen Ort mit einer Plastikgabel und einem Plastikmesser zur Tat zu schreiten. Leon Petrollkowicz reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Er nutzte immer diese zehn oder fünfzehn Minuten, um seine Studien vor Ort zu treiben, die er manch­mal, wenn es um Alltagssituationen ging, in eine PR-Kampagne oder in ein Marketingkonzept einarbeiten konnte. Man musste, dies war seine Devise, dem Mann beziehungsweise der Frau auf der Straße aufs Maul schauen, um die Massen wirkungsvoll zu beeinflussen. Da standen Männer, die es gewöhnt waren, auf irgendetwas zu warten: auf die Frau ihres Lebens, auf das Grün an der Ampel, auf die Kündigung oder einfach, wie jetzt, nur auf eine Folienkartoffel vor einer Imbissbude. Die Mienen die­ser Männer waren wie versteinert. Sie konnten auch in ihrer Mittagspause nicht entspannen, weil sich ein Korsett der Zwän­ge um ihre Seele presste: Der Zwang im Büro zu parieren, an der Werkbank den Hobel richtig anzusetzen, nach der Arbeit die Wäsche in den Trockner zu schmeißen und am Freitag immer wieder den Lottoschein abgeben zu müssen.

    Anders die Frauen in der Schlange der Hungrigen: Sie warteten nur darauf, sich dem anderen mitzuteilen. Ihre Äuglein gingen hin und her, und wenn Frau Pullemuck zur Frau Salehupf nur ein kleines „na denn" sagte, reichte dies im Allgemeinen, um eine Lawine an Worten loszutreten. Es ging dann um das Wetter, um ein von der Mutter gescholtenes Kind, um die Abgase von Autos oder um die gentechnische Erzeugung von Kartoffeln. Leon Petroll­kowicz fiel auch diesmal wieder auf, dass sich das Geplätscher der Weiberstimmen mit dem Gemurmel einer alten Türkin mischte, die tagein tagaus bettelnd neben dem Haupteingang eines Kaufhauses saß und ihre verkrüppelte Hand den Pas­santen entgegenstreckte. Diese Monotonie des Wartens hat­te wenig Erbauliches. Straßenbahnen, Autos, Einkaufstüten, streunende Hunde, kauende Schnellimbisskunden.

    Dann aber geschah es: Von weitem näherte sich ein bildhübsches Wesen. Es tauchte aus einem Pulk einkaufswütiger Menschen auf und näherte sich etwas schweren Fußes dem Kartoffelstand. Wie Leon Petrollkowicz mit Kennerblick sofort feststellte, störten die zu hoch geratenen Plateausohlen die ansonsten anmutige Vorwärtsbewegung. Im Übrigen war die Erscheinung makellos: Langes blondes Haar, ein fein geschnittenes Gesicht, ein hüb­scher, mittelgroßer Busen und eben plateauabsatzverlängerte schlanke Beine. „Sais tu que je suis une fée?" Sagte das nicht die bezaubernde Druidin zu ihrem dahindösenden Feldherrn? Jetzt kam diese Fee auf die Schlange der Wartenden zu und reihte sich ordnungsgemäß am unteren Ende ein. Leon Petroll­kowicz sah sich verstohlen permanent um, nicht nur, weil ihm das Betrachten dieses jungen Mädchens das Anstehen erträgli­cher machte, sondern weil er mit den Augen eines Malers, der er nebenberuflich auch noch war, das Modell sah, welches sich vor seinen Augen entblätterte und als maldramaturgischen Höhepunkt die Plateauschuhe von sich warf. Er hätte nicht wie Alessandro Botticelli seine Venus aus einer Muschel, sondern aus einer Kartoffel aufsteigen lassen, ein Akt irdischen Gebä­rens und erdgebundener Sinnlichkeit. Diese Maid wirkte un­widerstehlich allein durch ihre Gegenwart. Hat nicht Ortega y Gasset einmal sinngemäß gesagt: Männer wirken durch ihr Tun, schöne Frauen schon durch ihr Sein. Es sind jene unfass­baren, zerfließenden Gebilde, jene luftigen Traumgewebe, die durch ihre Anwesenheit den Augenblick erträglicher machen.

    Die Fee wartete auf ihre Kartoffel und wirkte. Aber sie stand nicht einfach da, sondern sie schwebte – trotz der plateau­schuhbeladenen Beine. War sie vor Sekunden noch die Letzte in der Reihe, so stand sie jetzt schon wesentlich weiter vor­ne, an unförmigen Körpern vorbeihuschend, sich zerfließend in ein Nichts auflösend, um dann plötzlich wieder neben ganz anderen Personen aufzutauchen. Leon Petrollkowicz war ganz erstaunt, als sie plötzlich neben ihm stand. Jetzt brauchte er nicht mehr verstohlen umzublicken. Eine leichte Drehung des Körpers reichte, um jedes Detail an ihr beobachten zu kön­nen: Ihre schulterlangen blonden Haare, ihr sanftmütiges Ge­sicht mit den großen blauen Augen, der kleinen feinen Nase und den aufgeworfenen, sinnlichen Lippen, die in ein tiefes Rot-Violett getaucht waren, die ganz leicht vorstehenden Bak­kenknochen, ihr langer Hals, ihr wunderschön geformter Bu­sen, der zwischendurch aus einem so zufällig über die Schul­tern gelegten Bolero hervorblitzte, die wespenschlanke Taille, und dann dieser selbst den aus dem Kartoffelofen austreten­den Dunst übertreffende Duft, eine Mischung aus Parfüm und körpereigenen Essenzen. Als sinnlicher Mensch liebte Leon Petrollkowicz den Duft der Frauen. Da war einmal das äußere Bukett. Während seiner Urlaube in der Provence beobachtete er oft stundenlang die Rosenpflücker, die diese Schönste al­ler Blumen in Körbe warfen, um sie bei Sonnenuntergang mit dem Auto oder einem Pferdefuhrwerk nach Grasse zu bringen. Hier wurde aus den edlen Gewächsen Parfüm gemacht. Wenn Leon Petrollkowicz Parfüm roch, sog er die Sonne, die Natur, die braune Erde und die Rosenstöcke in sich auf und vermähl­te dieses Aroma mit dem körpereigenen Odeur einer Schönen. Er erhöhte dieses Erlebnis noch dadurch, dass er als Maler nicht nur die Hülle, sondern auch das Wesen selbst in seiner Unaussprechlichkeit zu erfassen versuchte, wenngleich nicht jedes Umfeld ihn wie von selbst zu den schönsten Höhenflü­gen animierte. Jetzt störten ihn der monotone Bettelgesang der Türkin, die Abgase der Straße und des rechten Nachbarn, das Gebell eines streunenden Hundes und die prallgefüllten Einkaufstüten der arbeitenden und weit mehr noch der nicht arbeitenden Bevölkerung. Als er sich trotz dieser Irritationen seiner schönen Fee intensiver zuwenden wollte, war sie schon vor ihm, und obgleich er eigentlich an der Reihe war, seinen Essenswunsch vorzutragen, nahm er großzügig in Kauf, dass sie blitzschnell ihre Bestellung der Verkäuferin entgegenrief: „Elf Kartoffeln mit Quark!"

    „Elf Kartoffeln!" Er wusste es. Der Kaufvorgang bei Frau­en war immer etwas Eigenartiges. Noch nie war es ihm pas­siert, dass eine Frau etwas kaufte oder bestellte, das Geld hin­legte, die Ware entgegennahm und verschwand. Immer war eine Garnierung dabei. Man unterhielt sich ganz allgemein, man sprach über die Qualität der Produkte oder deren Preis, man bezahlte in bar, wobei aber ausgerechnet der letzte Cent fehlte, oder aber mit einer bereits abgelaufenen Scheckkarte, oder man bestellte, wie in diesem Fall, nicht eine, sondern elf Kartoffeln. Leon Petrollkowicz wartete und betrachte etwas gereizt die hintere Fassade der noch vorhin so bewunderten Person. Seine Blicke übersprangen in dieser Stimmung Tail­le, Hüfte und Beine und landeten ohne Umschweife auf den Plateauschuhen. Warum trug diese Frau diese unförmigen, fußentstellenden Treter? Waren vielleicht die Beine zu kurz geraten? Richtig! Die Beine waren viel zu kurz. Sie klebten förmlich an den kartoffelförmigen Ausbuchtungen in der Ver­längerung der Wirbelsäule.

    Elf Kartoffeln! Wahrscheinlich war sie irgendeine Tippse in einem Großraumbüro oder eine Sprechstundenhilfe bei einem Orthopäden, der sich auf plateaugeschädigte Füße spezialisiert hatte oder das Maskottchen einer Fußballmannschaft.

    Leon Petrollkowicz wartete und wartete, und als er endlich an der Reihe war, rief die Verkäuferin „Schluss vorerst! Die letzte Kartoffel wurde soeben verkauft. In einer halben Stunde ist es wieder soweit! Jetzt müssen erst wieder neue Kartoffeln geholt und in den Ofen geschoben werden."

    So war das Leben eben. Leon Petrollkowicz registrierte nicht einmal mehr, wie die kartoffelbeladene Fee davonstapfte. Er ging einen Stand weiter und holte sich zwei mit Käse beleg­te Brötchen. Sie taten es auch. Warum sollte er sich ärgern? War das nicht genau der Alltag, den er seit eh und je kann­te? Sind Männer nicht deshalb so langweilige Geschöpfe, weil sie meinen, es müsse immer alles glatt gehen, die kein Gespür für das Außergewöhnliche haben, die sich einbilden, es müsse sich alles nach ihren Vorstellungen abwickeln? Die immer nur funktionieren um des Funktionierens willen? Die Fuhrmänner seien, dumme Fuhrmänner, die sich und andere durch das Le­ben schleppen, ohne dabei auch einmal die Facetten am Rande auszukosten, wie dieses einmalige Erlebnis, von einer Fee über­holt zu werden, um dann statt in eine Kartoffel in käsebelegte Brötchen zu beißen?

    Er wollte im Kaufhaus gegenüber noch etwas einkaufen. Drinnen war eine dicke, stickige Luft. Die Leute drängten sich vor den Wühltischen, als gäbe es etwas umsonst. Die meisten standen nur da und wühlten. Es musste ein schönes Gefühl sein, Brieftaschen, Einkaufstaschen, Strohhüte, Bettwäsche, Socken, Unterwäsche einfach nur zu befühlen, ohne gleich kaufen zu müssen. Rentner und Frauen hatten an diesen Ti­schen die absolut dominante Rolle. Sie benutzten nicht nur ihre Hände, sondern auch Ellbogen und Körper. Keiner soll­te ihnen etwas wegschnappen, schon gar nicht einer von den gutsituierten Herren, die sich ja auch an den normalen Ti­schen etwas aussuchen könnten. Leon Petrollkowicz bewegte sich von einem Menschenknäuel zum nächsten, die Käsebröt­chen mit einer Hand haltend, mit der anderen sie beschüt­zend und strebte so gut es ging zur Lebensmittelabteilung im Basement. Aber das war nicht so einfach. Frau Pullemuck, die er schon am Kartoffelstand gesehen hatte, entdeckte kurz vor dem Antritt zur Rolltreppe eine Frau Wullig. Die Begrüßung war lang und herzlich. Die beiden Frauen merkten gar nicht, dass sie den einzigen Zugang zum Basement versperrten. Das interessierte sie auch nicht, weil Frauen im Jetzt leben und hier und sofort ihre Spontaneität ausleben wollen und nicht irgendwann und irgendwo. Natürlich landete Leon Petrollko­wicz irgendwann irgendwo in der Lebensmittelabteilung, aber eben nach Überwindung etlicher natürlicher Hindernisse. Er kaufte Champagner ein, Krabben, kleine Salate und ein Ba­guette – alles Dinge, die er seiner Lebensgefährtin am Abend mitbringen wollte.

    An der Kasse musste er wieder anstehen. Vor ihm stand aber kein Mensch, sondern nur ein Einkaufswagen. Auch das war ihm geläufig. Er erfand für dieses Event den Ausdruck Phan­tomeinkaufen. In unregelmäßigen Abständen flogen irgend­welche Waren in den Einkaufswagen, den immer weiter zur Kasse zu schieben seine Aufgabe war. Auf diese Weise vermied dieser Mensch das lästige Anstehen und konnte just dann das Portemonnaie zücken, wenn der von einem gutwilligen Kunden geschobene Einkaufswagen die Kasse erreichte. Voraussetzung war natürlich, dass der Geldbeutel auch vorhanden war. Bei der Frau, die vor Leon Petrollkowicz an der Kasse stand, war das offenbar nicht der Fall. Sie suchte und suchte, hauptsächlich in einer Handtasche, dann aber auch in Mantel und Jacke. Das Portemonnaie war verschwunden. Leon Petrollkowicz wusste, dass bei einer Frau wieder etwas Außergewöhnliches passieren würde, aber eine verlorene Geldbörse war auch für ihn etwas Neues. Die Frau zuckte mit den Schultern, sah sich um, tuschel­te mit der Kassiererin und beäugte immer wieder misstrauisch den Mann hinter sich. Eine Bimmel ertönte, eine Verkäuferin eilte herbei, verschwand wieder, um nach kurzer Zeit mit einem Mann aufzutauchen, der sich als Hausdetektiv vorstellte, Leon Petrollkowicz unsanft am Arm nahm und ihn in eine kleine Kammer führte. Die junge Dame und die Verkäuferin waren den beiden gefolgt. Trotz der Enge herrschte in dem nur spärlich beleuchteten Verlies reges Treiben. Ein Polizist, ein anderer, of­fenbar auch auf frischer Tat ertappter Kunde, der Detektiv, der sich an eine vorgestrige Schreibmaschine setzte, und die in den neuen Fall verwickelten Personen. Leon Petrollkowicz wurde nach seinen Personalien gefragt. Name, Geburtsort, Adresse ...

    Was war passiert? Leon Petrollkowicz hatte doch nichts anderes getan als seinen und den Einkaufswagen einer Frau vor sich herzuschieben. Sicher, für den Bruchteil einer Sekun­de war diese Frau an ihm vorbeigehuscht, hatte sich noch für die Mühewaltung des Schiebens bedankt, um dann vor ihm die Waren auf das Fließband zu legen und den Zahlvorgang durch umständliches Suchen einzuleiten. Und er stand jetzt in dem Verdacht, das Portemonnaie gestohlen zu haben? Die Obrigkeit würde jetzt ihre Pflicht tun. Leon musste an Franz Kafka denken, der in seinen Romanen wie in seinem Leben permanent gegen eine bornierte Bürokratie und Exekutive anrannte, die ihn peinigte, fertigmachte, knechtete, ihn hoch­kommen ließ, nur um ihm anschließend gleich wieder den Fuß in den Nacken zu stellen. Finanzamt, Polizei, Registergericht, Vermessungsbehörde, Passamt, Amtsgericht, Arbeitsgerichts­prozess, Krankenkasse etc. etc. Er hatte doch schon genug mit all diesen selbstzufriedenen Staatsdienern zu tun, warum stand er jetzt schon wieder vor so einem subalternen Amts­büttel? Wegen einer Frau! Hatte Kafka in seinen Romanen immer noch Frauen, die ihn liebten und ihm halfen, so war er, Leon, in seinen Demütigungen nicht nur allein gelassen, son­dern wurde sogar noch von einer Frau über die Brüstung der bürgerlichen Anständigkeit geschmissen: Zur wohlgefälligen Selbstwertsteigerung der kleinen und kleinsten Gesetzeshüter. Wie lässt Kafka doch noch den Türhüter in „Der Prozess über sich sagen: „Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mäch­tiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.

    Der Mann an der Schreibmaschine, offenbar der Haus­detektiv, produzierte so eigenartige Zuckungen, wenn er von einer Zeile zur anderen wechselte, als wolle er schon mit der Körpersprache seinen Unwillen über die Infamie der sich alle so schuldlos gebärdenden Kaufhausdiebe zum Ausdruck bringen. „Die kriege ich schon!, wollte er wohl sagen. „Mir kann keiner etwas vormachen. Schließlich wäre er ja seit mehreren Jahren in diesem Geschäft und würde seine Pap­penheimer schon kennen. Zwischen den Zuckungen und dem Hin- und Herschieben des Schreibmaschinenschlittens sah er immer wieder verächtlich an dem Delinquenten hoch, der nach seiner Ansicht nun wirklich keinen vertrauenswürdigen Eindruck machte. Wie der schon angezogen war! Einen ab­geschabten Regenmantel, wo es doch gerade im Angebot des Kaufhofs so günstige gab, ältere Schuhe, wahrscheinlich aus dem Altkleidercontainer gefischt, und als Krönung eine Kari­katur von einem Hut. Leon Petrollkowicz sah an sich herunter und musste in diesem Augenblick an die ständigen Auffor­derungen seiner Lebensgefährtin denken, sich seiner Position entsprechend – als Inhaber eines mittelständischen Unterneh­mens war er ja schließlich wer – zu kleiden. Am schlimmsten war der Hut, den er liebte und als seinen Talisman ansah. Mit diesem Hut fuhr er Ski, wanderte in den Bergen, ihn behielt er selbst beim Malen auf oder wenn es in einem Raum zu kalt war. Seine Anna hasste diesen Hut. Er hatte ihn schon auf der Piste verloren, im Zug vergessen, und einmal war er sogar in der Mülltonne gelandet. Aber wie durch ein Wunder gelangte dieses „Möbel" durch den Müllmann, die Post oder Bahn im­mer wieder in seine Hände. In diesem Bereich funktionierte die öffentliche Hand.

    „Nehmen Sie den Hut ab!" befahl der Mann an der Schreib­maschine mit einem kenntnisreichen Detektivlächeln. Der Geldbeutel konnte ja dort versteckt sein. Er war es aber nicht, wie sich alsbald herausstellte. Der Mann schrieb weiter und weiter, so als würde er den Hergang der Tat ganz genau kennen und zum Schluss den Dieb nur noch auffordern, das Protokoll zu unterschreiben. Dazu kam es aber nicht. Die sich bestohlen fühlende junge Dame schrie plötzlich auf, fühlte im Futter ihres Mantels etwas Hartes und zog wenig später das Portemonnaie heraus. Es war offenbar durch ein Loch in der Manteltasche in das Futter gerutscht.

    Der Mann an der Schreibmaschine, die Verkäuferin, der Polizeibeamte, sie alle waren nicht etwa erleichtert, sondern entsetzt. Wofür hatten sie sich diese Arbeit gemacht! Kei­ne Entschuldigung in Richtung Leon Petrollkowicz, sondern strenge Blicke für die junge Dame. War das nicht so etwas wie Irreführung des Apparates, der schon wie geschmiert zu funktionieren begann? „Also denn, räusperte sich jemand mit kleinlauter Stimme aus dem Hintergrund. „Damit wäre ja alles geklärt. Die Waren aus den Einkaufswagen habe ich leider schon wieder in die Regale gestellt. Man konnte ja nicht wissen …! Leon Petrollkowicz sah geringschätzig auf die klei­ne, etwas dickliche Verkäuferin herunter, die wohl etwas vor­schnell das Verfahren eingeleitet hatte. Er überlegte einen Au­genblick, ob er auf eine Entschuldigung drängen oder der gan­zen Mannschaft einschließlich der vermeintlich Bestohlenen die Meinung sagen sollte. Aber er tat gar nichts. Er schwenkte seine Käsebrötchen hin und her und eilte aus dem Verlies, um keine Sekunde länger als nötig in dieser beklemmenden At­mosphäre aushalten zu müssen. Er war kaum einige Schritte gegangen, als er von der jungen Frau von hinten

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1