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Westdämmerung: Die Geschichte eines Untergangs
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eBook350 Seiten4 Stunden

Westdämmerung: Die Geschichte eines Untergangs

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Über dieses E-Book

Im dritten Band der Generationentrilogie schildert der Autors das Leben seines Protagonisten Martin Wauer von der Wiedervereinigung Deutschlands an bis zu dessen Tod im Jahr 2017. Schultzes Held erlebt nach dem Wiederaufbau der maroden ostdeutschen Bundesländer und den Anschlägen des 9/11 von New York nun die "Dämmerung" der "westlichen Wertegemeinschaft" mit Korruption, Terror, Krieg, Finanz- und Migrationskrise. So wie der Westen durch den Krebs des "Mammonismus", stirbt auch Wauer an dieser todbringenden Krankheit.
Wie Oscar Spengler glaubt Schultze an den unausweichlichen "Untergang des Abendlandes".
Dieses Buch ist ein "Muss" für alle, die an den Hintergründen der aktuellen Menschheitsgeschichte interessiert sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Feb. 2017
ISBN9783742795939
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    Buchvorschau

    Westdämmerung - Christian Friedrich Schultze

    Ungewissheiten

    1.

    Jetzt also hatte er Gewissheit!

    Und es gab keinen Grund, seinem Freund Thomas Deutscher nicht zu glauben. Nun hatte es auch ihn erwischt! Wieso auch nicht? Schließlich lag es ja in der Familie. Es hatte keinen Zweck, sich darüber zu ärgern, dass so etwas anscheinend vererblich war. Wieso und warum, darüber rätselte die Wissenschaft schon jahrelang. Es war vielleicht eine Sache des Zufalls. Manche traf es eben, manche nicht.

    Der Vater war daran gestorben; vor dreiundzwanzig Jahren dann auch die Mutter; vor zwei Jahren schließlich Sibylle. Und nun war eben er an der Reihe. Der Tod war sicher, nur wann es einen ereilte, war ungewiss.Immer noch war er überrascht, wie plötzlich es gekommen war. Mit dem beginnenden Frühjahr hatte er seinen 70. Geburtstag gefeiert. Lothar, inzwischen dreiundvierzig, und Maren, seine späte Tochter, noch nicht einmal zwanzig, waren mit ihren Partnern und den Enkeln gekommen. Und auch Barbara, Wauers Geschiedene aus erster Ehe, hatte es sich nicht nehmen lassen, bei dieser Gelegenheit die Kinder und Enkel zu treffen. Am Abend, nach der kleinen Familienfeier, hatte er nach einigen Gläsern von seiner edlen Whiskyreserve noch gedacht, dass er es nun wohl geschafft haben und zu denen gehören würde, die erst im hohen Alter das Zeitliche segnen.

    Kaum vier Wochen danach begannen die Veränderungen. Anfangs ganz unmerklich, dann aber bald heftiger. Zuerst ließ sein sonst so guter Appetit nach. Nicht einmal mehr auf einen Rotwein oder ein argentinisches Steak hatte er Lust. Dann kamen die fürchterlichen Kopfschmerzen. Nicht lange danach bemerkte er, dass sich seine Haut veränderte. Sie wurde fahler, sie ergraute quasi, wie seine Haare schon lange ergraut waren. Als er dann Ende Mai das erste Mal Blut im Stuhl entdeckte, ahnte er sofort, was folgen würde. Schließlich hatte er doch Thomas angerufen und um einen Termin gebeten. Sein letzter Gesundheitscheck hatte zwei Jahre zurück gelegen. Der Freund hatte deshalb ein bisschen geschimpft und eine umfassende Untersuchung angeordnet. Wauer hatte, ohne zu murren, alles über sich ergehen lassen und alles Georderte abgegeben: Blut, viel Blut, Urin, Stuhl. Schon nach einer Woche war er wieder einbestellt worden.

    Ich weiß, was du hören willst, ist mir schon klar, hatte der Arzt mit ernster Miene gemeint: „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Das sagen die Meisten, auch wenn sie es in Wirklichkeit nicht verkraften können. Aber ich weiß noch nicht genug. Deine Blutwerte sind jedenfalls beschissen. Zu viele Leukozyten und auch dein Stuhltest und die Urinanalyse deuten darauf hin, dass du ziemlich krank bist. Aber wir müssen dich noch durch die Röhre schicken, erst dann können wir was Gültiges sagen. Wir wollen möglichst vollständige Gewissheit. Wir können dich nicht auf bloße Vermutungen hin aufmachen."

    Thomas Deutscher hatte ihn sodann in die Uniklinik „Carl Gustav Carus nach Dresden überwiesen. Kurze Zeit nach der PET-Prozedur kam die unumstößliche Diagnose: „Pathologisch neue Zellbildungen im Dünndarmbereich, Metastasenbildung teilweise nachweisbar, zwei karzinome Herde. Siehe beiliegendes Bildmaterial.

    Der Freund hatte ihm das „Bildmaterial" gezeigt und es stand unverrückbar fest: Darmkrebs im mittleren Entwicklungsstadium, wie vor über zwanzig Jahren bei seiner Mutter.

    Vom Kreiskrankenhaus bis zum Weinaupark war es nicht weit. Bei einem Spaziergang auf den schattigen Wegen unter den alten Eichen konnte er an diesem frühsommerlichen Spätnachmittag ungestört seinen trüben Gedanken nachhängen und die nächsten Schritte abwägen. Was er in einem Falle wie diesem machen würde, war er schon früher hunderte Male im Geiste durchgegangen.

    Er würde es nicht so weit kommen lassen wie Vater oder Mutter. Mit Sibylle war es freilich etwas anderes gewesen. Das Sterben seines Vaters hatte er nicht derart hautnah miterlebt. Aber bei ihr und seiner Mutter hatte er das Spätstadium dieser „Krankheit" bis zum bitteren Ende tagtäglich vor Augen gehabt. Niemandem seiner Umgebung, vor allem nicht seinen Kindern, wollte er so etwas zumuten. Davon hatte niemand etwas! Und die Folter der Hoffnung, die er mit der dahinsiechenden Mutter wochenlang ertragen musste, würde er sich und allen anderen ersparen: Mit jedem neuen Tag, an dem es ihr schlechter ging, war ihre Hoffnung gestiegen, dass ihre Gebete erhört würden und eine Wende zur Besserung einträte.

    Seinen Plan hatte er sich bereits damals zurechtgelegt, aber dann eine Weile vergessen. Doch diesmal hatte er vorgesorgt. Nicht mit Hilfe seines Freundes, denn der lehnte Sterbehilfe aus religiösen Gründen kategorisch ab. Mit der ihm eigenen Ironie wies er darauf hin, dass viele Kranke trotz der medizinischen Behandlungen wieder gesund geworden seien. Es hatte einen anderen Arzt gegeben, für den Wauers Büro vor ein paar Jahren eine moderne Villa am Rande von Zittau projektiert und die Bauleitung dazu durchgeführt hatte. Mit ihm hatte er beim Richtfest und bei der späteren Übergabe des mondänen Hauses über das heikle Thema gesprochen. Der Mann verstand sofort, was er meinte und hatte ihm versprochen, das erforderliche, absolut zuverlässige Mittel zu besorgen. Wauer müsste lediglich das Verfallsdatum der Droge beachten. Die Frage war allerdings, wie lange er die Krankheit vor seinen Lieben geheim halten konnte und wann für ihn die Zeit unwiderruflich gekommen war. Er würde anordnen, dass sie ihn im Zittauer Krematorium verbrannten.

    2.

    Es war an einem klaren, blauen, sonnigen Septembertag des Jahres 1992, als sie Mutter Helene neben ihrem despotischen Ehemann Karl auf dem Großschönauer Bergfriedhof zur letzten Ruhe betteten. Und es war wieder ein Freitag gewesen. Zehn Jahre und sechs Monate nach Vater Wauers Beerdigung war nahezu die gleiche Gemeinde auf dem gleichen Gottesacker zusammengekommen wie damals, an jenem kühlen, Vorfrühlingstag im März 1982, als man ihn zu Grabe getragen hatte. Siebzig Jahre alt war sie nur geworden. Immerhin hatte sie ihren sieben Jahre älteren Gatten um zehn Jahre überlebt. Aber ein langes oder gar frohes Leben hatten sie nicht gehabt. Möglicherweise hatten sie selbst es als ein erfülltes Leben empfunden. Aber Weltkrieg und Nachkriegszeit hatten von den beiden Alten schließlich ihren Tribut gefordert.

    Auch diesmal waren eine Menge Leute aus der Kirchengemeinde zum Begräbnis erschienen; dazu Lothar, Sibylle natürlich mit ihrem Sohn Christian, die Familie seiner Schwester Beate und Cousin Robert mit Frau Renate und Tochter Silvia. Sogar Wauers Geschiedene, Lothars Mutter Barbara, war nach einer langen Zeit gewollter Kontaktpause zur Abschiedsfeier von der ehemaligen Schwiegermutter gekommen.

    Während des Trauergottesdienstes war vor Wauers innerem Auge noch einmal die ganze ekelhafte, traurige und leidensreiche Krankengeschichte der Mutter abgelaufen. Er war froh gewesen, dass sie es endlich hinter sich hatten.

    Nach der zweiten Operation im Frühjahr war der Mutter wohl klar geworden, dass mit einer Heilung ihres Krebsleidens nicht zu rechnen war. Sie äußerte den Wunsch, zuhause sterben zu dürfen, in dem Ehebett, in welchem auch ihr strenggläubiger Ehegatte gestorben war. An dieser Idee hielt sie trotz mancher Vorhaltungen der Ärzte und Tochter Beate fest, obwohl sie in ihrer Ehe mit ihm doch so harte, krisenhafte Zeiten durchgemacht hatte. Wauers Schwester hatte, genau wie er, eigentlich gar keine Zeit für die Pflege der Mutter gehabt. Mit Beruf, krankem Mann und zwei schulpflichtigen Kindern war auch sie voll ausgelastet. Und doch hatten sie diese Zeit irgendwie überstanden.

    Das spezielle Ansinnen der Schwerkranken erhöhte somit den täglichen Stress Wauers ungemein. Schließlich hatte er mit dem Aufbau seines Planungsbüros und seiner Tätigkeit im Zittauer Kreistag, noch nicht einmal zwei Jahre nach der so genannten Wiedervereinigung, einen ausgefüllten Sechzehnstunden-Tag zu absolvieren.

    Ein Jahr nach dem Anschluss, wie manche dazu sagten, der Wahl des CDU-Chefs Helmut Kohl zum gesamtdeutschen Kanzler und der Ermordung Detlev Karsten Rohwedders, hatte man im Zuge einer großen Verwaltungsreform die fünf „neuen Bundesländer" mit den dazugehörigen Landkreisen gebildet. Im Südosten der Oberlausitz war für das Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechoslowakei ein ordentlicher Kreistag gewählt worden und Martin Wauer war für die SPD dort eingezogen. Die Wahlergebnisse waren für die Ostsächsischen Sozies, noch mehr aber für die Bündnis-90-Leute, die sich mit den Grünen zusammengetan hatten, enttäuschend gewesen, genau wie bei der Bundestagswahl im Jahr zuvor.

    Im ehemaligen „Tal der Ahnungslosen", das so genannt worden war, weil es hier zu DDR-Zeiten bis auf wenige Ausnahmen keinerlei Empfang des Westfernsehens, ja sogar große Schwierigkeiten eines westlichen Radioempfangs gab, war die Ost-SPD mit ihren 13 Prozentpunkten hinter der CDU und der PDS, der Nachfolgerin der SED, weit abgeschlagen worden. Martin Wauer hatte sich verpflichtet gefühlt, mit den sozialdemokratischen Mitstreitern der Wendezeit für einen Platz im Kreistag zu kandidieren und in den Wahlkampf zu ziehen. Immerhin hatte er ja bereits einige Erfahrungen im bundesdeutschen Parlamentarismus gesammelt und eine Reihe möglicherweise nützliche Kontakte in Berlin, Bonn und Hamburg geknüpft. Vor allem der Bekanntheitsgrad seiner Eltern in seinem Heimatort hatte ihm dann jedoch die erforderlichen Wählerstimmen eingebracht.

    So hatte er, zusammen mit einigen wenigen Wendeaktivisten der Heimat, zehn Jahre in diesem denk- und merkwürdigen Gremium gesessen, welches bald in „Kreistag des Oberlausitzkreises umbenannt worden war. Gemeinsam mit einem Häuflein sozialdemokratischer „Granitschädel kämpfte er teils mit, teils gegen die weit überzähligen und cleveren Wendehälse der CDU und der zu ihnen gestoßenen Mitglieder der ehemaligen DDR-Bauernpartei um den Aufbau einer funktionierenden Demokratie; nunmehr in den so genannten „unteren Ebenen" des Staates. Nicht nur gegen diese, sondern auch gegen die angeblichen Reformer der SED-PDS hegte Wauer tiefes Misstrauen, obwohl er feststellen musste, dass er mit deren Ansichten gar nicht so selten übereinstimmte.

    Mit Hilfe seines Freundes Thomas Deutscher, des im Kreisgebiet neu gebildeten Johanniter-Hilfsdienstes und der treuen und hilfsbereiten Frau seines ehemaligen Lehrgesellen, welche gemeinsam mit seiner Mutter jahrzehntelang in der Großschönauer Kirchgemeinde die so genannte „Frauenarbeit" geleitet und im Kirchenchor gesungen hatte, konnte Wauer einen Hilfsdienst organisieren, der tagsüber, während er für seine neue Firma oder für den Kreistag unterwegs war, die Versorgung der Schwerkranken übernahm.

    Jeden Morgen, besonders aber nach Feierabend, meistens nicht vor 19:00 Uhr, sofern nicht noch Sitzungen irgendwelcher Gremien der Partei oder von Arbeitsgruppen des Kreistages stattfanden, hatte er diesen Krankendienst versehen. Früh begann es damit, dass er die Mutter regelmäßig aus ihren schwärzlichen, blutigen und stinkenden Exkrementen herausholen musste. Während er sie und das Bett säuberte, riss er alle Fenster auf, ließ frische Luft herein und anschließend versuchte er, der geschwächten Kranken etwas aufgewärmte Suppe einzuflößen, die am Tag zuvor von einer der helfenden Frauen zubereitet worden war. Danach verabreichte er ihr den verschriebenen Cocktail aus drei Tabletten und einer Kapsel, deren chemische Inhalte ihre Lebensgeister unterstützen und vor allem die furchtbaren Schmerzen lindern sollten; abends waren es sogar fünf, davon eine zur Stärkung der Herz- Kreislauf-Funktionen.

    Manchmal erschien ihm die Patientin am Abend ausgeruhter als früh. Wahrscheinlich gelang es den fürsorglichen Helferinnen des Johanniterordens besser als ihm, ihr ein wenig Nahrung und ausreichend Flüssigkeit zuzuführen. Der Freund hatte darauf hingewiesen, dass Wauer vor allem darauf achten müsse, dass die Kranke so viel wie möglich trank. Aber die Mutter war meistens nur sehr mühsam zum Trinken ihres die Heilung angeblich fördernden Kräutertees zu bewegen. Dies änderte sich merkwürdigerweise erst in der letzten Zeit, als deutlich zu merken war, dass der Sensenmann bereits vor der Türe stand. Aber besonders in jenen letzten Tagen ihres Lebens bäumte sich die Frau noch einmal gegen den Tod auf und verlangte nach mehr Nahrung und Flüssigkeit. Doch dadurch erbrach sie sich immer wieder und das Erbrochene war genauso schwarz und stinkend, wie ihre Exkremente, die trotz des Darm-Seitenausganges zusätzlich noch den Weg eines natürlichen Abgangs gefunden hatten.

    Ganz besonders stieg ihre Hoffnung auf Gesundung in den letzten Stunden ihres Lebens, obwohl die Gebete, die sie regelmäßig zusammen mit ihrer Betschwester ausführte, die Heilung ganz offensichtlich kein bisschen gefördert hatten.

    Hin und wieder hatte es einen Abend gegeben, an dem sich Wauer etwas länger mit ihr unterhalten konnte. Meistens erzählte sie ihm dann aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren oder aus den Kindertagen, als seine Schwester Beate schon auf der Welt gewesen war. Es waren zahlreiche Begebenheiten darunter, von denen Wauer entweder gar nichts wusste oder an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Über ihr eigenes Leben und Leiden jammerte sie nie. Wauer, der allmorgendlich das unaufhörliche und beängstigende Anschwellen ihres Unterleibes konstatieren musste, konnte nur annähernd ermessen, welche Schmerzen sie zu ertragen hatte. Wenn er sie danach fragte, hatte sie nur geantwortet: „Es geht schon, mein Junge, es gibt Schlimmeres."

    Doch die meiste Zeit ihrer letzten Lebenstage konnte Wauer nicht mit ihr sprechen. Da lag sie regungslos, mit grau eingefallenem Gesicht und wirren weißen Haaren in dem großen Ehebett und schien schon jenseits dieses Erdenlebens zu weilen. In jenen Stunden dachte er ernsthaft darüber nach, ob er die Herz- und Stärkungsmittel absetzen sollte, damit sie endlich sterben konnte. Aber er fand nicht den erforderlichen Mut dazu. Eine offizielle Sterbehilfe hatte es auch zu jener Zeit noch nicht gegeben.

    So dauerte ihr Leiden bis zu jenem Sonntagabend im September, an dem sie mit den Worten verschied: „Karl, bist du das?", als Martin Wauer gerade ins Zimmer getreten war.

    3.

    An jenem Tag hatten sie es der „Sippe zu erklären versucht und den Eindruck gewonnen, dass die Verwandten auch verstanden hatten, dass die beiden „Ältesten nach der Begräbnisfeier und dem Kaffeetrinken in der „Sonnebergbaude" noch einen Spaziergang allein miteinander brauchten. Auch Lothar hatte nach einem kurzen, erstaunten Blick davon abgesehen zu fragen, ob er mitkönne, nachdem er bemerkt hatte, dass die beiden Cousins alleine auf den Berg wollten.

    „Wir sind spätestens halb acht wieder hier. Ihr könntet ja mal auf den Sonneberg hinaufgehen, das macht man sonst ja nie und es ist für die Frauen nicht so schwer. Bittet den Wirt, das Abendessen etwas später zu servieren. Und kümmere dich um deine Mutter!"

    Der Sohn hatte genickt. Er war der Einzige gewesen, der am Grab der Großmutter geweint hatte. Er sah immer noch tieftraurig aus.

    Von der Gaststätte, in der Wauer Kaffee und Abendbrot für die Trauergemeinde bestellt hatte, bis hinauf zur Hubertusbaude am oberen Ende des Skihanges, benötigten sie nur fünfzehn Minuten. Von da ab stieg der nördliche Weg auf der deutschen Seite bis zum Gipfel allmählich immer mehr an, bis er hinter der Abzweigung des Wanderweges zum Weberberg in zwei größeren Kehren richtig steil nach oben führte.

    Das Wetter war klar gewesen und die Luft kühl. Es wanderte sich hervorragend an diesem schönen Herbstnachmittag. Die bereits tiefer stehende Sonne beschien allerdings die andere, tschechische Seite des Berges. Den kühlen Schatten des Nordaufstiegs empfanden sie jedoch als sehr angenehm. Wauer freute sich auf den Rundblick über das Oberlausitzer und Böhmische Land, denn der Tagesausgang verhieß eine gute Fernsicht.

    „Sie war die Letzte von den Alten, die den Krieg noch mitgemacht haben", hatte Robert nach einer Weile geäußert. Wauer bemerkte, dass der nur wenige Monate Jüngere eine deutlich bessere Kondition hatte als er. Das kam sicherlich daher, dass der Vetter mit Frau und Kindern an den Wochenenden von München aus oft in die nahen Alpen zum Wandern fuhr.

    „Ich weiß nicht mal mehr, wann deine Eltern gestorben sind."

    „Na, müssen wir uns ja auch nicht merken. Renate weiß so etwas dagegen immer. Sie hat alle diesbezüglichen Daten im Kopf, Geburtstage, Sterbetage, Hochzeitstage, alles. Jedenfalls starb unsere Mutter lange vor dem Mauerfall."

    Wauer wunderte sich, wie steinig ihm der Gipfelweg hinter der großen Abzweigung heute vorkam. So „alpin" hatte er den Lauscheaufstieg gar nicht in Erinnerung. Das letzte Mal, als er den Berg besuchte, hatte ein knackiger und schneereicher Winter geherrscht. Diesmal war der Pfad trocken, steinig und hart. Die Pflanzen und Gräser, die ihn säumten, ebenso wie die Buchen, Fichten und Birken des Bergwaldes, strahlten immer noch im satten Grün. Nur ganz winzige Anzeichen des beginnenden Herbstes waren zu bemerken gewesen.

    „Es ging alles wahnsinnig schnell."

    Wauer war sich nicht ganz sicher, was Robert meinte.

    „Ja, es scheint mir noch, als wäre es erst gestern gewesen, als ihr uns kurz nach dem Mauerfall in Berlin besucht habt", entgegnete er, angestrengt atmend, da die Kraxelei ihn ziemlich forderte.

    „Das war so irre, das waren derart intensive Tage, das werde ich niemals vergessen."

    „Geht mir genauso. Als wäre man damals ganz neu auf die Welt gekommen."

    „Seid ihr ja auch, irgendwie jedenfalls. Außerdem scheinst du ja auch noch ein neues Glück gefunden zu haben."

    „Welches Glück?" Wauer schnaufte. Diesmal nicht nur wegen der Anstrengungen des Aufstiegs.

    „Nun ja. Es war doch alles richtig, wie du es gemacht hast. Ich meine, dass du dich damals in Budapest plötzlich entschieden hast, nicht mitzukommen und mich allein nach Österreich zurückgeschickt hast. Ich hab eine Weile gebraucht, es zu verdauen. Aber du hast in allem Recht behalten. Und nun auch diese wunderbare Frau."

    „Ich glaube, so war es nicht", erwiderte Wauer, nachdem er eine Weile dazu geschwiegen hatte. Die Anspielung auf Sibylle ignorierte er lieber, denn plötzlich standen ihm die gemeinsamen Erlebnisse mit Helga bei jenem geheim geglaubten Treffen in Warschau, kurz nach den ersten Aufständen der Solidarnosz, vor Augen. Da hatten sie das erste Mal über die Möglichkeit einer Republikflucht Wauers über Ungarn gesprochen.

    „Ich hab das ´81 voll aus dem Bauch heraus entschieden. Ich kann nicht sagen, was es wirklich war. Ich hab an Helga gedacht, an Lothar, an Barbara, an Mutter. Ich weiß es nicht. Es ahnte doch wirklich niemand, dass es nur noch acht Jahre dauern würde bis zum Mauerfall. Damals glaubten wir jedenfalls überhaupt nicht daran, dass ein friedlicher Weg gefunden werden könnte, die beiden so unterschiedlichen Teile Deutschlands wieder zusammenzuführen und die Wunden des Kalten Krieges irgendwie zu heilen. Vor allem waren wir überzeugt, dass es nur unter der Bedingung der völligen Neutralität Deutschlands geschehen könne. Und jetzt? Die Russen ziehen mit ihren Armeen aus Mitteldeutschland ab, der Warschauer Pakt wird aufgelöst, die Westalliierten aber bleiben und das gesamte Deutschland wird Mitglied der NATO. Ist das positiv? Jetzt redet man sogar davon, dass eventuell Russland NATO-Mitglied werden könnte. Was sind das denn für Träume?"

    Wauer musste eine Weile stehen bleiben, denn sein Redefluss hatte ihn zu viel Luft gekostet.

    „Aber es geht dir doch jetzt richtig gut, oder? Man hört ja neuerdings die schlimmsten Geschichten vom Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie und von der Massenarbeitslosigkeit eurer Braunkohle- und Textilarbeiter. Doch den Bausektor betrifft es ja wohl nicht."

    „Ja richtig, selbst hier in der Oberlausitz ist der Wiederaufbau bereits in vollem Gange. Es war doch alles schon halb verfallen und vollkommen marode hier. Vor allem die ganze Infrastruktur und ganz besonders die Straßen und Autobahnen. Dieser so genannte ‚Investitionsrückstau‘ ist wirklich gewaltig. Straßen-, Abwasser- und Eigenheimbau, das gesamte Bauwesen boomt jetzt unglaublich. Überall werden auch die heruntergekommenen öffentlichen Gebäude renoviert, restauriert und rekonstruiert, dass es eine Freude ist. Das alles ist ein Glücksfall für meine neue Firma und ich weiß mich vor Aufträgen gar nicht zu retten. Ich bin im Begriff, Einkommensmillionär zu werden. Und wenn wir gerade dabei sind: Wieviel schulde ich Dir überhaupt noch? Ich wäre, glaube ich, bald in der Lage, es Dir zurückzuzahlen."

    „Du schuldest mir überhaupt nichts. Schließlich haben wir im Westen unverdientermaßen vierzig Jahre in Freiheit und Wohlstand leben können, während ihr euch mit eurer merkwürdigen sozialistischen Planwirtschaft und den Reparationen an die Sowjetunion herumschlagen musstet. Ich denke, das war dann nur ein kleiner Solidaritätsbeitrag, den ich leisten konnte."

    „Na ja, ‚unverdienter Maßen‘ war es ja wohl in der Bundesrepublik für die arbeitenden Menschen auch nicht gerade. Die Schufterei nach dem Krieg war im Westen vor allem für die kleinen Leute horrende, wenn man den ganzen Wiederaufbau, angefangen bei der Trümmerbeseitigung bis zur Maloche in den Betrieben in Betracht zieht. Ich hab einige von Wallraffs Reportagen gelesen. Es ging ja auch nicht nur um ostdeutsche Städte, wie Dresden, Leipzig, Plauen, Chemnitz oder Berlin. Hamburg, Köln, Frankfurt am Main, Nürnberg, München und so weiter, haben die Alliierten genauso platt gemacht. Wir müssen also trotzdem nochmal darüber reden."

    „Nein, müssen wir nicht! Darüber sollten wir nie mehr reden! Es gibt Wichtigeres in diesen Tagen. Zum Beispiel diese merkwürdige Treuhandpolitik, die soviel Unruhe unter der ostdeutschen Bevölkerung verursacht, meinte Robert nach einer kleinen Pause. „Denkst du wirklich, dass ihr jetzt das große Los gewonnen habt mit dieser Wiedervereinigung?

    „Ja, wegen der verdiene ich derzeit so gut, während tausende andere ihre Arbeit verlieren. Überall in den Kommunen errichten sie jetzt auf der grünen Wiese diese neuen Gewerbegebiete. Natürlich ist das ziemlicher Unsinn, denn es gibt eigentlich genug stillgelegte Fabrikviertel. Unser Gewerbe hier im Osten, Textilindustrie, Braunkohle, Waggonbau usw., bricht wegen der schnellen D-Mark-Einführung gerade völlig in sich zusammen. Aber weil es für Neuerschließungen so unglaublich viele ‚Fördermittel‘ gibt, reißen sich die Kommunen natürlich unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte darum, als förderwürdig zu gelten und die Zuschläge für die Gestaltung ihrer neuen ‚Gewerbegebiete‘ auf der grünen Wiese zu bekommen. Man staunt bloß, welche produktive Kraft dieses Gesamtdeutschland dabei entwickelt. Und was die Freiheiten betrifft, dagegen möchte ich weder die stalinschen noch die honeckerschen Zeiten wiederhaben."

    „Und welche Rolle spielst du jetzt in eurem Kreistag?"

    „Na ja, ich kriege über die dortigen Bekanntschaften einen Teil der Planungsaufträge. Über diese Schiene kommen eben einige Leute auf mich zu, besonders Wohlhabende aus dem Westen, die aufgrund der Steuersparmodelle, die die Bonner Regierung aufgelegt hat, hier investieren wollen. Sie haben zum Beispiel in Görlitz ganze Straßenzüge aufgekauft und fangen an, sie von Grund auf zu sanieren, einschließlich aller Medien und der maroden Abwassersysteme. Auf diese Weise wird endlich unser Wohnungsproblem gelöst. Tiefbau war schon in ‚Schwarze Pumpe‘ mein Metier. Jetzt ist es eine einträgliche deutsch-deutsche Zusammenarbeit."

    „Ist doch prima oder?"

    „Vielleicht ist das der wahre Grund, weswegen die Russen dem Abzug zugestimmt haben. Hier war fast alles Schrott und lag darnieder. Für sie war am Ende nichts mehr zu holen."

    Mittlerweile waren sie auf dem Gipfelplateau angekommen. Hier hatte sich seit Wauers letztem Besuch nichts verändert. Bis jetzt war glücklicherweise noch niemand auf den Gedanken gekommen, auf den Grundmauern der abgebrannten und inzwischen längst zerfallenen ehemaligen Lauschegaststätte eine neue Bergbaude zu errichten.

    Wie Wauer es erwartet hatte, gab es eine wunderbar klare Rundsicht von diesem höchsten südöstlichen Gipfel der neuen gesamtdeutschen Republik. Ringsum lag das weite Land: Böhmen im Süden mit seinen vulkanischen Magmagipfeln, die ostsächsischen Berge im Norden, mit ihren bewaldeten Kämmen, die die Wasserscheiden des Oberlausitzer Landes der Flüsse zwischen Ostsee und Nordsee bildeten. Auf den Bergrücken im Osten dagegen waren die Verheerungen der Nadelwälder durch die Abgase der tschechischen Industrie unübersehbar. Es war kurz nach sechs und die Sonne stand tief und rot über den westlichen Bergkämmen. Die Dämmerung hatte sich angeschickt, die Nacht herbeizurufen.

    Plötzlich lagen sich beiden Vettern in den Armen. Wauer wähnte, in den Augen Roberts Tränen gesehen zu haben. Auch er war sich der Einmaligkeit dieses Momentes bewusst gewesen: Dieser Punkt der Erde, an dem sie sich befanden, würde, wenn nicht ewig, aber doch noch sehr lange bestehen, während sie beide, die bereits über den Zenit ihres Lebens hinaus waren, mit etwas Glück vielleicht noch drei Jahrzehnte vor sich hatten. Es war ziemlich ungewiss, dass sie noch einmal zusammen hier oben stehen würden. Das hatten die beiden Männer damals instinktiv gefühlt.

    „Man müsste in die Zukunft schauen können, dann könnte man vielleicht sinnvollere Entscheidungen treffen", meinte Robert.

    „Du weißt, dass das Mist wäre!"

    „Ja, aber bei dir habe ich manchmal das Gefühl, dass du es kannst. Damals, bei unserem Treffen in Prag war es, glaube ich, hast du jedenfalls gemeint, dass es durchaus so weit kommen könne, dass die Russen an der Lösung der deutschen Frage einmal ein größeres Interesse bekämen. Am meisten hat mich der Satz beeindruckt, den du von deinem Vater zitiert hast: ‚Im Osten geht die Sonne auf und im Westen ist ihr Untergang vorbereitet‘."

    „Das hatte er angeblich von seinem Geschichtslehrer. Der hatte aber meines Erachtens China damit gemeint. Dass sie in Form von Glasnost und Perestrojka aufgehen würde, habe ich damals beim besten Willen nicht ahnen können. Nee, ich analysiere nur, möglichst ohne meine Wunschvorstellungen dominieren zu lassen. Da kommen manchmal merkwürdige Dinge heraus."

    Die beiden genossen ein Weile die weite Aussicht. Niemand außer ihnen war noch an diesem Nachmittag heraufgekommen.

    „Denkst du nicht, dass der Untergang der Kernindustrie, besonders der Braunkohlenförderung, eure Heimat auf Jahrzehnte zu einer armen Region machen wird?"

    „Das hat uns Oskar Lafontaine schon voriges Jahr in einigen Nachtdiskussionen eindringlich nahe gebracht. Aber das ist wohl unvermeidlich. Übrigens hält die Abwanderung

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