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Geld Sorgen
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eBook513 Seiten6 Stunden

Geld Sorgen

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Über dieses E-Book

Frauke, abgebrochene Psychologie-Studentin, findet im Keller ihrer kürzlich verstorbenen Eltern eine halbe Million Euro. Wo kommt dieses Geld her? Dann verschwinden ihr Schwager und der Arzt, für den sie putzt, spurlos - im Haus deutet alles auf ein Blutbad hin. Ihr bester Freund Malte, forensischer Pathologe, findet, dass die Phantasie mit ihr durchgeht - bis eine männliche Leiche gefunden wird… Frauke und Malte werden zu Detektiven wider Willen, doch ohne die genaue Beobachtungsgabe des Autisten Adam Pröll würden weder sie noch die Kripo die richtigen Schlüsse ziehen…
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Jan. 2016
ISBN9783738057393
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    Buchvorschau

    Geld Sorgen - Bettina Marloth

    Kapitel 1

    Geld Sorgen

    Roman von Bettina Marloth

    Frauke Benning sah der jungen Bedienung an der Kaffeemaschine zu, die routiniert zwei Latte Macchiato zubereitete. An ihrem Lieblingstisch in dem kleinen Café saß eine Schülergruppe, so stand sie unschlüssig vor der Kuchentheke, die von der Chefin gerade mit frischen Croissants bestückt wurde. Es war zehn nach acht; so früh war sie sonst nie hier.

    Sie konnte es immer noch nicht glauben.

    Ihre Eltern hatten Geld versteckt. Viel Geld.

    Es waren hunderte von Zweihundert-Euro-Scheinen.

    Ein paar hundert tausend Euro.

    Im Keller.

    Sie hatte nur ein Glas Erdbeermarmelade hochholen wollen. Außerdem wollte sie prüfen, ob es einen Vorrat an Kartoffeln gab, um den sie sich kümmern musste. In dem Schrankfach, in dem die Mutter die Einmachgläser normalerweise aufbewahrte, war jedoch kein einziges Marmeladenglas zu finden gewesen. Dafür Plastiktüten mit Geld.

    Mit zitternden Fingern hatte sie den restlichen Schrank durchsucht. In der riesigen Schublade entdeckte sie Fünfzig-Euro-Scheine, Bündel neben Bündel.

    Während sie benommen dachte: ‚Die Scheine sind funkelnagelneu’, war Getrappel im Treppenhaus zu hören gewesen. Die Kinder der Nachbarin riefen sich lautstark etwas zu - sie brachen zur Schule auf.

    Sie wollte die Schublade schnell zuschieben, aber sie hatte sich verkantet und ließ sich nicht ohne weiteres schließen. Wenn jetzt einer der Eigentümer in den Keller kam! In ihrem Schrecken wandte sie mehr Kraft auf, als nötig war; plötzlich schnellte der Kasten nach hinten und sie konnte gerade noch die Hand wegziehen.

    Studentin findet Beute und büßt drei Finger ein…

    So schnell sie konnte, hatte sie alles wieder hergestellt, wie es gewesen war, die Kellertür abgeschlossen und war weggerannt.

    Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

    Sie wusste nicht, wie sie zum Café gekommen war. Gelaufen natürlich, aber sie hatte keine Erinnerung daran. Ihr Kopf war leer. Außer dass sie ununterbrochen dachte: Das gibt es nicht.

    Endlich suchte sie sich einen Platz am Fenster und ließ sich einen großen Kaffee bringen. Sie nahm einen Schluck und verbrannte sich den Gaumen.

    Hastig setzte sie die Tasse auf dem Untersetzer ab.

    Es reichte jetzt mit den Überraschungen!

    Vor knapp vier Wochen, als sie begonnen hatte, den Nachlass ihrer Eltern zu regeln, hatte sie herausgefunden, dass ihr Vater sie jahrelang belogen hatte. Sie und ihre beiden Geschwister.

    Er hatte behauptet, dass er kurz entschlossen in den Vorruhestand gegangen war. Besonderes Angebot für langjährige Mitarbeiter und so weiter. In Wirklichkeit hatte sein Betrieb ihn entlassen, bereits zwei Jahre vor dem angeblichen Ruhestand. Auf seinem Gehaltskonto war keine Rente eingegangen, sondern Arbeitslosengeld. Die Fixkosten für die Eigentumswohnung - Strom, Heizung, Rücklagenbildung - waren weiterhin von dem Girokonto abgegangen, aber sonst fast nichts. Keine Abbuchungen von Geschäften oder Tankstellen. Keine Auszahlung, um die Haushaltskosten zu bestreiten.

    Immer wieder hatte sie im Aktenschrank des Vaters nach Unterlagen gesucht, die sie vielleicht übersehen hatte. Aber da war nichts.

    Jetzt wurde ihr klar, warum. Ihr Vater hatte im Keller ein Vermögen versteckt und davon gelebt.

    Aber wo zum Teufel kam das Geld her?

    Jetzt verstand sie auch, warum ihr Vater darauf bestanden hatte, ihr den Unterhalt in bar auszubezahlen. Wie sehr hatte er sie damit genervt!

    Sie hatte gedacht: ‚Er will mich zwingen, dass ich zu Hause auftauche’.

    Sie wollte, dass er ihr das Geld überwies. Aber das hatte er kategorisch abgelehnt. Sie hatte offenbar ihr Studium von den Scheinen im Keller bestritten. Es war unglaublich.

    Sie musste das jemandem erzählen. Sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte. Wo kam dieser Reichtum her, wie viel war es überhaupt und - was sollte sie damit machen?

    Sie blickte unwillkürlich zu den anderen Tischen im Café - wurde sie beobachtet? Hatte sie jemand verfolgt?

    Legal konnte ihr Vater nicht an das Geld gekommen sein. Obwohl … eine Zeitlang hatte er Lotto gespielt und damit den Spott seiner wenigen Freunde geerntet. Wann war das gewesen? So ungefähr vor zwei oder drei Jahren. Er hatte aber nach ein paar Wochen wieder aufgehört.

    Millionär verheimlicht seiner Familie Lottogewinn …

    Nein. Ein Gewinn im Lotto war dermaßen unwahrscheinlich - und wenn es einer war, wieso hatte er nichts davon erzählt?

    Weil Christoph und Juliane dann auf der Matte gestanden hätten, um Geld zu schnorren!

    Das war auch der Grund, warum sie ihre Geschwister nicht einweihen würde. Christoph konnte nicht mit Geld umgehen und Juliane sehnte sich nach einem luxuriösen Leben; mit zwei kleinen Kindern und einem Ehemann, der sich gerade selbständig gemacht hatte, konnte sie diesen Wunsch allerdings begraben.

    Sie musste darüber nachdenken, was zu tun war. Womöglich gehörte das Geld jemandem, der demnächst vor der Tür stand, um es zurückzufordern. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es nicht ein Gewinn war.

    Sie glaubte einfach nicht, dass ihr Vater das für sich behalten hätte.

    Frauke zog ihr Handy aus der Jackentasche und schickte eine SMS an ihre Freundin Maren.

    Kannst du auch schon früher? Es ist etwas passiert."

    Sie waren ohnehin verabredet, um Marens Umzug zu besprechen. Frauke konnte sich ihre kleine Wohnung nicht mehr leisten, da die Unterstützung durch ihren Vater weggefallen war. Maren ihrerseits wollte von ihren übergriffigen Eltern weg und war willens, Untermieterin in dem Apartment zu werden.

    Frauke musste in die Eigentumswohnung der Eltern ziehen, bis diese verkauft und der Erlös unter den Geschwistern aufgeteilt war. Anstatt Miete zu bezahlen, würde sie die Wohnungsauflösung alleine auf sich nehmen.

    Sie drückte auf SENDEN und winkte der Bedienung.

    Kapitel 2

    Frauke stellte den Wasserkocher an und holte Teebeutel und Becher aus dem Regal. Die Einbauküche mit den dunkelblauen Schranktüren war das Beste an der ganzen Wohnung. Sie war so gut geplant, dass auch noch Platz für einen Tisch und drei Stühle da war.

    Als sie noch studiert hatte, konnte sie sich mit der Lerngruppe in die Küche setzen, wenn das Wohn-/Arbeits-/Schlafzimmer nicht aufgeräumt war. Aber das war selten der Fall gewesen. Sie liebte Ordnung. Ihre Schwester hatte einmal gefragt:

    „Studierst du eigentlich Psychologie, um zu erfahren, wo deine Zwanghaftigkeit herkommt?"

    Viele Menschen dachten, dass man im Studium alles über sich selbst erfuhr. Und über die anderen auch. Dass man im Anschluss daran jeden analysieren konnte. Das war natürlich Quatsch, aber es schadete manchmal nicht, Leute in diesem Glauben zu belassen.

    Einer der Dozenten - er war Psychiater - hatte einmal nach der Vorlesung vom Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff erzählt. Ein Mitreisender offenbarte sich als Pfarrer und bekam daraufhin von den anderen am Tisch dargelegt, warum sie aus der Kirche ausgetreten waren. Eine Medizinerin beging den Fehler, nicht auszuweichen, als sie ihren Beruf nennen sollte und wurde den Rest der Zeit über die Hüftprobleme, Blutdruckschwankungen und Arteriosklerosen ihrer Tischgenossen informiert - dabei war sie Augenärztin. Er selbst brauchte, nachdem er seinen Beruf preisgegeben hatte, seine Mitreisenden nur mit ernstem Gesichtsausdruck zu fixieren und schon wurde er in Ruhe gelassen.

    Nein, das Studium war vielseitig und interessant, aber es hatte erschreckend viel mit Statistik zu tun. Erschreckend zumindest für eine wie sie, die ihre Mathelehrer so wenig wie möglich belästigt hatte.

    Natürlich beschäftigte man sich auch mit seiner eigenen Biografie. Als sie die frühkindlichen Entwicklungsphasen durchnahmen, hatte sie ihre Mutter gelöchert, in welchem Alter sie sitzen konnte, wann sie zu krabbeln und zu sprechen angefangen hatte. Nur dass ihre Mutter leider die drei Kinder nicht mehr auseinanderhalten konnte.

    War das jetzt bei dir so, oder bei den Zwillingen? Ach, ich weiß es nicht mehr, Kind.

    Das Studium hatte sie abgebrochen. Das heißt, offiziell hatte sie ein Urlaubssemester. Die Sachbearbeiterin im Sekretariat hatte angesichts des plötzlichen Tods beider Eltern Verständnis. Zusammen mit der Krankschreibung durch ihren Hausarzt war es kein Problem gewesen, eine Auszeit bewilligt zu bekommen.

    Jeder hatte Verständnis. Jeder sagte:

    „Oh, wie furchtbar für dich! Wenn ich irgendwas für dich tun kann…"

    Aber zwei oder drei Wochen später dachte niemand mehr daran. Für alle ging das Leben weiter. Keiner fragte nach, welche Hilfe sie benötigte.

    Um fair zu sein: Ihre beiden Freundinnen Tilly und Paula wären bestimmt für sie dagewesen, aber beide hatten gerade den Studienort gewechselt. Tilly war nach für ein Jahr nach England gegangen, Paula nach Heidelberg. Das war Pech für Frauke; ein extrem ungünstiger Zeitpunkt für die Trennung von ihren besten Freundinnen.

    So blieben ihr Maren und Malte, die sie von früher kannte. Sie hätte nicht gedacht, dass gerade diese beiden so viel helfen würden. Aber zum Glück war es so.

    Durch das Küchenfenster sah sie Maren die Treppe herunterkommen, die zum Eingang der Einliegerwohnung führte. Sie öffnete die Haustür.

    Maren Kettler, 26, war nicht direkt dick, aber gut gepolstert. Sie hatte ausdrucksvolle braune Augen in einem ansonsten unscheinbaren, freundlichen Gesicht.

    Sie umarmte Frauke fest und fragte, während sie sich die Jacke auszog:

    „Was ist passiert?"

    „Meine Eltern haben einen Haufen Geld im Keller versteckt."

    Maren sah ihre Freundin verblüfft an.

    „Was meinst du damit: einen Haufen Geld? Wie viel?"

    „Keine Ahnung. Ich habe es nicht gezählt. Aber es waren viele Bündel von Fünfzigern und Zweihundertern. Und frag’ mich bitte nicht, wo es herkommt."

    „Krass."

    Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Maren sah, dass das Wandregal schon leergeräumt war. Ein paar Kisten standen abholbereit daneben. Wenn Frauke einen Entschluss gefasst hatte, zog sie die Sache durch. Maren selbst war eher zögerlich, wenn es um Veränderungen in ihrem Leben ging. Aber dass sie bei ihren Eltern endlich ausziehen musste, das hatte sogar sie begriffen.

    Frauke erzählte von dem alten Schrank im Keller. Und vom Arbeitslosengeld, das bis vor vier Wochen auf Kurt Bennings Konto eingegangen war.

    „Ich dachte, dein Vater ist in Frührente gegangen, um deine Mutter pflegen zu können?" fragte Maren erstaunt.

    „Das hat er behauptet. Und er hat sich ja auch wirklich um Mutter gekümmert, das muss ich zugeben. Aber er ist entlassen worden, Maren. Und dass er weniger zur Verfügung hatte, ist nur deshalb nicht aufgeflogen, weil er es mit dem Geld im Keller ausgeglichen hat."

    „Und du hast keine Ahnung, wo das Geld herkommt?"

    „Nicht die Geringste. Was soll ich denn jetzt machen?"

    „Das Geld zählen sagte Maren pragmatisch. „Und dann den Haushalt deiner Eltern weiter auflösen. Vielleicht findet sich ein Hinweis. Ich sehe jedenfalls nicht, warum du schnell eine Entscheidung treffen musst. Das Geld liegt seit Jahren da rum, oder?

    „Ich glaube schon." Frauke lehnte sich auf dem Sofa zurück.

    Hatte Maren Recht? Bestand überhaupt kein Grund, Angst zu haben?

    „Also gut sagte sie. „Ich verdiene bei Dr. Bender genug, um meine Brötchen zu kaufen. Ich werde so schnell wie möglich die Wohnung leerräumen. Kann ich das Geld vielleicht hierher bringen?

    Maren sah sich in dem kleinen Wohnzimmer um und zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Ich werde zur Mitwisserin und wir sitzen dann beide unsere Haftstrafe ab, nachdem sich herausgestellt hat, dass dein Vater eine Bank überfallen, Geiseln genommen und 500 000 Euro erbeutet hatte."

    Frauke lächelte gequält. „Darüber kann ich erst lachen, wenn ich weiß, dass es nicht so war."

    „Frauke, das ist Unsinn! sagte Maren entschieden. „Ich will dir nicht zu nahe treten, weil es sich um deinen Vater handelt und so weiter. Aber er war ja nicht gerade ein Bündel an Energie, was Eigeninitiative betrifft. Das hast du selbst gesagt.

    Fraukes Mine verschloss sich.

    „Jedenfalls hat er alles laufen lassen, anstatt Hilfe zu organisieren. Außerdem war er autoritär. Das hat ihm erspart, sich mit uns auseinandersetzen zu müssen."

    „Eben. Maren nahm sich zwei Schokoladenkekse von dem Teller auf dem niedrigen Couchtisch. „Mach nicht so ein düsteres Gesicht. Es kann nicht schaden, etwas Geld im Haus zu haben.

    Frauke musste lachen. Etwas Geld.

    Dann wurde sie wieder ernst.

    „Du bist gut! Ich habe mich auf dem Weg hierher bereits verfolgt gefühlt. Was glaubst du, wie ich heute Nacht schlafe?"

    „Ganz normal wirst du schlafen. Weil nämlich kein Mensch weiß, dass das Geld da ist."

    Frauke war dankbar für Marens unkomplizierte Art, die Dinge zu betrachten. Dafür, dass das Geld vielleicht von einer Straftat herrührte, war Maren bemerkenswert gelassen.

    „Wissen Juliane und Christoph schon davon?"

    Als sie Fraukes Blick sah, verbesserte sie sich schnell:

    „Natürlich nicht, sorry! Ich an deiner Stelle würde es ihnen auch nicht gleich erzählen."

    Frauke gefiel der Gedanke nicht, Heimlichkeiten zu haben, aber sie hatte zu ihren Geschwistern kein gutes Verhältnis, wenn man es freundlich ausdrücken wollte. Sie konnte sich im Moment nicht vorstellen, ihnen überhaupt von dem Fund zu erzählen.

    „Ich glaube, du hast Recht. Ich löse jetzt erst einmal die Wohnung auf, dann sehe ich weiter."

    Die beiden Frauen besprachen, wann Maren mit ihren Kisten einziehen konnte. Die Möbel konnte sie von Frauke erst einmal übernehmen.

    Kapitel 3

    Der Job bei Dr. Bender war ideal für Frauke. Er besaß ein altes, teuer saniertes Haus auf dem Deutschherrenberg in Wetzlar. Er lebte als Single, arbeitete viel und brauchte jemanden, der das Haus in Schuss hielt. Jemand, der keine unnötigen Fragen stellte und selbständig Entscheidungen traf.

    Frauke wiederum arbeitete gerne alleine. Ihr Schulfreund, Malte Hollweg, hatte sie an Bender vermittelt. Die Männer kannten sich, weil beide Mitglied im Rotary Club waren. Sie hatten als Ärzte denkbar verschiedene Arbeitsgebiete - Malte war Pathologe und Bender Plastischer Chirurg - so dass sie sich im Berufsalltag nicht über den Weg liefen. Zumindest hoffte Frauke, dass von Dr. Benders Patienten normalerweise keiner in der Pathologie landete.

    Dr. Benders erste Sätze zu ihr waren gewesen:

    „Ich suche eine Fachfrau für Oberflächen, die nicht dauernd etwas von mir wissen will. Sind Sie geeignet für den Job?"

    Sie hatte geantwortet: „Ich bin Ordnungsexpertin und ich liebe Sauberkeit. Ein paar Leute finden das schräg."

    Er hatte sie eingestellt. Er war bereit, sie bei der Sozialversicherung anzumelden, sie vereinbarten eine Probezeit und dann bekam sie bereits die beiden Hausschlüssel ausgehändigt. Das hatte ihr gefallen.

    Als er am Ende ihres zweiten Arbeitseinsatzes nach Hause kam, erklärte sie ihm, dass er in bessere Ausrüstung investieren müsse.

    Was gegen den Wisch-Mopp einzuwenden sei, hatte er gefragt.

    „Für das Parkett brauche ich einen Wischer, der mit ganz wenig Wasser auskommt. Wasser schadet dem Holz, auch wenn es versiegelt ist. Für die Fliesen braucht man mehr Wasser und deshalb ein anderes Gerät. Ich …"

    Bender winkte ab.

    „Keine Details. Wie viel Geld brauchen Sie?"

    „Hundertachtzig Euro, mehr oder weniger."

    Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er einen Zweihundert-Euro-Schein aus dem Portemonnaie genommen.

    „Restgeld und Quittung auf meinen Schreibtisch, bitte."

    Das war’s. Er ließ sie dreimal die Woche ins Haus kommen. Auch die Erledigung der Wäsche war ihr Job.

    Frauke hatte gespült und stellte in Benders Küche mechanisch alles hoch auf den Tisch, was beweglich war. Biomüll, Restmüll, Glasmüll, Barhocker. Sie fing an zu kehren und dachte über ihre Eltern und über ihre Wohnsituation nach.

    Als Kurt und Gundula Benning die Kohlenmonoxid-Vergiftung erlitten hatten, waren sie in der Küche gewesen. Das Gas war aus der schadhaften Gastherme ausgetreten. Frauke unterdrückte die Erinnerung daran, wie sie ihre Eltern aufgefunden hatte.

    Sie dachte daran, wie sie händeringend vor dem Telefon im Schlafzimmer gestanden hatte, weil sie nicht wusste, ob sie den Notarzt, die Feuerwehr oder die Polizei anrufen sollte. Dann fragte sie sich, ob sie die Fenster öffnen musste, wegen des Gases.

    Gleich darauf hatte sie - ohne Fenster zu öffnen - in Panik die Wohnung verlassen, weil ihr eingefallen war, dass sie selbst auch in Gefahr sein könnte.

    Dass ihre Eltern eine Gasvergiftung erlitten hatten, das war ihr merkwürdigerweise sofort klar gewesen. Ihr kam der Gedanke, dass sie das Telefon vielleicht nicht benutzen durfte, wegen Funkenschlags und Explosionsgefahr. Sie war panisch weggerannt und hatte von ihrem Handy aus Malte angerufen, der zum Glück erreichbar gewesen war.

    Malte hatte mit tiefer, ruhiger Stimme zu ihr gesagt, dass sie vor dem Haus bleiben und die Polizei anrufen solle, die würden alles andere veranlassen. Und er wäre gleich da. Er hatte so viel Sicherheit ausgestrahlt, dass sie sich beruhigte.

    Sie hatte dann nicht nur die Polizei, sondern auch ihre Geschwister alarmiert. Sie mussten stundenlang erst in einem Polizeibus und dann in einer nahegelegenen Schule warten. Die Feuerwehr evakuierte vorsichtshalber die anderen Hausbewohner und beorderte einen Spezialisten zum Unglücksort. Ein Arzt kam, füllte die Todesfeststellung aus - Todesursache unbekannt - und verschwand wieder.

    Die Beamten forderten sie schließlich auf, einen Bestatter zu benachrichtigen, der die Leichen in die Gerichtsmedizin bringen musste.

    Als sie endlich wieder in die Wohnung hineindurften, waren alle drei Geschwister mit den Nerven fertig. Frauke hatte Kopf- und Gliederschmerzen. Juliane hatte sie plötzlich in den Arm genommen, und Christoph hatte beiden die Hand auf die Schulter gelegt.

    Weder vorher noch danach hatten sich die Geschwister jemals so viel Nähe gezeigt. Warum hatte es nicht immer so zwischen ihnen sein können?

    Am liebsten hätte sie die Küche der Eltern danach nie wieder betreten. Aber das ging nicht; schon gar nicht, nachdem feststand, dass sie für ein paar Monate dort leben würde.

    Also hatte sie einen Tag später alles weggeschmissen, was dort an Lebensmitteln gelagert war. Dann hatte sie die Küche umgeräumt.

    Den hässlichen Schrank hatte sie auseinandergeschraubt und in den Flur befördert, das Geschirr mit dem furchtbaren Muster in einen Wäschekorb gelegt. Nach und nach bemerkte sie, in welchem Zustand die Küche - ja, die ganze Wohnung - war. Alle Pfannen waren völlig verkratzt, die Beschichtung nicht mehr zu sehen. Die Schubladen waren voller Krimkrams.

    Normalerweise hätte sie alles ungesehen in den Mülleimer gekippt, aber es waren auch Quittungen dabei, die wichtig zu sein schienen. Sie fand einen Schal ihres Vaters in der Backofenschublade, Schuhputzcreme im Kühlschrank. Ihr ging auf, dass die Demenz der Mutter weiter fortgeschritten gewesen war, als sie geglaubt hatte.

    Als sie einmal auf die Uhr schaute, war es 5 Uhr morgens gewesen. Sie hatte die ganze Nacht durchgearbeitet. Sie erlaubte sich ein paar Stunden Schlaf und reinigte dann die Küche: die Schränke innen und außen, den Boden und sogar die Fenster.

    Danach ging es ihr etwas besser. Trotzdem brauchte sie in dieser staubigen Wohnung wenigstens einen Raum, in den sie sich zurückziehen konnte. Der nicht vollgestellt war mit Möbeln und Kram.

    Malte und Maren hatten ihr geholfen, das kleinste Zimmer komplett zu leeren. Die Möbel wurden auf die anderen Zimmer verteilt und Malte verpasste dem kleinen Raum einen frischen Anstrich. So ruhig und unaufdringlich er war, aber er konnte organisieren. Das war am Tag vor der Beerdigung gewesen.

    Ihre Schwester hatte den Kopf geschüttelt, als sie das leere Zimmer sah. „Du spinnst! Das lohnt sich doch überhaupt nicht. Warum machst du dir soviel Arbeit - mit einem Raum, in dem du sowieso nur schläfst?"

    Christoph hatte zu seiner Zwillingsschwester bemerkt: „Du kennst sie doch. Frauke und ihr Ordnungsfimmel."

    Das war ihr allerdings egal. Es war ihr schon immer egal gewesen, wenn ihre Geschwister sie stur fanden, oder ihr vorwarfen, sie sei eine Spielverderberin. Sie hatte es sich schließlich nicht ausgesucht, die Verantwortung für die Zwillinge zu haben. Sie hätte lieber mit ihren Klassenkameraden rumgehangen, statt auf die Teenager aufzupassen, ihnen Essen zu kochen und darauf zu achten, dass sie ihre Hausaufgaben machten.

    Die Mutter kam gegen Christoph und Juliane nicht an. Als die beiden in der Pubertät waren, schob sie ihr schwaches Herz vor und kümmerte sich um nichts mehr.

    Frauke ließ warmes Wasser in den Eimer ein. Sie betätigte den Hebel, der den Wischer auswrang, mit mehr Druck, als nötig gewesen wäre und begann systematisch, den gefliesten Bereich des Erdgeschosses zu wischen. Bahn für Bahn glänzte von der Feuchtigkeit des Wischwassers und lag anschließend makellos vor ihr. Gut.

    Etwas sauber zu machen, eine Ordnung herzustellen - das war ihr persönlicher Beitrag im Kampf gegen das Chaos im Universum. Sie wusste, dass es der Versuch war, Kontrolle zu haben über die Dinge, über das Leben selbst. Sie wusste auch, dass es in Wirklichkeit keine Kontrolle gab. Es konnte jederzeit etwas geschehen, was einem den Boden unter den Füßen wegzog. Sie hatte es ja erlebt.

    Immerhin funktionierte die Strategie, wenn sie sich selbst beruhigen wollte. Andere hörten laute Musik oder bewegten stundenlang ihre Daumen über das Handy-Display, sie putzte eben. Es gelang ihr meistens, diese Eigenart als Ressource anzusehen, auch wenn manche Kommilitonen es schräg fanden und so taten, als hätte sie ein Handicap, nur weil ihre Küche aufgeräumt war.

    Was wirkliche Handicaps waren, das hatte Frauke in dem zwölfwöchigen Praktikum mitbekommen, das sie in der Psychiatrie absolviert hatte. Sie hätte auch in eine Psychologische Praxis gehen können, aber die Psychiatrie hatte sie mehr interessiert.

    Die Patienten hatten sie tief beeindruckt. Vor allem die Schicksale zweier Patienten mit einer Psychose waren ihr noch lange nachgegangen.

    Was sie leisteten, um mit ihrem Schicksal fertig zu werden! Wie schwer es für sie war, Einsicht in die Erkrankung zu haben und die Medikamente kontinuierlich zu nehmen. Wie begabt einer von ihnen gewesen war, der sich aber damit abfinden musste, in einer Werkstatt für Behinderte zu arbeiten, weil er nicht belastbar war.

    Sie hatte festgestellt, dass die Patienten sie nicht verunsicherten. Sie machten ihr keine Angst, auch wenn sie noch so durch den Wind waren. Im Gegenteil, Frauke war gerne mit ihnen zusammen.

    Das Behandlungsteam hatte ihr bescheinigt, dass sie eine Begabung hatte, auf Patienten einzugehen.

    Die Sache mit ihren Eltern war ausgerechnet am Ende des fünften Semesters passiert. Gerade, als sie die Gewissheit erlangt hatte, dass Psychologie das richtige Fach war. Gerade, als sie anfing, Ideen für das Thema der Bachelor-Arbeit zu sammeln!

    Frauke goss das Putzwasser in die Küchenspüle. Sie haderte mit ihrem Schicksal. Sie wusste, dass sie sich in Selbstmitleid erging. Aber wie sollte sie die kommenden Wochen überstehen, wenn sie sich nicht einmal selbst Leid tun durfte?

    Ein Prof an der Uni hatte vor vier Wochen zu ihr gesagt: „Eine Katastrophe kommt immer unpassend. Sie können sich nicht aussuchen, ob Sie sich dem stellen - das müssen Sie. Sie können nur steuern, wie Sie damit umgehen." Er hatte ihr Hilfe angeboten. Bei der Erinnerung daran wurden ihre Augen feucht. Sie hatte nicht vor, das Angebot anzunehmen, aber alleine die Möglichkeit, ihn anzurufen, hatte ihr über die ersten Wochen geholfen.

    Während die Fliesen trockneten, begann sie im ersten Stock das Bad zu putzen. Am Waschbecken konnte man ablesen, dass Bender Arzt war. Es war selbst im benutzten Zustand sauberer, als es das Waschbecken in der Marburger WG jemals gewesen war.

    Marburg. Das Theologiestudium.

    Wenn sie wenigstens gleich mit Psychologie angefangen hätte! Aber sie hatte zwei Jahre verloren. Eine Erfahrung des Scheiterns, auf die sie gerne verzichtet hätte. Ihre Eltern hatten ihr auch nicht gerade auf die Schulter geklopft.

    Das einzig Gute daran war, dass sie im Theologiestudium Maren kennengelernt hatte. Auch Maren hatte abgebrochen, aber sie konnte wenigstens ein paar Scheine anrechnen lassen, als sie mit Gemeindepädagogik weiter machte.

    Sie musste, wenn sie hier fertig war, zurück in die Wohnung ihrer Eltern. Alles in ihr sträubte sich dagegen, die vier Zimmer mit den Möbeln aus den 60iger Jahren, dem Nippes und den Akten, die durchgesehen werden mussten, zu betreten. Aber es half nichts. Sie suchte immer noch nach einem Hinweis, wo das Geld hergekommen war.

    Immer, wenn es ihr zu viel wurde, dann legte sie sich in dem kleinen, frisch renovierten Zimmer auf ihr Bett und hörte Vincent McMorrow. Sie hatte außer dem Bett nur ein Bücheregal, einen Tisch, ihren Schreibtischstuhl sowie einen kleinen roten Teppich in das Zimmer gebracht. Dort war ihre Zuflucht.

    Kapitel 4

    Andree Gehring schaute auf die Uhr und ärgerte sich, dass er vergessen hatte, gleich als erstes die Kaffeemaschine einzuschalten. Jetzt würde die Zeit nicht mehr für einen Kaffee reichen, da er das Haus um zwanzig vor sechs verlassen wollte.

    Früher hatte er sich eine Thermoskanne gemacht und mitgenommen. Aber inzwischen gab es so viele Bäckereien, in denen man ‚Coffee to go’ holen konnte, dass er das nicht mehr brauchte. Für einen Kaffee konnte er die Fahrstunde unterbrechen. Was länger dauerte, war natürlich nicht möglich. Außer, er plante es vorher ein.

    Um bei seiner Frau keinen Verdacht zu erregen, hatte er diverse Laufsachen in dem Schrank verstaut, der in der Mansarde vor dem Bad stand. Sein Kumpel Jens hatte eines der sechs Dachzimmer einmal bewohnt und eine Kopie des Schlüssels behalten.

    Sechs Bewohner, deren Zimmer nebeneinander lagen, teilten sich zwei Badezimmer, die sich jeweils am Ende des langen Flurs befanden. Die meisten Mieter waren Studenten, die sich untereinander kaum kannten.

    Es fiel nicht weiter auf, dass er dreimal in der Woche dort duschte, nachdem er sein Lauftraining absolviert hatte. Zumal er immer sehr früh dort war, wenn die Studenten noch schliefen.

    Er achtete peinlich darauf, keine Haare oder Pfützen auf dem Boden zu hinterlassen. Er wollte nicht riskieren, dass aufflog, dass er nicht dort wohnte und kein Recht hatte, die Dusche zu benutzen.

    Seiner Frau hatte er erzählt, dass es gerade mehrere Fahrschüler gab, die ihre Stunde vor der Arbeit absolvieren wollten. Sie hatte das fraglos akzeptiert, zumal er an den anderen beiden Wochentagen dafür die Kinder für die KiTa und die Schule fertig machte.

    Im Winter kostete es Überwindung, im Stockdunkeln und bei eisiger Kälte loszulaufen. Aber er brauchte das Laufen - allein schon, weil er den restlichen Tag nur noch im Auto saß. Außerdem hoffte er, dass die Kondition ihm helfen würde, wenn es galt, beim Sportklettern mit den anderen mitzuhalten.

    Allerdings wäre das Training mit Ringen oder kleinen Griffen zum Hochziehen oder, im besten Fall, einem Campusboard, viel effektiver gewesen. Nur ließ sich so etwas nicht verheimlichen. Jule würde einen Aufstand machen, würde er so eines installieren, das wusste er.

    Also trainierte er mit Hanteln, um seine Armmuskeln aufzubauen, obwohl das fürs Klettern gar nicht viel brachte. Jule akzeptierte das. Sie wusste ja nicht, wofür er das machte.

    Richtig cool wäre es gewesen, eine Kletterwand im Keller zu haben. Vor drei oder vier Jahren hatte er sich eine Boulder-Wand im Internet ausgesucht und praktisch schon bestellt, da war Jule wieder schwanger geworden. Sie hatten das Geld für ein größeres Auto nehmen müssen.

    Als Max auf die Welt gekommen war, hatte Jule darauf bestanden, dass er mit der Kletterei aufhörte. Es sei zu gefährlich und koste zu viel Zeit. Sie seien eine Familie mit zwei Kindern, er solle sich gefälligst einen anderen Sport suchen, bei dem nicht jedes zweite Wochenende draufging.

    Das war natürlich völliger Quatsch. Erstens ging nicht jedes zweite Wochenende drauf, nur weil er in Wetzlar samstags oder sonntags die Kletterwand benutzte. Zweitens war es nicht gefährlich. Er kletterte schon ein paar Jahre und ihm war noch nie etwas passiert.

    Es hatte ihn geärgert, dass Jule so sehr dagegen war. Ihre Beziehung steckte zu der Zeit auch aus anderen Gründen in einer Krise. Mit Merle waren sie schon aus dem Gröbsten raus gewesen, und dann war plötzlich wieder ein Säugling da. Sie beide waren auf dem Zahnfleisch gegangen - Max schrie stundenlang, aus keinem erfindlichen Grund.

    Wochenlang fanden sie keine Nachtruhe. Merle war eifersüchtig und tat so, als wäre sie ein Kleinkind. Nie hätte er gedacht, dass er und Jule sich so angiften könnten, wie sie es zu dieser Zeit taten.

    Er hatte ein paar Mal darüber nachgedacht, sich von ihr zu trennen. Aber das wäre bei den Freunden und Verwandten nicht gut angekommen; die Frau mit zwei Kindern sitzenzulassen, eines davon gerade geboren. So etwas machte man nicht. Irgendwann waren sie beide zur Vernunft gekommen und hatten sich auf die Kinder eingestellt.

    „Glaubt bloß nicht, dass zwei Kinder zu haben fast dasselbe ist, wie ein Kind zu haben!" hatten sie den Freunden erzählt.

    Er hatte eine Zeitlang nicht trainiert und war immer grantiger und unzufriedener geworden. Da hatte Jens ihm von dem nachgemachten Schlüssel zur Mansarde erzählt und vorgeschlagen, er solle doch sein Ding durchziehen, ohne es ihr zu sagen. Wozu den Beziehungsstress auf sich nehmen, wenn es auch anders ging?

    Im Dezember hatte er angefangen und es hatte wunderbar geklappt. Bis auf die Kälte, natürlich. Aber wenigstens waren Schnee und Eis kein Problem - wenn man vorsichtig war, konnte man darauf laufen. Er hatte durchgehalten. Jetzt, im April, war es schon lange hell, wenn er startete. Es war morgens angenehm kühl und seine Kondition war spitze.

    Sein größter Wunsch war, einmal eine längere Kletter-Tour zu machen. Das musste er sorgfältig einfädeln, damit Jule keinen Verdacht schöpfte.

    Gehring verließ das Haus, bevor seine Frau aufgestanden war. Sie musste um halb sieben in die Gänge kommen, wenn Merle pünktlich um 8 in der Schule sein sollte. Bis dahin würde er schon die ersten 6 km absolviert haben.

    Kapitel 5

    Adam Pröll nahm das gelbe Geschirrtuch und trocknete damit den Teller, die Tasse, die Untertasse und das Messer sorgfältig ab. Er räumte die Frühstücksutensilien wieder in den Schrank. Die Tageszeitung wanderte in seinen schwarzen Rucksack. Er kontrollierte, ob in der Vordertasche genügend Taschentücher waren.

    Den Laptop hatte er am Abend zuvor bereits in das Hauptfach gelegt. Er hatte ihn noch nie auf der Arbeit gebraucht, aber wer konnte garantieren, dass der Computer in der Firma nicht ausfiel? Falls das passierte, konnte er weiterarbeiten. Er würde dann nicht im Aufenthaltsraum oder im Bistro um die Ecke warten müssen, bis das Problem behoben war.

    Jedes Warten war für ihn schwer. Manchmal konnte er den Frust nicht aushalten, sich selbst nicht mehr beherrschen und kickte dann gegen eine Tür oder warf einen Stuhl um. Natürlich ärgerte er sich hinterher über sich selbst. Wenn zum Warten aber noch die Unruhe und Hektik an einem Ort wie dem Bistro dazukam, dann bekam er oft die Panik. Dort zu warten würde er nicht schaffen. Deshalb war es besser, gerüstet zu sein.

    Zufrieden schloss er den Rucksack. Den Mittagsimbiss um 12:30 Uhr würde er in der Kantine seiner Firma namens GenAutark einnehmen. Es bestand aus einem Weizenbrötchen mit Ziegenkäse und weißem Joghurt. Das Abendessen aß er zuhause; seine Mutter kochte es.

    Heute Abend würde es um 19 Uhr auf dem Tisch stehen. Gestern hatten sie um 18:30 Uhr gegessen, weil seine Mutter um 19 Uhr in der Chorprobe sein musste. Morgen würden sie auch um 19 Uhr essen. Übermorgen war Wochenende; da galten andere Regeln.

    Pröll beeilte sich, seine Schuhe anzuziehen und den Mantel über den Arm zu hängen. Zu Fuß brauchte er von seiner Wohnung in der Rehornstraße bis zur Firma 38 Minuten, außer er überquerte die Kreuzung Südstraße/Maibachstraße nach 10 Uhr 15. Dann änderte sich die Ampelschaltung und er brauchte insgesamt 40,5 Minuten.

    Er überquerte die Kreuzung zwar nie nach 10 Uhr 15, aber es war gut, die Fakten zu kennen. Für alle Fälle.

    Es war nicht angenehm zu laufen, weil die anderen Fußgänger unberechenbar waren. Sie versperrten ihm den Weg, wenn sie langsamer liefen als er. Sie erschreckten ihn, wenn sie schneller waren und ihn überholten.

    Aber im Bus zu fahren war keine Alternative. Er hatte nie eine Sitzreihe für sich alleine. Immer setzte sich jemand neben ihn und berührte ihn am Arm oder streifte sein Bein. Er wusste dann nicht zu reagieren; wusste nicht, ob er sich beispielsweise entschuldigen musste oder nicht. Seine Mutter hatte versucht, es ihm beizubringen, aber es war ihm ein Rätsel, wie man in wenigen Sekunden so eine Entscheidung treffen konnte.

    Pröll schlug den kürzesten Weg zur Firma GenAutark ein. Der Pförtner blickte kurz auf, nickte und vertiefte sich dann wieder in sein Buch. Pröll nahm die Treppe in den dritten Stock.

    Sein Büro war das kleinste auf der Etage, aber es lag am Ende des langen Ganges und war deswegen ruhig, das schätzte er. Die Teeküche und die Toiletten waren zum Glück auf der entgegengesetzten Seite.

    Er setzte sich, fuhr seinen Computer hoch und rief den Vorgang auf, den er gestern zuletzt bearbeitet hatte. Seine Aufgabe war es, Programmierfehler zu kennzeichnen. Das war leicht.

    Die Morgensonne malte ein Muster auf die Wand neben ihm. Er stand auf und ging zum Fenster. Der Raum war vollklimatisiert, ein Öffnen war nicht möglich. Für einen Augenblick hielt er sein Gesicht dem Licht entgegen und schloss die

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