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Im Land der drei Zypressen
Im Land der drei Zypressen
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eBook394 Seiten5 Stunden

Im Land der drei Zypressen

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Über dieses E-Book

Der Roman erzählt die Geschichte der Anfang 20-jährigen Protagonistinnen Elke im Deutschland der 1980er/90er Jahre sowie der dem Großbürgertum entstammenden Vivienne im Südfrankreich der 1850er Jahre.

Elke steht in ihrem Leben an einem Wendepunkt. Kurz entschlossen fährt sie ins südfranzösische Languedoc. Dort entdeckt sie die Ruinen eines vor 100 Jahren verlassenen Gutshofs und macht sich auf die Suche nach der Geschichte seiner Bewohner. Elke ahnt nicht, wie sehr deren Geschichte mit ihrer eigenen verwoben ist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Mai 2015
ISBN9783847606192
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    Buchvorschau

    Im Land der drei Zypressen - Ute Christoph

    Für meinen verstorbenen Vater

    Papa, ich vermisse Dich jeden Tag.

    23. Juli 1870

    Die Morgensonne tauchte die südfranzösische Landschaft in ein unwirkliches Licht. Die Luft duftete zart nach Rosmarin, Lavendel und Wildblumen, durch die ein sanfter Wind strich. Die Grillen zirpten eindringlich und die Vögel zwitscherten ihr immer gleiches Lied. Drei Zypressen streckten sich majestätisch in den Himmel. In ihrem Schatten stand ein Haus, dessen schiefes Eingangsportal in rostigen Angeln hing. Dichter Efeu rankte an seinen Bruchsteinmauern empor und griff mit knorrigen Ästen unter das Dach. Nein, dachte der Mann, hier wohnt niemand mehr.

    Er schob die Tür auf, die sich knarrend öffnete, drehte sich um und blickte auf den von Rotbuchen gesäumten Weg, auf dem er hierhergekommen war. Der einst gepflegte Kies war unter den Wildkräutern kaum noch zu erkennen.

    Der Mann betrat das Haus.

    „Hallo?" rief er laut.

    Niemand antwortete ihm.

    Seine Füße hinterließen tiefe Abdrücke auf dem staubigen Boden.

    Die Flügeltüren zu einem Raum links von ihm waren weit geöffnet, als wolle das Zimmer ihn begrüßen. Er schob einige kräftige Spinnweben beiseite und trat ein. Auch den hölzernen Tisch und sieben Stühle bedeckte eine dicke Staubschicht. Vor dem Kamin mit dunklen Ascheresten und verkohlten Holzstücken fand er ein Bild mit dem Portrait eines Mannes. Er hob es auf und schleuderte es in die Feuerstelle.

    Er stieß die Tür neben dem Kamin auf und gelangte in die Küche. Zerbrochenes Porzellan bedeckte den Boden. Mit dem Fuß trat er gegen eine henkellose Tasse. Das Geräusch hallte in der Stille laut in seinen Ohren.

    Der Mann durchschritt die Küche und betrat den Garten.

    So wild wie ich, dachte er und schlenderte zum Brunnen. Das kalte klare Wasser löschte seinen unerträglich gewordenen Durst.

    Er stützte sich schwer auf den Brunnenrand und sah sich zufrieden um. Die Häuser am Ende des Gartens waren efeubedeckt wie das Haus hinter ihm. Die dunkelgrünen, dickblättrigen Pflanzen rankten an den Mauern empor und steckten ihr Geäst wie Finger in Winkel, Löcher und unter die Dächer.

    Der Mann nickte lächelnd. Das Gut war verlassen. Hier konnte er eine Weile bleiben.

    Er kehrte ins Haus zurück, erreichte über eine breite, geschwungene Holztreppe das Obergeschoss und schob eine Tür auf. Der dunkelblaue Samt eines zerrissenen Baldachins floss wie in gefrorenen Wellen auf eine Matratze. Im Nebenraum stieß er auf Kinderbetten. Er schritt die weiteren Gemächer ab und staunte über das einst noble Mobiliar. Nur der modrige Geruch, die dicken Staubschichten und die rostigen Türangeln zeugten stumm davon, dass hier schon lange niemand mehr wohnte.

    Der Mann öffnete ein Fenster. Frische Sommerluft strömte ins Zimmer.

    Ja, hier konnte er eine Zeitlang bleiben.

    Bonn, 28. April 1997

    Auf dem kleinen Besucherparkplatz vor dem beeindruckenden Verlagsgebäude parkten unzählige Autos. Helles, dunkles und buntes Blech reihte sich endlos aneinander. Keine einzige Lücke war frei. Entnervt warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Viertel nach vier – ich war schon fünfzehn Minuten zu spät. Von dem brasilianischen Staatsgast, der mit seinem Konvoi einen grässlichen Stau verursachte, hatte ich erst auf der Fahrt zum Verlag durch die Nachrichten im Autoradio erfahren. Wo wurde ich jetzt bloß auf die Schnelle meinen Wagen los?

    Trotz des leichten Kostüms, das ich trug, schwitzte ich. Kleine Schweißtropfen lösten sich unter dem Haar in meinem Nacken.

    Ich wendete, fuhr auf den gegenüberliegenden Parkplatz und fand zwischen zwei großen, Respekt einflößenden Limousinen eine Lücke für meinen kleinen Golf. Ich zog den Zündschlüssel ab, wunderte mich kurz, dass er in der Hektik nicht abbrach, raffte die Unterlagen auf dem Beifahrersitz zusammen und hastete zum Haupteingang des Gebäudes.

    Vor der Pförtnerloge im Foyer holte ich tief Luft. Mein Herz schlug bis zum Hals und ich hoffte, der Mann in dem Glaskasten würde es nicht bemerken. Er sah langsam auf, sehr langsam.

    „Ich habe einen Termin bei Herrn Dr. Wagner, stammelte ich außer Atem. „Vorher müsste ich allerdings noch kurz mit Herrn Bergmann sprechen. Tim Bergmann.

    „Dann rufe ich erst mal Herrn Bergmann an. Haben Sie bei dem auch einen Termin?" grinste der Mann.

    Ich tippte ungeduldig mit der Schuhspitze auf den glänzenden Marmorboden und setzte mein schönstes Lächeln auf. „Bitte, rufen Sie Herrn Bergmann an", sagte ich süß, doch in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

    „Und wen soll ich melden?" fragte er jetzt ernst.

    „Sagen Sie ihm einfach, seine Frau ist hier."

    Er griff nach dem schwarzen Telefonhörer, wählte Tims Durchwahl, sprach kurz mit seiner Sekretärin und legte dann auf. „Herr Bergmann ist auf dem Weg", ließ er mich wissen.

    Ich bedanke mich freundlich, drehte mich um und entfernte mich einige Schritte. Die klimatisierte Eingangshalle war riesig. Ich begann zu frösteln, und auf meinen Unterarmen bildete sich eine leichte Gänsehaut.

    Bis Tim endlich mit angespanntem Gesicht im Foyer erschien, verging eine halbe Ewigkeit.

    „Was ist?" fragte er. Er wirkte sehr geschäftlich, und ich hatte nicht den Eindruck, dass das nur an seinem schwarzen, perfekt sitzenden Anzug lag.

    „Hallo Tim, antwortete ich und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, „könntest Du mir einen Gefallen tun? Ohne seine Antwort abzuwarten, drückte ich ihm meine Autoschlüssel in die Hand. „Ich habe jetzt hier im Haus ein Vorstellungsgespräch, habe mich verspätet und deshalb den Wagen dort drüben auf einem der Mitarbeiterparkplätze abgestellt", sagte ich und deutete mit spitzem Zeigefinger nach draußen.

    „Das sind die Vorstandsparkplätze!" rief Tim vorwurfsvoll.

    „Oh", machte ich entschuldigend.

    „Dort kann er auf keinen Fall stehen bleiben!"

    „Ja, aber. Ratlos hob ich die Schultern. „Könntest Du nicht vielleicht? Ich bin schon fast eine halbe Stunde über der Zeit.

    Tim nickte unwillig und verdrehte angesichts meines unverzeihlichen Fehlers die Augen in Richtung Decke.

    Ich wandte mich wieder an den Pförtner.

    „Würden Sie mich jetzt bitte bei Herrn Dr. Wagner anmelden? Mein Name ist Bergmann, Elke Bergmann. Und an Tim gewandt: „Kannst Du mir bitte sagen, wo ich sein Büro finde?

    Lustlos beschrieb er mir den Weg, während er sich mehrmals mit seinen schönen, schmalen Händen durch das dunkle Haar fuhr.

    „Danke, ich komme nach dem Gespräch zu Dir, um die Schlüssel abzuholen."

    Wieder nickte Tim, um dann grußlos Richtung Vorstandsparkplatz zu verschwinden, auf dem verbotenerweise mein kleines Auto stand.

    Ich sah auf meine Armbanduhr. Wie oft hatte ich das heute schon getan? Etwas mehr als eine Stunde war vergangen, seit ich Tim wiedergesehen hatte.

    Tim war Chefredakteur der Sportzeitschrift des Verlags – der Nummer eins im deutschen Markt. Vor einigen Wochen hatte ich mich auf eine Anzeige der überregionalen Tageszeitung desselben Verlags beworben.

    Die Türen des voluminösen Fahrstuhls öffneten sich, und ich betrat den langen, breiten Flur der obersten Etage des Verlagsgebäudes, bog nach rechts und stand dann vor seinem Büro. Die Tür war nur angelehnt – die Tür zu den heiligen Hallen, mit denen ich Tim in den letzten Jahren unserer Ehe geteilt und an die ich meinen Mann inzwischen abgetreten hatte.

    Mit der flachen Hand schob ich sie auf. Die Deckenfluter spendeten dem riesigen Raum ein sanftes Licht. Die Luft roch angenehm nach Vanille und Tims After Shave. Er sah von seinem Schreibtisch auf.

    „Danke, dass Du Dich um den Wagen gekümmert hast."

    Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Und? Wie ist es gelaufen?"

    Ich hob die Schultern. „Sicherheitshalber schlafe ich eine Nacht drüber, und wenn ich mich morgen noch genauso fühle wie jetzt, sage ich ab."

    „Die sind Dir zu politisch, oder?" fragte er, ein bisschen von oben herab.

    „Damit käme ich zurecht. Ich würde eher sagen, die sind mir politisch zu extrem."

    Tim nickte. „Und wie geht es Dir ansonsten?"

    Mit dieser Frage konnte er mich aus der Reserve locken. Ruhig zählte ich auf: „Wir haben uns getrennt, ich habe außerdem einen wichtigen Menschen verloren und nun – als wäre das nicht schon genug – wird der Standort unserer Redaktion nach Berlin verlegt. Da ich nicht mit nach Berlin umziehen will, brauche ich jetzt auch noch einen neuen Job – zu viel auf einmal, wenn Du mich fragst." Ich schluckte.

    Tim hatte mich aus der Reserve gelockt, doch er selbst schien es nicht zu bemerken. Gedankenverloren trommelte er mit den Fingern auf der edlen Mahagoniplatte seines großen Schreibtisches herum. Seine Frage nach meinem Befinden war wohl rein rhetorischer Natur gewesen. Wirkliches Interesse hatte er nicht.

    „Wie geht es Dir?"

    Er hörte auf zu trommeln und schmunzelte. Endlich ging es wieder um ihn.

    „Ich war am Freitag auf Ingos Party zur Einweihung seines Hauses. Du weißt schon, Ingo – unser Art Director."

    „Ach ja? Erzähl’."

    Ein déja vue! Tim hatte von mir immer ein ausgeprägtes Interesse für alles, was ihn betraf, erwartet. Und ich hatte es aufgebracht.

    Während ich mich noch über meine spontane Aufforderung zu erzählen ärgerte, legte Tim auch schon los: „Dort habe ich Michaela kennengelernt, sagte er schwärmerisch. „Sie ist Belgierin und zurzeit mit ihrem spanischen Freund in dessen Heimat, um ihre Hochzeit vorzubereiten. Aber an diesem Freitagabend bei Ingo hatte es zwischen den beiden gefunkt.

    Schlampe, dachte ich. Unsympathische Frau! Als Tim und ich uns damals entschieden hatten zu heiraten, waren mir andere Männer vollkommen gleichgültig gewesen.

    Tims himmelblaue Augen wurden schmal. „Und nun laufe ich ihr über den Weg, und sie will ihren Freund eigentlich gar nicht mehr heiraten. Ich habe sie in eine sehr schlimme Situation gebracht."

    Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.

    Plötzlich hielt er mir ein Bild unter die Nase. Ich nahm es reflexartig, betrachtete es kurz, murmelte „aha" und gab es ihm zurück. Ich wollte mich nicht erneut aus der Reserve locken lassen, zumal Tim es beim ersten Mal nicht bemerkt hatte.

    „Was ‚aha’?" fragte er und legte das Foto vor sich auf den Schreibtisch.

    Meine gegenüber Tim mühsam errichtete Fassade, die mir seit unserer Trennung einen respektvollen Umgang mit ihm ermöglichte, war nicht besonders stabil.

    „Was ‚aha’?" wiederholte er.

    „Nichts", log ich.

    Doch die Fassade hatte beim Anblick des Fotos Risse bekommen, fing an zu bröckeln und nur Bruchteile von Sekunden später brach es aus mir heraus: „Durch diese Frau werde ich ersetzt? fuhr ich ihn an. „Das kann nicht Dein Ernst sein! Die Tränen kamen ganz automatisch. Es war mir unmöglich, etwas dagegen zu tun. Ich griff in meine Handtasche, nahm ein Papiertaschentuch und schnäuzte mich kräftig.

    „Was hast Du? fragte er unschuldig, „Warum reagierst Du so?

    „Sie sieht … na ja, sie sieht so langweilig aus", flüsterte ich zögerlich. „Jahrelang habe ich geglaubt, Du findest mich langweilig und warst nur mit mir zusammen, damit Du jemanden hast, der Deine Hemden bügelt und Dir den Rücken von lästigen Alltagsdingen freihält. Und jetzt willst Du mich durch diese Frau ersetzen? Das entspricht Deinem Ideal einer Frau?"

    Die Verletzungen aus dieser Beziehung waren tiefer, als mir bewusst gewesen war, und noch längst nicht vernarbt.

    „Was erwartest Du von mir, fragte Tim scharf, „dass ich alleine bleibe, bis Du zu mir zurückkommst? Und weiß Gott, ob Du überhaupt jemals zurückkommen würdest!

    „Nein, natürlich sollst Du nicht allein bleiben, antwortete ich, „ich habe Dir so oft gesagt, dass ich die falsche Frau für Dich bin. Aber das? Ich riss das Bild wieder an mich. „Eine Kollegin?" fragte ich dann.

    „Nein, Tierärztin."

    Innerlich fluchte ich.

    „Tierärztin? Ich dachte, Du hasst Tiere!"

    Mir wurde schwindelig. Ich rieb die feuchten Handflächen aneinander. „Ich durfte keine Katze haben oder die Nachbarskatzen in die Wohnung lassen. Keine Katzen, keine Kinder – nichts." Jetzt kam alles in mir hoch.

    „Als Du gegangen bist, wollte ich ein Kind mit Dir", verteidigte sich Tim.

    „Als ich gegangen bin? Da war es ein bisschen zu spät, findet Du nicht? Ich schniefte in das Taschentuch und versuchte, den unkontrolliert laufenden Tränenstrom in Griff zu bekommen. „Du wolltest immer alles erst, wenn es zu spät war.

    Warum hatte ich elf Jahre – die besten Jahre – damit vertan, diesem Mann zu gefallen? Warum hatte ich ihm immer wieder geglaubt? „Elke, es wird alles besser, wenn…!" Dieser Satz würde mich mein ganzes Leben lang verfolgen. Die riesigen Trümmer auf meinem beschränkten Lebensfeld türmten sich unüberwindlich vor mir auf. Ich sah aus dem Fenster, suchte irgendetwas außerhalb dieses Folterraumes, etwas, woran ich mich mit den Augen festhalten konnte – ein Haus, einen Baum, ein parkendes Auto. Aber da war nichts.

    „Du hast mein Leben zerstört", stellte Tim mit rauer Stimme fest.

    „Meins ist auch zerstört, wisperte ich kleinlaut. „Aber schau Dich doch an, meine Stimme wurde kalt wie Eis, „Deine Ausgangsposition ist doch um vieles besser als meine. Du hast eine angesehene, sehr gut bezahlte Position, einen Firmenwagen. Du bist 34, kannst diese Frau kennen lernen und eine Familie gründen. Für mich ist der Zug abgefahren."

    „Du bist 32! Du hast noch alle Zeit der Welt, Kinder zu bekommen", versuchte Tim, mich zu trösten.

    „Ach, ja? Und der Mann dazu? Den backe ich mir oder was? Nach all dem mit Dir will und vor allem kann ich mich in den nächsten Jahren gar nicht mehr auf jemanden einlassen! Ich will die Scheidung", sagte ich.

    „Wieso das denn so plötzlich?" Tim sah mich überrascht an.

    „Möchtest Du das wirklich wissen? Ich habe eine solche Wut auf Dich! In all den Jahren waren Dir meine Gefühle und Bedürfnisse egal. Wie oft hast Du mich alleine gelassen, wenn es drauf ankam? Du und Deine Arbeit – immer ward Ihr wichtiger! Du hast mich für Deine Zwecke benutzt, und ich habe mich für Deine Zwecke benutzen lassen! Unsere Beziehung ist nicht mehr zu kitten, nie mehr. Also bleibt als einzige Konsequenz die Scheidung."

    In meinem Hals wuchs ein Kloß. Ich versuchte, ihn herunter zu schlucken.

    „Und wenn Dir etwas an dieser Frau liegt, dann verhindere diese Hochzeit mit ihrem spanischen Freund. Ich wünsche Dir viel Glück und hoffe, dass sie Eure eventuell einmal anstehende Hochzeit nicht auch platzen lässt, weil ihr auf einer Party ein noch besserer Typ als Du über den Weg läuft."

    Da saß ich nun in meinem schicken Kostüm und dem farblich darauf abgestimmten Nickituch, mit gestylter Frisur, dem perfekten Make-up und starrte auf das Foto. „Unglaublich, sagte ich, „unglaublich.

    Ich fühlte mich klein und minderwertig, auf der Strecke geblieben, überrollt.

    Tim räusperte sich. „Du warst nicht unzulänglich, sagte er leise, „ich hatte die attraktivste und verständnisvollste Frau, die es gibt. Ich habe nichts daraus gemacht.

    „Danke, und was habe ich jetzt von dieser Erkenntnis?"

    „Als Du das, was Du wolltest, hättest haben können, hast Du Dich umgedreht und bist gegangen."

    „Aber da war es doch schon viel zu spät". Meine Stimme hallte laut durch den Raum.

    „Konntest Du mir nicht noch eine Chance geben? Eine einzige letzte Chance?"

    Nur mit Mühe sprach ich leiser: „Nach so vielen Chancen konnte ich genau das nicht mehr. Ich konnte Dir nicht mehr glauben, dass alles besser wird, wenn ... Und Du weißt, dass Du mir das Schlimmste angetan hast, was man einer Frau antun kann."

    Ich rückte den Stuhl geräuschvoll zurück und stand auf.

    „Es ist besser, wenn ich jetzt gehe."

    Er machte keinen Versuch, mich aufzuhalten. Warum auch? Es war zu Ende, aus. Alles war gesagt. Mit den Trümmern und Ruinen unserer Ehe musste jeder für sich allein fertig werden.

    *

    Ich nahm das hohe Glas aus der Mikrowelle, schäumte die heiße Milch auf und schüttete behutsam den Maschinenkaffee in den weißen Schaum. Latte Macchiato für Arme, dachte ich und trat auf den Balkon. Ich setzte mich an den kleinen, beigefarbenen Tisch und nippte gedankenverloren an meinem Latte Macchiato. Die warme Aprilsonne strahlte auf die mit viel Grün angelegte Neubausiedlung, in die ich nach der Trennung von Tim vor drei Monaten gezogen war. Sie gab mir die nötige Anonymität, die ich für meinen Neuanfang brauchte. Das intensive Gelb der Forsythiensträucher in den Gärten, die zu den Erdgeschosswohnungen gehörten, leuchtete in den verschiedensten Tönen, als der Wind sie sanft bewegte. Der Duft der gelben Blüten zog durch die laue Luft.

    Ich betrachtete die gegenüberliegenden Häuser – dreistöckige, weiße Gebäude mit roten Ziegeldächern und rotem Klinker um die Häusereingänge und Flurfenster.

    Lautlos öffnete sich eine Haustür, und ein Pärchen schob Fahrräder auf den Bürgersteig. Sie drehten eine kleine Runde in dem zwischen den Häuserzeilen liegenden Wendekreis. Der Mann inspizierte den Hinterreifen ihres Fahrrads und rief ihr freundlich zu anzuhalten. Die Frau legte eine Hand auf seinen Rücken, während er sich mit einer Luftpumpe am Ventil zu schaffen machte.

    Ein Mann und eine Frau schoben einen Kinderwagen über die Straße. Sie lachten.

    Eine Mitte vierzigjährige Frau mit leuchtend rotem Haar und üppigem Busen beugte sich aus einem Fenster und warf einem Mann, der gerade mit dem Auto vorgefahren war, einen Schlüssel zu. Ich beobachtete, wie er den Schlüssel aufhob und zu einem grünen Clio schlenderte. Er öffnete den Kofferraum, warf sich einen Sack Blumenerde über die Schulter und verschwand dann im Haus.

    Überall glückliche Paare. Ich wehrte mich nicht gegen die aufkommende Bitterkeit und seufzte tief. Tim hatte nie schwere Einkäufe aus dem Auto in die Wohnung gebracht oder die Reifen meines Fahrrads aufgepumpt. Er war der Ansicht, eine Frau sollte zu solchen Dingen selbst in der Lage sein. Meine Mundwinkel zuckten.

    Ich zündete mir eine Zigarette an.

    Selbstmitleid ist wie Treibsand. Er schüttet Dich zu. Und trotzdem fiel es mir schwer, etwas anderes zu empfinden als Selbstmitleid. So viele verlorene Illusionen, so viel Traurigkeit. Manchmal war das Leben einfach ungerecht! Aber hatte mir jemand etwas anderes versprochen? Nein!

    Als ich in diesen, für mich völlig fremden Teil am anderen Ende der Stadt gezogen war, hatte ich das übermächtige Gefühl, jeder sah mir an, dass ich mich gerade getrennt hatte, dass auf meiner Stirn in Großbuchstaben das Wort ‚Versager’ geschrieben stand – ob beim Einkaufen oder bei Gesprächen mit den neuen Nachbarn im Treppenhaus. Ich hatte versagt. Meine Ehe war gescheitert. Ich war ein Versager.

    Nachdem ich mich eingelebt hatte, die Verkäuferinnen mich kannten und freundlich grüßten und die Nachbarn wussten, dass mein Mann und ich uns getrennt hatten, verschwand das Gefühl, versagt zu haben. Das Zusammenleben mit Tim hatte nicht mehr funktioniert. Warum hätte ich künstlich etwas aufrechterhalten sollen, was es doch tatsächlich gar nicht mehr gab?

    Aber dann waren das Selbstmitleid und diese quälenden Fragen gekommen: Warum hatte das ausgerechnet mir passieren müssen? Warum hatte ich nicht, wie so viele Menschen um mich herum, das Glück, den richtigen Mann zu finden, zu heiraten, ein gemütliches Nest zu bauen und eine eigene Familie zu gründen? Warum? Warum? Warum?

    Aber ich kannte die Antworten. Ich kannte sie seit dem einsamen Tag am Strand vor einem halben Jahr.

    Ich schluckte schwer.

    Ich will hier raus!

    Der Gedanke tat gut. Einfach alles stehen und liegen lassen, einfach alles hinter mir lassen.

    Weg! Raus!

    Und wieso nicht?

    Der Zeitpunkt war perfekt. Ich verfügte noch über meinen gesamten Jahresurlaub, und die Redaktion war vollständig besetzt, kein einziger Kollege, der krank oder im Urlaub war. Gleich Morgen könnte ich mit meinem Chefredakteur sprechen und bereits übermorgen den ersten freien Tag genießen. Die Suche nach einem neuen Job konnte zwei Wochen warten.

    Weg! Raus!

    Und wohin?

    Schon immer hatte ich davon geträumt, mit dem Auto Südfrankreich zu erkunden. Ich würde mich einfach in meinen kleinen Golf setzen und Richtung Süden fahren.

    Eine Unterkunft? Ach, die würde sich finden.

    Ich drückte die halb aufgerauchte Zigarette aus, trank den letzten Schluck laufwarmen Kaffee und ging zurück in die Wohnung. Nachdem ich meine Mutter und Anne und Markus, meine Freunde aus Kindertagen, telefonisch über meine spontanen Pläne unterrichtet hatte, und mit einem plötzlichen Energieschub zu packen anfing, schweiften meine Gedanken wieder in die Vergangenheit.

    Tim und Elke – wir waren für alle immer das Traumpaar gewesen. Wir hatten uns gegenseitig durch das Studium geholfen, nur hundert Kilometer von unserer Heimat entfernt Arbeit gefunden, uns gemütlich eingerichtet und waren für unsere Familien und Freunde immer die perfekten Gastgeber gewesen. Aber wir hatten auch niemand wirklich einen Blick hinter die Kulissen werfen lassen. Selbst letztes Jahr nicht, als ich plötzlich schwanger geworden war…

    Olargues, 2. Mai 1997

    Ich lenkte den Wagen geschickt über die kurvige Landstraße. In einer kleinen Straßenbucht parkte ich den Golf, stieg aus, lehnte mich gegen das Auto und betrachtete mit verschränkten Armen die bezaubernde Landschaft.

    Ein kurzer starker Regenschauer hatte den Staub aus der Luft gewaschen, und nun brannte die Sonne wieder heiß und erbarmungslos auf die südfranzösische Landschaft. In der aufsteigenden Feuchtigkeit mischten sich die Düfte der Umgebung. Der würzige Geruch alter Bäume vermengte sich mit dem Duft des klaren Wassers aus dem Fluss neben der Landstraße, während unzählige bunte Blumen eine milde Süße ausströmten. Ich sog den atemberaubenden Duft gierig ein.

    Das Licht war nach dem Regen besonders intensiv. Die glänzenden Blätter der immergrünen Montpelliereichen reflektierten die Sonne, jedes anders, sodass die Baumkronen in den unterschiedlichsten Grüntönen schimmerten. Ihr Wuchs war bizarr und bildete mit den schroffen Felsen der Gegend eine wildromantische Einheit.

    Ich rieb meine Oberarme und genoss die Berührung der sonnengewärmten Haut. Alles war perfekt. So musste das Paradies sein.

    Was ich sah und atmete, stand in krassem Gegensatz zu den Eindrücken, die ich tagsüber in St. Pons gesammelt hatte. In den engen Gassen blätterte die vor Jahrzehnten aufgepinselte Farbe von alten Häusern und hinterließ faustgroße graue Flecken. Bunte Neonbuchstaben über Ladeneingängen, deren Türen sich noch mit einer Klinke öffnen ließen, bildeten einen fast morbiden Kontrast zu vergilbten Werbeschildern aus Emaille. Küchengerüche waberten aus den Wohnungen über den Geschäften. Ganz schwach nahm ich dazwischen den Duft frisch gewaschener Wäsche wahr, die auf roten Plastikleinen zwischen schmiedeeisernen Balkongittern quer über die Straßen gespannt trocknete.

    Während ich über den Markt bummelte, hörte ich den lautstark feilschenden Händlern und Kunden zu, ohne ein Wort zu verstehen, lauschte dem sanften Klang der französischen Sprache und bestaunte das breite Angebot: Zwischen ausladenden Ständen mit bunter Kleidung und noch bunteren Schuhen, mit eingelegten Oliven und Tapenade, zahllosen Brot- oder Fischsorten gab es kleinere Stände mit Obst und Gemüse, Eiern und Käse oder Gewürzen.

    Jetzt zog der lichtverwöhnte Horizont meinen Blick an. Ein Regenbogen wuchs aus der Spitze des höchsten Berges, ließ die Welt weit unter sich und schwang sich elegant in ein Tal hinter den Bergen. Seine Farben waren wie aus einem Kindermalkasten, so kraftvoll, dass der absteigende Teil des Bogens sich in der feuchten Luft spiegelte. Der Regenbogen schien auf ewig in den Himmel gemeißelt.

    Ich seufzte tief, wandte mich ab und kletterte zurück in mein Auto. Ein wenig melancholisch beschloss ich vor meiner Rückkehr in mein Feriendomizil in den Gorges zu baden.

    Während ich das Auto durch die Kurven manövrierte, zog der Regenbogen meinen Blick immer wieder magisch an.

    Auf dem provisorisch wirkenden Parkplatz standen nur noch zwei französische Kleinwagen und ein schmutziges Wohnmobil. Ich nahm meine Tasche mit den Badesachen aus dem Kofferraum und begab mich auf den Weg zu dem steilen, ausgetretenen Pfad, der in die Schluchten führte.

    Zehn Minuten später erreichte ich die natürlichen Steinbassins, in denen das klare Bergquellwasser in der gleißenden Nachmittagssonne silbern glitzerte. An einer Stelle mit großen, glatten Felsen zog ich Sandalen, Shorts und T-Shirt aus und ließ mich nackt in das eisige Wasser gleiten. Mein Herz raste, mein Atem stockte. Die Kälte betäubte den inneren Schmerz, der mich nach Frankreich begleitet hatte und noch immer wie ein Blutegel an meiner Seele saugte. Frierend und nach Luft schnappend tauchte ich auf, kletterte aus dem Bassin und legte mich lang ausgestreckt auf den glatten, sonnengewärmten Fels. Das glucksende Wasser und ein sanfter Wind, der leise in den Baumkronen säuselte, beruhigten meinen Herzschlag. Ich schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.

    Als ich wieder erwachte, wurde es kühl und die Abenddämmerung setzte ein. In die langsam hinter den Bergen versinkende Sonne blinzelnd, beeilte ich mich, meine Kleidung überzustreifen und zum Auto zurückzulaufen.

    Von der kurvigen Landstraße, die die Siedlungen in den Tälern verband, wand sich ein asphaltierter Weg in das Bergdorf, in dem ich auf dem Hof eines reizenden älteren Ehepaars ein Zimmer bezogen hatte.

    Das Gehöft lag ein Stück unterhalb des Dorfes und bestand aus einem kleinen zweistöckigen Haupt- sowie zwei dazu im rechten Winkel gebauten Nebengebäuden. Im Erdgeschoss des Haupthauses befanden sich die gemütliche Wohnküche und zwei Zimmer, in der ersten Etage weitere, von Angele und Andre genutzte Räume. Im linken Nebengebäude waren eine kleine Käserei und der Stall für die Tiere untergebracht. Ein weiterer Stall rechts neben dem Haupthaus war umgebaut worden und beherbergte nun drei hübsche Zimmer für Touristen und einen winzigen Speiseraum. In dem offenen Karree von Haupt- und Nebengebäuden lag der Garten mit gepflegten Beeten, in denen Gemüse und Kräuter wuchsen. Bunte Wiesen begrenzten das Grundstück zu beiden Seiten.

    Als ich um die letzte Kurve auf die alte Hofstatt aus Bruchstein zufuhr, winkte mir meine Gastgeberin Angele lächelnd zu. Sie pflückte dicke Tomaten von den prächtig wachsenden Stauden.

    „Sie kommen genau zur richtigen Zeit. Das Essen ist in einer halben Stunde fertig, sagte sie mit dem typisch südfranzösischen Akzent, der weder Nasallaute noch das vornehm im Rachenraum geformte „r kennt.

    Ich duschte ausgiebig, trocknete mich ab und schlüpfte in eine bequeme Stoffhose und einen leichten Baumwollpulli. Erst als der Duft des Abendessens aus der Wohnküche durch das offene Fenster in mein Zimmer strömte, stellte ich fest, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen hatte und hungrig war. Je näher ich der Küche kam, desto lauter knurrte mein Magen. Da ich im Augenblick der einzige Gast der Vidals war, aßen wir gemeinsam und ich genoss die gemütlichen Mahlzeiten mit den Beiden.

    „Bon soir, Elke. Hatten Sie einen schönen Tag?" fragte Angele.

    Sie lächelte, und ihr vom südfranzösischen Klima gegerbtes Gesicht legte sich in tausend Fältchen.

    Ich berichtete der kleinen Frau von meinem Besuch in St. Pons und dem kurzen Abstecher in die Gorges.

    Mein Schulfranzösisch war zwar im Laufe der letzten Jahre etwas eingerostet, aber ich konnte mich immer noch gut verständlich machen.

    „Haben Sie sich eigentlich in unserem schönen Dorf schon einmal genauer umgesehen?" Angele schöpfte eine Kelle gut riechenden Eintopf auf meinen mit Blümchen gemusterten Teller, während ihr Mann André die Gläser mit Rotwein füllte.

    „Nein, antwortete ich und schüttelte den Kopf, „das habe ich morgen vor. Ich bin bisher nur mit dem Auto die Straße hochgefahren. Von dort oben hatte ich einen fantastischen Blick auf das ganze Dorf. Es scheint ziemlich groß zu sein.

    „Das ist es", brummte André und tunkte ein Stück Brot in seinen Eintopf.

    „Ich packe Ihnen für den Ausflug etwas zu essen ein, schlug Angele vor. „Dann können Sie Olargues ausgiebig besichtigen, ohne uns zu verhungern. Sie fuhr sich mit der flachen Hand über das silbergraue Haar, das sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden hatte.

    Während Angele das benutzte Geschirr vom Tisch in die Spüle räumte, bedeutete mir André, mit ihm nach draußen zu gehen. Wir nahmen unsere Weingläser und setzten uns auf die Bank gleich neben der Tür. Ich lehnte mich an die immer noch sonnenwarme Bruchsteinmauer und sah ziellos in den Himmel.

    Unzählige Sterne reihten sich eindrucksvoll aneinander wie goldene Nadelstiche auf schwarzem Samt. Die Milchstraße war nicht länger nur eine Fantasie aus exotischen Märchen – ich sah sie. Mein Blick wanderte über diese endlose Straße, während die Grillen zirpten und eine Nachtigall ihr Lied sang.

    „La voie lactée", erklärte André und deutete mit

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