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Gegen den Koloss: Roman
Gegen den Koloss: Roman
Gegen den Koloss: Roman
eBook642 Seiten8 Stunden

Gegen den Koloss: Roman

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Über dieses E-Book

Die Menschen in Anfelden leben in einer Ausnahmesituation, weil sie wegen des Braunkohlentagebaus aus ihrer Heimat vertrieben werden. Sie erleiden einen Machtmissbrauch von Politik und Wirtschaft, der für sie empörend und unfassbar ist. Fast alle haben schon resigniert, doch bei manchen regt sich erbitterter Widerstand. Ihre Wut entzündet sich an der heimatvernichtenden und umweltzerstörenden Katastrophe, die der Braunkohlentagebau verursacht. Sie wehren sich vor einem Abgrund, wollen verteidigen, was für sie wertvoll ist. Es ist eine Art Krieg, der in Friedenszeiten gegen sie und viele andere skrupellos geführt wird. Die ungeheuren Zerstörungen, die er anrichtet, empört sie so sehr, dass ihr Widerstand radikaler wird. Wegen des beispiellosen Unrechts, das tief in ihr Privatleben eingreift, fühlen sie sich dazu berechtigt. Sie beugen sich nicht länger der Willkür der Mächtigen, sondern wehren sich gegen die menschenfeindlichen Zustände. Ihr Leben verändert sich dramatisch.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Jan. 2018
ISBN9783742752642
Gegen den Koloss: Roman

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    Buchvorschau

    Gegen den Koloss - Achim Balters

    1

    Alles wirkt hier noch immer normal. Als wäre Anfelden ein kleiner Ort, der seinen Einwohnern genügend Lebensqualität bietet. Ländliche Harmonie, dörflicher Alltagsrhythmus, alte Heimaterde. Ein trügerisch schöner Junitag in der Niederrheinischen Bucht. Nichts deutet darauf hin, dass Anfelden zum Untergang verurteilt ist.

    Das Ortsschild glänzt hellgelb in der Sonne, blühende Gräser umsäumen es, wachsen bis zur Landstraße, die zwischen Wiesen und Feldern auf das Dorf zukurvt. Schwalben fliegen akrobatisch um einen Bauernhof, wo in einem kleinen Nebengebäude Lebensmittel aus biologischem Anbau verkauft werden. Alte Stacheldrahtzäune umgrenzen nahe Weiden, auf denen schwarz-weiße Kühe wiederkäuen, träge und genügsam, als wären sie Buddhisten. Zeitlupenhaft wellt schwacher Wind Felder mit reifendem Korn, streicht sanft über noch junge Maispflanzen, die sich in langen Kolonnen auf beigefarbenem Ackerboden reihen. Ein Fasan landet in einem Rübenfeld, äugt sichernd nach allen Seiten, beginnt zu picken. Vor einem Reitstall wuchert dichtes Gestrüpp aus Holunder und Weißdorn, aus dem ein Spatzenchor schallt. Pferde traben langsam auf einer Koppel, deren Holzzaun an einer Obstwiese angrenzt. Neben einer Scheune stehen alte Pappeln, von der Sonne angestrahlt, alles andere überragend. Weit spannt sich der blassblaue Himmel, weiße Wolken driften nach Nordosten. Wo die Landschaft endet und der Ort beginnt, ist nicht zu erkennen. Alles scheint hier ineinander überzugehen.

    Anfelden, 2537 Einwohner, ist ein leicht überschaubares Dorf. Die Wege sind kurz, das Zentrum wird mehr vom Wohnen als vom Einkaufen geprägt. Wer hier ein Geschäft hat, der hat auch ein Monopol. Die Bürgersteige sind breit genug, auf den Straßen schleicht beruhigter Verkehr. Die sommerlich gekleideten Menschen kann man schnell zählen. Ein ansehnlicher, aber kein malerischer Ort, der Touristen anzieht. Mit Sehenswürdigkeiten ist kein Geschäft zu machen. Es gibt keine. Der Ort trumpft nicht auf, wirkt echt, strahlt dörfliche Genügsamkeit aus. Im Zentrum stehen hauptsächlich Klinkerbauten, die nicht mehr als zwei Stockwerke besitzen. Hier und da sieht man dekoratives Fachwerk, auch Treppengiebel und Erker, kleinere Bausünden stören kaum. Der kopfsteingepflasterte Marktplatz mit Platanen und Blumenbeeten wirkt besenrein.

    24 Grad zeigt das große Thermometer neben der Eingangstür der Apotheke an. Im Schaufenster sind die üblichen Versprechen der Pharmafirmen werbewirksam angeordnet. Vor der Bäckerei, deren Markise bis weit über den Bürgersteig reicht, unterhalten sich heftig gestikulierend ein Mann und zwei Frauen. Die ältere unterbricht sich, um missbilligend ein junges, hübsches Mädchen zu beäugen, das mit verschlossener Miene und zu großen Schritten vorbeistolziert, an ihrem Gang noch zu feilen scheint. Die Frau dreht sich wieder zu den anderen, setzt eine säuerliche Miene auf, sagt etwas. Alle drei verfolgen das Mädchen mit ihren Blicken. Die Frauen pressen wie auf Kommando die Lippen zusammen, der Mann schmunzelt.

    Das Mädchen, starr geradeaus blickend, nähert sich der schiefergedeckten Dorfkneipe, vor der ein Brauereiwagen steht. Ein verschwitzter Mann wuchtet noch ein Bierfass von der Ladefläche zu Boden, steckt dann die Hände in die Hosentaschen, kann von dem Mädchen gar nicht genug zu sehen bekommen. Er pfeift anerkennend, als es etwas verkrampft an ihm vorbeigeht. Das Mädchen, das sich wohl noch nicht daran gewöhnt hat, von Blicken begutachtet zu werden, knabbert erst an der Unterlippe, lächelt dann geschmeichelt und betritt schwungvoll das Lebensmittelgeschäft, das wie eine Mischung aus Kramladen und Supermarkt aussieht.

    Auf der gegenüberliegenden Seite blickt ein altes Paar gelangweilt aus dem Fenster eines schmalen Fachwerkhauses. Neben ihnen putzt sich eine Perserkatze. Ein Postwagen hält in der Nähe, ein Mann steigt aus, leert den Briefkasten vor dem Elektrogeschäft. Er grüßt zu dem alten Paar hoch, das aufzuleben scheint, freudestrahlend zurückwinkt. Mehrere Leute steigen aus einem Kleinbus, man kennt sich, schwatzt, lacht. Vor der Metzgerei, die garantiert erstklassiges Fleisch aus eigener Schlachtung anbietet, bellt kastratenhaft eine Promenadenmischung. Ein dünner Mann in kurzer Hose macht einen großen Bogen um den Hund, bleibt vor dem Zeitungskasten stehen, bückt sich und studiert die schlagzeilenfette erste Seite eines Boulevardblattes. Wenige Meter von ihm entfernt schiebt eine unscheinbare Frau mit ernstem Gesicht einen Kinderwagen über den Zebrastreifen.

    Was man hier sieht, täuscht. Nur die Fassade des Alltags, hinter der sich ein für die Einwohner unerträgliches Drama abspielt. Seit fast drei Jahren leidet Anfelden unter dem Würgegriff einer übermächtigen Allianz aus Politik und Wirtschaft. In Friedenszeiten droht etwas für die Einwohner Unfassbares, nämlich die totale Vernichtung ihrer Heimat. Das Dorf, 1254 gegründet, wird, so ist es generalstabsmäßig und menschenverachtend geplant, restlos von der Landkarte verschwinden.

    Anfelden liegt dort, wo vor Jahrmillionen die Natur, noch unbeschadet von menschlicher Willkür, nach ihren eigenen Gesetzen und Zufällen wirkte und so die Artenvielfalt des Tertiärs schuf. Im Kreislauf von Werden und Vergehen wuchsen in der Niederrheinischen Bucht Urwälder und starben ab. Tektonische Verschiebungen und das subtropische Klima ließen Torfmoore entstehen, die sich durch Überflutungen und Überlagerungen nach und nach zu mächtigen Braunkohlenflözen verdichteten.

    Weil diese sich über viele Kilometer erstreckende Braunkohlenlagerstätte von der Energetik AG ausgebeutet werden soll, hat Anfelden keine Zukunft mehr. Über den Ort ist das Vernichtungsurteil gefällt worden. Wer die Macht hat, der hat auch das Recht. Das erfahren jetzt die Einwohner auf eine leidvolle Weise. Sie dürfen nicht mehr lange in ihrer Heimat bleiben, sind machtlos, leiden am Unrecht. Man geht gegen sie gnadenlos vor, als wären sie Feinde, jeder Widerstand ist zu schwach, zwecklos. Die 2537 Einwohner, nur noch ein lästiger Störfaktor, müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden. Man vertreibt sie, Besiegte in einer Art Krieg, nennt es heuchlerisch Umsiedlung. Die maßlose Willkür der Mächtigen feiert hier brutale Triumphe.

    Der kleine Junge im Trikot des 1. FC Köln, der jetzt über den Marktplatz geht, eine Zweieuromünze hochwirft und geschickt wieder auffängt, fühlt sich pudelwohl. Er hat den ganzen Morgen Fußball gespielt, zum Mittagessen gab’s superleckere Wiener Schnitzel und gleich kommt seine Oma, die ihm immer lustige Lieder vorsingt. Er glaubt, dass die Leute hier sein Trikot ganz toll finden. Hoch oben fliegt ein Flugzeug über ihn hinweg, vielleicht nach Amerika, da gibt es noch immer Indianer und viele Bären. Die Sonne blendet ihn, er kneift seine Augen zusammen, blickt zu dem langen Kondensstreifen hinter dem Flugzeug. Das ist alles weißer Rauch. Ganz viel, weil das Flugzeug so hoch und so schnell fliegt.

    Er denkt jetzt nicht daran, dass er bald mit seinen Eltern aus Anfelden wegziehen muss. Schon seit mehreren Monaten weiß er, dass böse Menschen hier alles kaputt machen werden, nur wegen der blöden Braunkohle. Er kann nicht verstehen, warum diese Menschen das tun dürfen und dafür nicht bestraft werden. Seine Eltern haben versucht, was hier passiert, kindgerecht zu filtern, um ihn nicht traurig zu machen. Sie haben ihm schon das Grundstück gezeigt, wo sie schon bald ihr neues Haus bauen werden. Er bekommt dann ein ganz großes Kinderzimmer, in dem er endlich mehr Platz für seine Eisenbahn hat. Darauf freut er sich schon, und er findet es ganz große Klasse, dass sein Freund Axel dann nur wenige Meter entfernt auch in einem neuen Haus wohnt. Was er von den Geschehnissen in Anfelden erfährt, beschäftigt ihn, aber er leidet nicht darunter. Die riesigen Schaufelradbagger, die er immer auf der Fahrt zu seiner Tante Ingrid sieht, die in Grevenbroich wohnt, sind ihm unheimlich. So groß wie Dinos.

    Einmal träumte er davon, dass er mit seiner Katze Micky allein zu Hause war, als plötzlich ein Schaufelradbagger, höher als die Kirche, langsam durch den Garten auf das Haus zusteuerte. Er stürmte auf die Terrasse, schrie entsetzt «Halt! Halt!» und Micky fauchte wie verrückt. Aber der Bagger ließ sich nicht stoppen, bewegte sich weiter auf das Haus zu. Er wollte weglaufen, zusammen mit Micky, doch sie war nicht mehr bei ihm, sondern stand vor dem Bagger, von ihm nur noch wenige Meter entfernt, fauchte weiter, wie ein Tiger. «Micky komm! Micky, komm doch!», schrie er, doch Micky bewegte sich nicht, gleich würde ihn dieser schreckliche Bagger zerquetschen. Er schlug die Hände vors Gesicht und wachte auf.

    «Nein», beruhigte ihn seine Mutter, die er sofort geweckt hatte. «So etwas kann hier nie passieren. Du brauchst vor den Baggern keine Angst zu haben. Die müssen noch lange in der tiefen Braunkohlengrube bleiben. Von dort können die gar nicht zu uns hinfahren.»

    «Ein Glück», seufzte der Junge und fühlte sich ganz geborgen. Seine Mutter blieb bei ihm. Er dachte noch kurz an sein neues, großes Kinderzimmer und schlief schnell wieder ein.

    Der kleine Junge geht jetzt an Blumenkübeln vorbei, die am Rand des Marktplatzes stehen, macht ein paar ausgelassene Hüpfschritte, nähert sich der Bäckerei, aus der sich gerade eine dicke fette Frau schiebt. Wenn die noch dicker wird, denkt er, passt die nicht mehr durch die Tür. Er wirft wieder die Zweieuromünze hoch, die in der Mittagssonne aufblinkt, fängt sie lässig-geschickt, summt fröhlich, hüpft, wirft noch einmal die Münze hoch, aber zu weit von sich weg. Er bekommt sie nicht mehr zu fassen, sie prallt gegen seine Handkante, fällt zu Boden, rollt auf einen Gully zu. Eine Schrecksekunde lang verharrt der Junge mit aufgerissenen Augen, dann rennt er hinter der Münze her. Zu spät, sie verschwindet ihm Gully. Er kniet sofort nieder, steckt seine Hand durch den Gully, bewegt sie mehrmals hin und her, fühlt nichts, nur eine schreckliche Leere. Er will nicht weinen, presst die Lippen zusammen, kann aber ein Schluchzen nicht unterdrücken; seine Schultern zucken.

    «Was hast du denn, Fabian?», hört er eine Frauenstimme über sich fragen. Er steht auf, wischt sich über die Augen, blinzelt zu der Frau hoch. Es ist Frau Lindner.

    «Ich habe», antwortet er stockend und zeigt zum Gully, «hier zwei Euro verloren. Sind jetzt weg.»

    «Ach, Fabian, das ist doch gar nicht so schlimm. Deswegen brauchst du nicht zu weinen», sagt Anna Lindner und stellt ihre Einkaufstasche auf das Pflaster.

    «Aber ich brauche … ich kann nicht … ich weiß nicht», stammelt er verstört. «Ich sollte doch … die zwei Euro … für ein Weißbrot. Papa wird bestimmt schimpfen.»

    «Deswegen? Das glaube ich nicht.»

    «Doch. Ganz bestimmt. Zwei Euro sind viel Geld. Wir müssen jetzt sparen. Für unser neues Haus.»

    Anna nickt bedächtig, sieht ihn einige Sekunden an, bückt sich und nimmt ein Portemonnaie aus ihrer Einkaufstasche.

    «Weißt du was, Fabian, du kannst das Weißbrot kaufen. Ich gebe dir die zwei Euro», sagt sie, während sie gütig lächelnd in ihr Portemonnaie greift.

    «Echt?», fragt der Junge verdutzt.

    «Ja. Hier hast du zwei Euro. Und ich gebe dir noch zwei Euro extra. Für dein Sparschwein.»

    Mit großen Augen sieht Fabian zu, wie Anna ihm die beiden Geldmünzen in die Hand legt. Er schließt die Hand fest um das Geld, das sich wunderbar anfühlt.

    «Danke, Frau Lindner. Das ist wirklich lieb von Ihnen», sagt er freudestrahlend.

    «Ist schon gut, Fabian», sagt Anna, die ihre Hand ausstreckt, als wollte sie ihm über den Kopf streichen, sie dann aber wieder zurückzieht. «So, ich muss jetzt gehen. Ich habe noch einiges zu besorgen.»

    «Ich auch. Ich geh jetzt zum Bäcker. Tschüss, Frau Lindner.»

    «Tschüss, Fabian.»

    Der Junge geht, die rechte Hand fest um das Geld geschlossen, auf die Bäckerei zu, dreht sich noch einmal um. Frau Lindner ist stehen geblieben und sieht zu ihm hin. Er winkt, sie winkt zurück. Er ist aufgewühlt, geht langsamer, Gedanken wirbeln durch seinen Kopf. Da hat er aber Glück gehabt. So eine liebe Frau. Soll er seinen Eltern sagen, was ihm passiert ist? Ja oder nein? Zwei Euro gehören ihm. Soll er sie wirklich in sein Sparschwein stecken? Oder sich etwas dafür kaufen? Oder seinen Eltern geben für das neue Haus? Er fühlt das Geld, öffnet trotzdem die Hand und vergewissert sich so, dass es tatsächlich noch da ist. Er schließt die Hand wieder und betritt die Bäckerei. Ein köstlicher Duft empfängt ihn. Oder soll er sich jetzt ein leckeres Teilchen mit Pudding kaufen?

    Anna Lindner wirft noch einmal einen Blick in Richtung Bäckerei, kann den Jungen aber nicht mehr hinter den spiegelnden Scheiben erkennen. Sie geht zur linken Seite des Marktplatzes, wo hinter einer Linde ein kleines Textilgeschäft um 20 Prozent reduzierte Waren anbietet.

    Ein reizendes Kerlchen, denkt sie. So einen Enkel hätte sie gern. Schöne braune Augen. Mit langen Wimpern. Weinte wegen lumpiger zwei Euro. Hat Angst vor seinem Alten. Bestimmt ein aufgeblähter Haustyrann. Schreinermeister. Kleinkariert. Auch seine Frau. Ziehen bald weg in eines dieser grässlichen Retortendörfer. Brave Umsiedler, die der Konzern problemlos entschädigen kann. Haben schon alles verkauft. Viel zu früh. Ein großer Fehler. Das wird ihr nicht passieren. Die haben sich von dieser Bande über den Tisch ziehen lassen. Das sind doch Kriminelle. Schlimmer geht’s nicht. Rauben und zerstören ihre Heimat. Es macht sie ganz fertig. Unfassbar. Hier regiert die Braunkohlemafia.

    Anna Lindner geht langsam über den Bürgersteig, der an kleinen, gepflegten Vorgärten vorbeiführt. Es kommt ihr so vor, als würde sie sich vorwärtsschleppen. Eine Müdigkeit, die sie in letzter Zeit öfter befällt, lastet auf ihr, eine seltsame Zerschlagenheit, die einfach da ist, nicht mit körperlicher Anstrengung zusammenhängt. Sie kann sie schon morgens beim Frühstück blockieren. Sie bleibt dann länger sitzen, als sie möchte, fühlt sich wie erstarrt. Sie glaubt, dass ihr tagtägliches Grübeln über das heimatvernichtende Unrecht, das hier herrscht, sie seelisch vergiftet.

    Ihre halb gefüllte Einkaufstasche scheint schwerer geworden zu sein. Sie klammert ihre Hand fester um den Griff, streckt ihren Oberkörper, will nicht wie eine alte Frau wirken, die sich mit gekrümmtem Rücken durchs Dorf müht. Sie muss sich zusammennehmen, darf sich nicht hängen lassen. Sonst geht es ihr noch wie Heike Weber, die wohl schon zu lange alleine lebt und immer schlampiger wird. Sie hat sie vor drei Tagen gesehen. Ein Bild des Jammers. Fettige Haare, die mit einem einfachen Gummiband zu einem stummeligen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Und ein Schlabberkleid mit offenem Saum, das sie noch dünner machte. Schlurfte in billigen Latschen zur Apotheke. Als hätte sie sich schon aufgegeben.

    Anna streicht mit der Hand eine Haarsträhne von ihrer Stirn, beschließt, sich heute noch beim Friseur anzumelden.

    «Tag, Anna!», hört sie Gaby und Horst Berns im Duett rufen, die gerade von der anderen Straßenseite zu ihr überwechseln.

    «Ach, Tag, ihr beiden, ich habe euch gar nicht gesehen», grüßt sie wie erwachend zurück.

    «So in Gedanken versunken?», fragt Gaby mit singendem Tonfall und tätschelt freundschaftlich Annas Rücken. Horst, bärig-behäbig wie immer wirkend, schüttelt ihr etwas zu heftig die Hand.

    «Ich habe nur ein bisschen geträumt», antwortet Anna.

    «Jedem seine Träume», meint Horst gutmütig lächelnd.

    «Sagt mal, Ihr wolltet doch ab heute für ein paar Tage an die Nordsee fahren. Oder habe ich mich da verhört?», fragt Anna.

    «Stimmt schon, Anna. Aber wir fahren gleich erst zu einem alten Freund von Horst nach Mönchengladbach und am nächsten Morgen geht’s dann weiter nach Holland. Nach Egmont», antwortet Gaby.

    «Es ist schön da, noch nicht so überlaufen», meint Anna.

    «Ich freue mich schon aufs Meer», sagt Gaby nickend.

    «Ist gut für meinen Heuschnupfen», meint Horst, nachdem er seine Nase trompetend geschnäuzt hat. «Er macht mir in diesem Jahr mehr zu schaffen als sonst.»

    «Vielleicht ist die Feinstaubbelastung hier größer geworden. Und das könnte dann deinen Heuschnupfen verschlimmern», vermutet Anna.

    «Gut möglich. Es würde mich nicht wundern», sagt Horst.

    «Mich auch nicht», fügt Gaby hinzu. «Wenn es wegen der Braunkohle sein müsste, würde man uns auch noch die Luft zum Atmen nehmen.»

    «Kalt lächelnd. Vor den Kerlen von Energetik ist nichts sicher. Können machen, was sie wollen. Aber man sollte ja doch mal überprüfen lassen, wie hoch jetzt die Feinstaubbelastung ist. Die ist bestimmt größer geworden. Und die Konzentration an Giftstoffen auch. Je verpesteter Luft, desto kränker wird man doch davon», meint Anna.

    «Was bringt das denn, Anna? Selbst wenn man nicht trickst und die richtigen Werte veröffentlicht, würde sich doch sowieso nichts ändern», sagt Gaby.

    «Da hast du recht», bestätigt Anna.

    «Ist leider so», sagt Horst kopfschüttelnd. «Man wird nach Strich und Faden belogen und betrogen.»

    «Und man verjagt uns von hier», sagt Anna mit grimmigem Gesichtsausdruck.

    «Eine Riesensauerei. Ich darf gar nicht daran denken», sagt Horst.

    «Ich auch nicht. Wirklich schlimm. Aber das geht schließlich auch vorbei. Davon lassen wir uns doch nicht kaputtmachen«, sagt Gaby ernst.

    «Nee, das Leben geht weiter. Haben nur eins», meint Horst.

    «Leider. So, Anna, wir müssen. Haben noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen», sagt Gaby.

    «Bestell bitte Richard einen lieben Gruß. Wenn feststeht, wie viel Entschädigung uns Energetik zahlt, dann kann er ja loslegen und ein schönes neues Heim für uns entwerfen. Ich bin gespannt.»

    «Ich auch», sagt Gaby. «Also dann bis Sonntag in einer Woche, Anna. Ingeborg kommt auch zu unserem Kaffeekränzchen.»

    «Ach, doch? Na gut. Schöne Tage in Holland wünsche ich euch beiden.»

    Sie verabschieden sich Hände schüttelnd, gehen in entgegengesetzter Richtung weiter. Anna kommt an dem mit wildem Wein bewachsenen Haus der Gemeindeverwaltung vorbei, beachtet nicht das zu große Denkmal eines stolzgereckten, außerhalb der Ortsgrenzen vergessenen Grafen. Wieder hat sie gemerkt, wie gut sich Gaby und Horst gehalten haben. Sie machen aus allem das Beste. Unternehmen viel. Man muss fit bleiben. Sie fragt sich, wie lange sie schon verheiratet sind, weiß es nicht mehr genau, vermutet, dass es schon mehr als 40 Jahre sein können. Und verstehen sich noch immer. Schlafen auch noch miteinander. Da ist noch viel Nähe. Eine Rarität. Aber mit Carsten hätte sie das auch länger erlebt. So einen gibt’s nicht noch einmal. Mindestens bis 85, hat er gesagt. Aber mit 61 war schon alles vorbei. Ein Schuss und dann war Schluss. Ganz plötzlich. Vor vier Jahren. Auf der Jagd. Kopfschuss. Und sie hat’s mitten ins Herz getroffen. Sie wird sich nie davon erholen. Aushalten, alles aushalten, nur darum geht es.

    Anna bleibt stehen, lässt einen Kleinlaster und ein Motorrad vorbeifahren, wechselt zur anderen Straßenseite über. Sie weicht einer Frau mit einem Kinderwagen voller Babygeschrei aus, die es eilig zu haben scheint. Mehrere Meter hinter ihr stakst ein aufblühendes Mädchen über das Pflaster, aus ihrem Kopfhörer schallt Rockmusik. Es erinnert Anna an ein junges Fohlen. Vielleicht 14 oder 15 Jahre alt. Naiv und sonnig. Voller Träume. Unverbraucht. Hat noch das ganze Leben vor sich.

    Es ist ein schöner, für Anna nicht zu warmer Sommertag. Ein paar wattige Wolken driften langsam über den blauen Himmel. Gedankenverloren geht sie an einer weiß lackierten Bank vorbei, die von zwei gestutzten Kugelahornen flankiert wird.

    So ein schöner Tag. Aber wie soll sie ihn denn genießen? Keinen Tag kann sie hier mehr genießen. Das schafft niemand, auch wenn man ein noch so dickes Fell hat. Was wäre, wenn sie jetzt eine Reise machen würde? Um Abstand zu gewinnen. Vielleicht sollte sie auch ein paar Tage ans Meer fahren. Von allem nichts mehr sehen und hören. Weit genug weg von dieser Folter, die sie tagaus, tagein quält. Am Meer spazieren gehen, auf den Wind hören, gut essen und schlafen in einem kleinen, gemütlichen Hotel. Auf Amrum, wie früher zusammen mit Carsten. Zum ersten Mal ohne ihn. Nein, sie kann nicht alleine sein. Erst recht nicht auf Amrum. Da würde sie nur das heulende Elend bekommen und Gespenster sehen. Ach, sie könnte jetzt auch gar nicht verreisen. Sie muss wissen, was hier weiter passiert, muss dabei sein, auch wenn’s kaum zu ertragen ist.

    Die Mittagssonne strahlt sie direkt an, überzieht ihr Gesicht mit spannender Wärme. Es ist gerötet. Sie befühlt kurz ihre Stirn, nein, sie schwitzt doch nicht. Aber sie spürt eine große Müdigkeit, die ihren Körper beschwert und ihren Schritt verlangsamt. Am liebsten würde sie sich auf die nächste Bank setzen. Sie versucht sich zusammenzureißen, will nicht wie eine müde alte Frau wirken. Als hätte sie ein Schlafmittel genommen.

    Anna trägt ein langärmliges, filigran gemustertes Sommerkleid. Stoff und Schnitt zeugen von Qualität. Ihre braunen, weichledrigen Schuhe und ihre gleichfarbige Umhängetasche ziert das kleine Signet eines Modehauses. Die halb gefüllte Einkaufstasche in ihrer Rechten hält sie fest umklammert, aus Furcht, sie könnte ihr entgleiten. Sie wirkt wie eine sehr gepflegte Frau in mittleren Jahren, für die eine zurückhaltende Eleganz zum Alltag gehört. Ihr ist nicht anzusehen, dass sie sich schon längere Zeit elend fühlt. Ein schwacher Trost für sie. Trotz allem hat sie sich gut gehalten. Sie hat ihr Gesicht und ihre Figur nicht verloren, wie so viele, die nicht mehr wiederzuerkennen sind, wenn man ihnen nach langer Zeit wieder begegnet. Ihr gleichmäßiges, vom Alter kaum gezeichnetes Gesicht und ihr schlanker Körper lassen sie jünger erscheinen, als sie ist. Nicht wie 63, das hört sie öfter, und sie hört es natürlich gern. Aber wie lange noch? Sie befürchtet, dass sich schon bald Leidensspuren in ihr Gesicht graben werden. Es ist ja ein andauerndes, verzweifeltes Sichwehren gegen einen übermächtigen Gegner. Eine Art Belagerungszustand, bei dem die Niederlage nicht mehr zu verhindern ist. Sie merkt, wie sie davon unterhöhlt wird. Wahrscheinlich mehr als die meisten anderen hier. Schlimmer geht’s kaum. Es lässt sie nicht los. Sie kann es nicht ändern. Und auch kein salbungsvoller Seelenonkel, der sich einbildet, alles wegtherapieren zu können, was einen Menschen fertigmacht.

    Mit finsterer Miene blickt sie zu dem fachwerkverzierten Haushaltswarengeschäft, das am Ende der Straße steht, grüßt knapp den dösigen, zerfurchten Witwer Peters hinter der Schaufensterscheibe, der zusammen mit seinen Waren altert. Sie zieht mit einer abrupten Bewegung den Ärmel ihres Kleides hoch, sieht auf ihre Uhr. Noch knapp drei Stunden, dann kommt wieder dieser Windbeutel Efferen. Will weiter den Verkaufspreis drücken. Da ist er bei uns aber an der falschen Adresse. Wir lassen uns von dem nicht betrügen. Nur ein schleimiger Handlanger der Braunkohlemafia. Hat eine Stimme, als hätte er Kreide gefressen. Ich werde zu ihm ganz unfreundlich sein. Und Richard wird knallhart verhandeln. Der wird sich wundern.

    Auf dem Weg zum Parkplatz geht sie durch eine Schatten spendende Platanenallee. Die Mittagshitze scheint verschwunden zu sein. Sie mag diese Allee, im Sommer kommt sie ihr wie eine lange grüne Laube vor, und im Winter erinnern sie die alten Bäume an bizarre Statuen. Sie verlangsamt ihren Schritt, betrachtet die Allee, durch die sie, ach, wie oft wohl schon gegangen ist. Ein Anblick, den sie erst genießt, der sie dann aber betrübt. Schön hier. Was ganz Besonderes. Schon zig Jahre alt. Aber bald gibt’s hier keine Platanen mehr. Werden verschwinden. Einfach weggebaggert. Wie alles andere hier. Es ist schlimmer als ein Krieg. Als hätte es Anfelden nie gegeben. Nichts wird übrig bleiben. Kein bisschen Erde. Nichts.

    Sie schüttelt den Kopf wie jemand, der etwas nicht wahrhaben will. Sie holt den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche, zögert kurz, bleibt stehen, verstaut ihn wieder, dreht sich um und geht mit jetzt schnelleren Schritten zum Marktplatz zurück. Zuhause hat sie noch zwei Flaschen Rotwein. Und eine Flasche Kräuterlikör. Doch das ist ihr zu wenig. Sie sollte sich einen Vorrat anlegen. Vorsichtshalber. Richard wird schon nichts merken. Sie öffnet die Tür des fast leeren Lebensmittelgeschäfts, geht entschlossen zur Spirituosenabteilung. Sherry und Weißwein wird sie jetzt kaufen. Sie braucht den Alkohol, kann’s nicht ändern. Ist eben Balsam für sie. Wie sonst könnte sie alles aushalten? Was hier passiert, zermürbt sie. Nur wegen dieser verfluchten Braunkohle. Energetik macht einem das Leben zur Hölle. Manager, die wohl auch über Leichen gehen würden. Wer weiß. Es ist zum Verrücktwerden.

    Am Stadtrand von Aachen fährt Richard Lindner an einem Gewerbegebiet und angrenzenden, zusammengewürfelten Gebäuden vorbei. Eine Gegend, die ohne Gestaltungskonzept zu einem Baubrei verkommen ist. Aachen zählt für ihn zu den ansehnlichen Großstädten, verliert aber hier jeden Reiz. Es ist einer der üblichen architektonischen Sündenfälle, die aus dem Gesicht einer Stadt eine Fratze machen. Doch das stößt Richard nicht mehr ab, dagegen hat er sich abgehärtet. Früher war es ein visueller Schock für ihn, heute nimmt er es nur noch achselzuckend wahr. Er biegt von der stark befahrenen Bundesstraße in eine Landstraße ein, die eine kleine Ortschaft zerschneidet. Die Umgebung wird grüner, landwirtschaftliche Flächen gliedern sie.

    Richard schaltet den CD-Player ein, ein Piano erklingt, begleitet seine Fahrt mit Jazzrhythmen. Nur lose zusammenhängende Gedanken tändeln durch seinen Kopf, Reste eines früher als normal beendeten Arbeitstages, der ihm schwergefallen ist. Er war unkonzentriert, klammerte sich an seine Routine. Wahrscheinlich hatte es niemand gemerkt, dass er mit seinen Gedanken manchmal ganz woanders war. Das Gespräch mit Efferen heute Nachmittag, bei dem er um den Verkaufspreis seines Hauses feilschen muss, ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Auch heute Nacht nicht, jetzt fehlt ihm Schlaf. Zuhause wird er sich noch hinlegen, bevor Efferen kommt. Bis fünf ist noch genug Zeit. Dem wird er es zeigen. Ein Kompromiss kommt für ihn nicht infrage.

    Die Monotonie der Fahrgeräusche und die langsam perlenden Klaviertakte wirken auf Richard entspannend. Er blickt kurz zu einer entwurzelten alten Buche am Straßenrand, die dort wie besiegt liegt, konzentriert sich dann wieder auf das Fahren. Der Verkehr ist abgeflaut, die Temperatur im Wagen heruntergeregelt. Richard ist leger angezogen. Zu seiner hellgrauen Leinenhose trägt er ein gestreiftes, krawattenloses Hemd. Er besitzt keine Krawatten, findet sie lächerlich. Sie kommen ihm wie stilisierte Schlabberlätzchen vor. Nur in seltenen Fällen, wenn mehr dafür spricht als dagegen, beengt er seinen Hals mit einer pathetischen Fliege. Er richtet sich nach keiner Mode.

    Dass er Annas Sohn ist, sieht man ihm deutlich an. Sein Gesicht ist nicht ganz so ebenmäßig geschnitten, dafür sind seine Züge markanter. Seine großen, braunen Augen dominieren sein gebräuntes Gesicht. Zwei noch unvertiefte senkrechte Falten haben sich zwischen den Augenbrauen gebildet. Er hat eine gewölbte Stirn, was von dem hohen Haaransatz noch betont wird. Seinen schlanken, mittelgroßen Körper hält er mit Joggen und Gymnastik in Form.

    Die Freisprechanlage summt. Im Display sieht er Birgits Nummer. Ein Lächeln erscheint in seinem Gesicht.

    «Hallo Birgit», sagt er.

    «Hallo Richard. Wo steckst du? Im Büro habe ich dich nicht erreichen können», sagt sie mit überhastet klingender Stimme.

    «Ich bin schon auf dem Weg nach Hause. Habe mir heute Mittag freigegeben, weil ich nicht in Form war.»

    «Warum? Was hast du denn?», fragt sie.

    «Nichts. Ich bin nur müde. Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen», antwortet er.

    «Weil du nicht bei mir warst.»

    «Ja. Das auch.»

    «Dieser ganze Braunkohle-Irrsinn», sagt sie nach einer kurzen Pause, «belastet dich doch wohl mehr, als du zugibst.»

    «Ich hab’s im Griff.»

    «Hoffentlich. Du rufst mich ja heute Abend an und sagst mir, was du bei dem Kerl von Energetik erreicht hast.»

    «Na klar.»

    «Sollen wir morgen bei mir zusammen etwas kochen oder lieber essen gehen?»

    «Lieber essen gehen. Ist bequemer.»

    «Das finde ich auch. Danach gibt es bei mir noch ein rein privates Menü.»

    «Ich kann’s kaum erwarten.»

    «Du fehlst mir. Vom Bauchnabel aus nordwärts und natürlich auch südwärts.»

    Richard lacht kurz auf.

    «Genau da fehlst du mir auch», sagt er.

    «Wann bist du zu Hause?», fragt sie.

    «In ein paar Minuten», antwortet er. Im Rückspiegel sieht er ein Motorrad, das auf ihn zurast. «Heute Abend telefonieren wir länger.» Das Motorrad überholt, umdröhnt ihn.

    «Viel länger. Ich drück dich.»

    «Ich dich auch. Bis später.»

    «Bis später, Richard.»

    Helle Rauchmassen wuchern in der Ferne zum blauen Himmel, umlagern wie weiße Wolkenberge die Sonne. Die qualmenden, alles andere überragenden Kohlemeiler des veralteten Kraftwerks kann Richard Lindner jetzt deutlich erkennen, als er durch das rechte Seitenfenster blickt. Langsam, wie in Zeitlupe, quellt Wasserdampf hoch, wird von der Sonne angestrahlt. Er sieht hell aus, geradezu sauber, ist aber in Wirklichkeit eine gewaltige Dreck- und Giftstofferuption. Im Kraftwerk wird die Braunkohle zur Energiegewinnung verfeuert, die von riesigen Schaufelradbaggern zutage gefördert wird, Braunkohle, die dort lagert, wo einst Dörfer standen. Jedes Mal, wenn Richard hier entlangfährt, muss er daran denken. Ein weithin sichtbares Zeichen des Braunkohle-Irrsinns, mit dem die Energetik AG seit Jahrzehnten diese Region hemmungslos verwüstet. Feinstaub, Kohlendioxid und sogar radioaktive Partikel vermischen sich in einem Industrie-Cocktail, der katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt hat. Schon längst erkannt, wissenschaftlich bewiesen, doch nichts ändert sich. Wirtschaft und Politik setzen weiterhin mit aller Macht ihre gemeingefährlichen Interessen durch. Jeder Widerstand ist gescheitert.

    Was hat man nicht alles versucht, denkt Richard. Nichts hat diese skrupellose Ausbeutung stoppen können. Wir haben letztendlich keine Chance. Sind Opfer. Wie hier Interessen durchgesetzt werden. Wie in einer Diktatur. Rücksichtslos. Staats- und Industriekriminelle. Eine Bande. Profitgierig, menschenfeindlich und korrupt. Das hat ja Tradition. Zum Kotzen.

    Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickt er noch einmal kurz zu den Rauch speienden Kohlemeilern, die das niederrheinische Landschaftsbild verschandeln, achtet dann wieder auf den vor ihm fahrenden Traktor, der abbremst und in einen Feldweg einbiegt. Mais- und Kornfelder säumen die Landstraße. Ein Bauernhof und vereinzelt stehende Häuser sind die einzigen Gebäude in der Nähe. Richard mag diese Gegend, die ihm seit seiner Kindheit vertraut ist. Sie zeigt ihm zwar keine landschaftlichen Attraktionen, besitzt jedoch eine ihm angenehme, auf das menschliche Maß beschränkte Einheitlichkeit unter einem weiten Himmel. Eher eine Kulturlandschaft. Nur der Himmel bleibt. Alles andere wird zerstört, spurlos verschwinden. Als hätte es diesen Lebensraum nie gegeben. Nur noch ein kilometerweites tiefes Loch. Kaum zu glauben. Richard verbietet sich jetzt, länger daran zu denken, was seit drei Jahren wie eine Infektion sein Bewusstsein befallen hat. Es besetzt immer wieder sein Denken, kostet ihn Kraft, belastet ihn. Es gehört schon zu lange zu seinem Alltag, prägt ihn mit, verdüstert ihn. Doch davon darf er sich nicht mehr so negativ beeinflussen lassen. Es reicht, ist ja sowieso nicht mehr zu ändern. Daran muss er sich noch gewöhnen. Wütend, aber machtlos. Jetzt weiter zu lamentieren und wegen der Willkür der Braunkohle-Connection in Trübsinn zu verfallen, wäre grundfalsch, reine Zeit- und Energieverschwendung. Eine Schwäche, die er später bereuen würde. Er ist an einer dramatischen Lebenswende angelangt, die er mit Besonnenheit meistern will.

    Richard Lindner, 41 Jahre alt, hat sein Leben nach seinen eigenen Entwürfen gestalten können. Deswegen fühlt er sich privilegiert, bildet sich darauf aber nichts ein. Er weiß sein Leben zu genießen. Er nimmt an, dass ihm eine schon recht stabile Konstruktion gelungen ist, die er weiterhin überprüft und verbessert. Er ist Architekt, schon als Kind wollte er es werden. Für ihn gibt es keinen besseren, auf seine Fähigkeiten und Neigungen abgestimmten Beruf. Es ist ein Spiegel, in den er gern blickt. Intelligenz, Kreativität, Schönheitssinn und eine gewisse Zeitgeist-Orientierung prägen sein Berufs- und Privatleben. Er ist erfolgreich, sieht gut aus und hält sich fit, was zu seinem fundierten Selbstbewusstsein beiträgt. Richard bezeichnet sich selbst als einen konstruktiven Menschen, weil das Entwerfen, Berechnen und Gestalten zu ihm gehört. Er ist davon überzeugt, dass er ein sinnvolles, am Positiven ausgerichtetes Leben führt. Gedanken, die Architektur und Natur miteinander verknüpfen, ziehen ihn an. Wahrscheinlich folgt die Natur bei ihren Bauplänen ja einem variablen Konstruktionsprinzip, das nie richtig zu entschlüsseln ist.

    Wenn sein Leben nicht so verläuft wie geplant, dann verarbeitet er das mit Einsicht und Disziplin. Er ist flexibel, vertritt aber auch energisch seine Überzeugungen. Weil er frühzeitig seine romantischen Illusionen durchschaut hat, leidet er nicht darunter, dass seine Ehe schon länger an scheidungsträchtigen Verschleißerscheinungen krankt, ihr Endstadium wahrscheinlich erreicht hat. Er muss nur noch konsequenter sein.

    Anders als andere zuvor, bietet ihm Birgit, seine neue Freundin, mehr als nur einen entspannenden Ausgleich zu seinem Ehekrampf. Birgit hat ihn überrascht, ihre Beziehung ist tiefer als erwartet. Jedes Mal, wenn er mit ihr zusammen ist, spürt er eine Nähe, die ihn beflügelt. Ein verheißungsvoller Neubeginn.

    Richard sagt sich, dass er mit seinem Leben eigentlich zufrieden sein könnte. Denn es wird ja von den Inhalten und Formen bestimmt, die für ihn wichtig sind, zu ihm gehören. Wenn es nur nicht dieses eine Drama gäbe, das seine Lebensfreude untergräbt, ihn belastet und erbost.

    Es ist dieser maßlos ausufernde Braunkohle-Schwachsinn, gegen den jeder Widerstand gescheitert ist, der den Lebensraum tausender Menschen vernichtet. Er, als konstruktiver Mensch, muss ertragen, dass auch er davon betroffen ist, ein Opfer dieser unaufhaltsamen Destruktion.

    Richard biegt von der Landstraße in eine holperige Nebenstraße ein, die an einer großen Pferdekoppel mit angrenzender Reithalle vorbeiführt. Über einem Waldstück kreist ein Bussard. Hinter Gebüsch am Rand einer Viehweide steht ein Hochsitz. Richard fährt an mehreren alten Pappeln vorbei, die in einer aufgelockerten Reihe die Straße flankieren. Seine Lieblingsbäume, sie haben eine klar strukturierte Schönheit, Grazie, erinnern ihn mit ihrem hochstrebenden schmalen Astwerk an die Zypressen der Toskana. Zwei jüngere Pappeln, die er vor sieben Jahren selbst gepflanzt hat, stehen nebeneinander an der Einfahrt zu seinem Haus. Er fährt langsam an der mächtigen Blutbuche vorbei, die, von der Sonne lackiert, den vorderen Teil des Parks beherrscht. Ziersträucher und Rosen unterteilen harmonisch die große Rasenfläche vor seiner Villa. Sie wird von Jugendstilelementen geprägt, die reizvoll die drei Geschosse umspielen. Ihre reiche, aber auch maßvolle Formensprache lässt sie nicht überladenen und süßlich erscheinen wie andere Bauwerke dieses Stils.

    Mit all seinem architektonischen Können hat Richard die Architektur dieser denkmalgeschützten Villa aus dem Jahr 1910 nicht nur bewahrt, sondern noch verbessert. Er betrachtet sie auch als sein Werk. Ohne seine Sanierungs- und Renovierungsmaßnahmen wäre sie weiter vernachlässigt worden und im Laufe der Zeit architektonisch dahingesiecht. Sie ist ein Baukunstwerk geworden, gelungener als je zuvor. Eine ästhetische Freude für ihn, ein Zuhause, das ihm alles zu bieten schien, lebenslang wollte er dort wohnen bleiben. Eine Illusion, die an einem brutalen Machtmissbrauch zerschellt ist. Der Braunkohlentagebau wird auch seine Jugendstilvilla vernichten. Wenn er sie betrachtet, mischen sich in ihm oft Wut und Schmerz. Auch jetzt wieder.

    Bald wird hier die Abrissbirne von Energetik wüten, denkt er, als er aus dem Wagen steigt. Die totale Destruktion. Denkmalschutz zählt überhaupt nicht mehr. Nichts wird davon übrig bleiben, was er hier als Architekt mitgestaltet hat. Er hängt an dem Haus und dem Grundstück, Eigentum und Heimat zugleich für ihn. Das alles hier wird er verlieren. Und dafür soll diese Bande den Höchstpreis zahlen. Er wird nicht nachgeben. Wenn er richtig taktiert, kann er beim Vertragspoker gewinnen. 950000 Euro wird er gleich wieder fordern und keinen Cent weniger. Energetik kann das locker zahlen.

    Das Licht der Nachmittagssonne zeichnet Schattenbilder der Sprossenfenster auf den Terrakottaboden in der Küche, auf den Anna ihre Einkaufstasche gestellt hat. Hastig verstaut sie drei Flaschen in dem Schrank unter der Spüle. Sie blickt aus dem Fenster, Richard ist schon fast an der Haustür. So früh hat sie ihn nicht erwartet. Puh, das war knapp. Gut, dass sie die Flaschen noch bei den Haushaltsreinigern verstecken konnte. Würde er sie sehen, würde er schimpfen. Er meint es ja gut, macht sich Sorgen. Aber sie braucht jetzt den Alkohol. Wie sonst könnte sie das alles aushalten? Ist eine andauernde Folter. Manchmal würde sie am liebsten schreien, sich ausschreien. Das ist doch kein Leben mehr. Diese verfluchte Braunkohle. Ruiniert alles. Irgendwie muss sie es ertragen. Der Alkohol hilft ihr dabei. Nein, sie wird ganz bestimmt nicht zur Trinkerin. Sie passt ja auf. Sie hat alles noch gut im Griff.

    «Hallo, Mutter», sagt Richard, kurz seine Hand auf ihre Schulter legend. Sie lächelt nervös, fährt sich durchs Haar, blickt ihn nicht an.

    «Na du. So früh, Richard?», fragt sie und bückt sich zu einer Einkaufstasche.

    «Ja. Ich war zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich musste zu viel an das Verkaufsgespräch gleich denken. Habe heute Nacht auch schlecht geschlafen.»

    «Ich auch», sagt sie, in der Einkaufstasche kramend.

    Richards Gesicht wird ernst, er macht einen Schritt nach vorn, um besser in die Tasche blicken zu können.

    «Was ist denn das da für eine Flasche?», fragt er auf einen Flaschenhals zeigefingernd, der aus Lebensmitteln herausragt.

    «Das ist weißer Traubensaft. Beste Qualität», antwortet sie mit einem überlegenen Lächeln.

    «Ach so. Ich dachte –»

    «Falsch gedacht», unterbricht sie ihn barsch. «Du brauchst mich nicht zu kontrollieren. Ich bin alt genug. Ich weiß, was ich tue.»

    «Du trinkst zu viel.»

    «Nein.»

    «Doch. Gestern Abend hast du eine ganze Flasche Rotwein getrunken.»

    «Du sollst mich nicht kontrollieren. Ich bin kein kleines Kind», sagt sie mit trotziger Stimme.

    «Ist aber nötig», erwidert er und lässt seinen Blick suchend in der Küche umherschweifen.

    «Richard, keine Bange. Ich habe alles im Griff. Wirklich.»

    «Scheint mir aber nicht so.»

    «Lass uns jetzt nicht streiten.» Anna blickt zur Küchenuhr. «Viertel nach drei. Um fünf kommt der Kerl von Energetik. Wie heißt der noch mal? Ellersen oder so.»

    «Efferen», antwortet Richard, seine Arme verschränkend.

    «Ich kann ihn nicht ausstehen. Wie fein der tut. Als wollte er nur unser Bestes. Ist aber einer der miesesten Figuren von Energetik. Versucht die Menschen hier über den Tisch zu ziehen. Ein Betrüger. Drückt den Wert der Häuser, wie er nur kann», sagt Anna grimmig.

    «Das wird ihm bei uns nicht gelingen», meint Richard. «Wenn wir schon verkaufen müssen, dann aber nur zum absoluten Höchstpreis.»

    «Genau», bestätigt Anna, überlegt kurz. «Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, dann würde man den ganzen Laden zerschlagen. Erst zwingen sie die Menschen, hier alles aufzugeben, und dann wollen sie ihnen noch nicht einmal das zahlen, was ihre Häuser wert sind. Sind eine gemeine Bande.»

    «In der Tat. Setzen rücksichtslos ihre Interessen durch. Und das mit politischer Rückendeckung. Haben eine Lizenz zur Heimatvernichtung. Aber das wissen wir ja schon seit Längerem», sagt Richard und mustert seine Mutter nachdenklich. Sein prüfender Blick verunsichert sie. Was denkt er bloß? Glaubt er, dass sie wieder getrunken hat?

    «Mutter, du hältst dich doch gleich zurück?»

    «Werd’s versuchen.»

    Richard sieht seine Mutter skeptisch an, überlegt kurz.

    «Es ist besser, wenn ich zuerst alleine mit ihm rede. Etwa eine halbe Stunde. Du kommst später, bringst uns dann einen Kaffee und versuchst, ruhig zu bleiben. Auch wenn du innerlich kochst.»

    «Versprochen.»

    «Du kannst uns ja auch deinen leckeren Apfelkuchen servieren.»

    «Was? Meinen selbst gebackenen Apfelkuchen?», ruft Anna aus, theatralisch ihre Arme hochwerfend. «Den kriegt doch so ein Mistkerl nicht. Man kann es auch übertreiben, Richard. So freundlich brauchen wir nicht zu sein. Bringt sowieso nichts.»

    «Schon gut, Mutter. Du hast recht. Der Kaffee genügt.»

    «Das meine ich auch.» Sie zieht den Küchenstuhl zu sich, setzt sich, legt die Arme auf den Tisch, streckt die Beine aus.

    «Du scheinst müde zu sein. Hast du heute wieder alles auf Hochglanz poliert?», fragt Richard und lässt seinen Blick durch die Küche schweifen. Ihre ganz in Weiß gehaltene moderne Ausstattung steht in einem reizvollen Kontrast zu den hohen, rustikal verputzten Wänden und den rundbogigen Sprossenfenstern.

    «Ja. Das lenkt mich ab. Und ich mache es ja auch gern. So eine schöne Küche werden wir wohl nicht mehr haben. Allein der Raum ist schon ein Gedicht.»

    «Ja. Ist etwas ganz Besonderes», sagt Richard. «Auch wegen des Lichts. Wenn ich daran denke, wie schlecht damals die Sprossenfenster –», er unterbricht sich, winkt ab. «Ach, das ist jetzt nicht so wichtig.»

    «Sag mal, Richard», fragt Anna nach kurzem Schweigen, «wird Iris heute wirklich nicht bei dem Verkaufsgespräch dabei sein?»

    «Das schafft sie nicht. Sie kommt erst gegen sieben zurück. Hat noch eine Besprechung», antwortet Richard.

    «Eine Besprechung. Na ja», sagt Anna betont mehrdeutig und sieht Richard nachdenklich an. «Ihr habt gestern wieder gestritten. Und es wurde ziemlich laut.»

    «Ging so. Es wurde zwar laut, hielt sich aber in Grenzen.»

    «Versucht, weniger miteinander zu streiten. Bringt doch nichts. Ihr wisst ja beide, dass ihr euch auseinandergelebt habt.»

    «Stimmt.»

    «Ach, Richard, das ist kein schönes Leben mehr hier. Ganz anders als früher. Eine Atmosphäre zum Davonlaufen. Jetzt geht aber auch wirklich alles den Bach runter.»

    «Übertreib nicht.»

    «Es ist aber so. Wollt ihr euch scheiden lassen?», fragt Anna.

    «Ist noch alles offen», antwortet Richard ausweichend. Er will jetzt nicht mit seiner Mutter über seine aus den Fugen geratene Ehe sprechen.

    «Das wäre vielleicht besser so. Iris hat schwer nachgelassen. Sie ist richtig giftig geworden. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Und Kinder kann sie sowieso nicht bekommen. Ich hätte zu gern Enkelkinder», sagt sie und blickt aus dem Küchenfenster. Sie muss an den kleinen Fabian denken, dem sie vorhin im Dorf begegnet ist.

    «Fang doch nicht schon wieder damit an», sagt Richard, unwillig seinen Aktenkoffer ergreifend. «Ich gehe jetzt nach oben, entspanne mich ein bisschen, bevor Efferen kommt.»

    «Mach das. Und dann zeig’s ihm. Richard, Sekunde, was ich dir noch erzählen wollte. Du kennst doch die Glandows?»

    «Flüchtig.»

    «Fabian, ihren kleinen Sohn, habe ich vorhin im Dorf getroffen. So ein süßes Kerlchen.» Sie schweigt kurz, lächelt gedankenverloren. «Er tat mir richtig leid. War ganz am Boden zerstört.»

    «So? Und warum?», fragt Richard uninteressiert.

    «Er weinte ganz bitterlich. Nur weil er lumpige zwei Euro verloren hat. Sie sind ihm in den Gully gefallen. Er hatte Angst vor einem Donnerwetter zu Hause. Ich habe ihm zwei Euro gegeben, damit er keinen Ärger bekommt. Und auch noch zwei Euro dazu, nur für ihn. Wie der mich mit seinen großen Kulleraugen angestrahlt hat!»

    «Du bist ihm wohl wie ein Engel erschienen», sagt Richard seine Mutter anlächelnd. «Und du hast dich darüber gefreut, dass du ihm helfen konntest.»

    «Ja. Es war ein gutes Gefühl. Vielleicht das Beste vom ganzen Tag. Wenn ich so ein Enkelchen hätte, dann würde ich mich –», sie bricht ab, macht eine resignierende Handbewegung.

    Richard geht zu seiner Mutter, umarmt sie, weiß nicht, was er sagen soll.

    «Ist schon gut, Richard. Nicht so wichtig», sagt sie, entwindet sich und bückt sich zur Einkaufstasche hinunter.

    «Wir schaffen das alles, Mutter», sagt er mit leiser Stimme. Bevor er die Küchentür öffnet, dreht er sich noch einmal nach seiner Mutter um. Als wäre ihr alles zu viel geworden. Mit düsterem Gesichtsausdruck und kraftlosen Bewegungen legt sie Lebensmittel auf den runden Küchentisch.

    Als er in der hallenartigen Diele die Treppe hochsteigt, kommt er sich wie jemand vor, der ungerecht verurteilt worden ist. Ein Gefühl der Ohnmacht befällt ihn. Das Urteil steht ja schon längst fest. Die Zeit läuft ab. Das alles hier wird er verlieren. Er muss verkaufen, einem juristisch abgesegneten Zwang zustimmen. Sonst würde man ihn enteignen. Wie alle anderen. Zustände wie in einer Bananenrepublik. Jeder Widerstand wäre zwecklos. Er ist das Opfer einer offiziellen Erpressung geworden. Gebeugtes Recht.

    Als er das Obergeschoss erreicht, bleibt er auf dem Flur stehen und fährt mit der rechten Hand über den schneckenförmig endenden Handlauf der Treppe. Nicht mehr lange wird er das glatte, schön geschwungene Holz anfassen, nicht mehr lange die Treppe hochsteigen und den besonderen Charakter dieses Raumes genießen. Er hat ihn mit viel Aufwand umgebaut und gestaltet. Er bildet das großzügige und eindrucksvolle Zentrum der Villa. Die in einem weiten Bogen nach oben gestufte Jugendstil-Holztreppe gliedert den Raum, wirkt elegant und schwebend. Trotz der außergewöhnlichen Maße strahlt die von der Treppe bestimmte riesige Diele eine einladende Atmosphäre aus. Großformatige abstrakte Bilder hängen an den Wänden, Kleinmöbel im Art-déco-Stil sind zurückhaltend platziert. Ein wuchtiger, schmiedeeiserner Kronleuchter hängt an der Stuckdecke, bildet einen Blickfang im Eingangsbereich. Die Maserung des weißen Marmorbodens sieht wie filigranes Astwerk aus. Hohe schmale Fenster, die vom Erd- bis zum Dachgeschoss symmetrisch angeordnet sind, lassen viel Tageslicht einfallen.

    Richards Blick schweift durch den Raum, während er langsam auf sein Zimmer zugeht. Trübe Gedanken sammeln sich in seinem Kopf. Wie viel Aufwand ihn allein schon der Umbau gekostet hat! Und Geld. Dieses Planen, Verwerfen und Verbessern, um seine Vorstellungen zu realisieren. Umgebaut und renoviert, schön gemacht für die Zerstörung. Er besitzt ein Baudenkmal ohne Zukunft, weniger geschützt als eine schäbige Mietskaserne. Richard schüttelt den Kopf über sich selbst. Wie naiv er gewesen ist. Ein träumender Architekt. Es sollte ein Haus fürs Leben werden. Ein außergewöhnliches, denkmalgeschütztes Heim für ihn und seine Familie, auf das er stolz sein konnte. Ein Schmuckstück mit Platz in Hülle und Fülle. Doch das Leben, das er sich ausgemalt hat, ist eine Wunschvorstellung geblieben, zertrümmert von einer Wirklichkeit, die ihn anwidert. Seine Ehe löst sich mit den üblichen, abgedroschenen Verfallserscheinungen rasant auf, ein Familienleben wird es in diesem Haus nie geben, bald wird es dem Erdboden gleichgemacht und um eine angemessene Entschädigung für die Vertreibung von hier muss er gleich feilschen. In was für eine Lage er geraten ist! Nicht zu fassen! Es ist eine Katastrophe, an die er sich irgendwie gewöhnen muss. Keine Chance, es zu ändern.

    Als würde es eine Beleuchtungsdramaturgie geben, fallen Sonnenstrahlen schräg durch die hohen, schmalen Fenster in die riesige Diele, schaffen Lichteffekte. Richard stellt seinen Aktenkoffer ab, stützt die Arme auf das Holzgeländer, blickt nach unten. Er spürt Leere. Wie sinnlos hier alles geworden ist! Endstation. Die Frau, die er einmal geliebt hatte, mutiert immer mehr zu einer Xanthippe. Und er? Nur noch ein enttäuschter und genervter Ehemann. Erst Anziehung, dann Abstoßung. Eine Bruchlandung der Gefühle. Was verbindet sie eigentlich noch? Öder Alltagstrott und sporadischer Sex. Dazu die unvermeidlichen Ehegewitter. Nicht mehr zu sanieren. Er sollte sich scheiden lassen. Das übliche Ehefiasko. Rien ne va plus. Aber halb so wild. Sie haben sich entzweit und werden sich auch nicht vermissen. Dass er seine Villa verliert, das macht ihm weitaus mehr zu schaffen. Dieser verdammte Braunkohlentagebau! Wenn er das gewusst hätte! Er nimmt den Aktenkoffer wieder in die Hand, und an moderner Kunst vorbei, geht er auf die weiße Kassettentür seines Zimmers zu. Fatalistisch atmet er lange durch den Mund aus. Ja, seine Mutter hat recht. Hier geht jetzt alles den Bach runter.

    Das rechtwinklig geschnittene Wohn- und Esszimmer ist der größte Raum im 115 Quadratmeter großen Dachgeschoss, das nur Anna Lindner bewohnt. Panoramafenster, der Wechsel von geraden und schrägen Wänden, die Stützkonstruktion von weiß lackierten Balken und die geschmackvolle Möblierung verleihen dem Zimmer eine für Anna einzigartige Atmosphäre, die sie lange genossen hat. Doch das frühere Wohlbehagen, diese tiefe Freude, hier zu wohnen, kann sie nicht mehr empfinden. Es wurde abgelöst von einer Abschiedsstimmung, die ihr oft die Kehle zuschnürt. Etwas sehr Schönes, das nicht bleibt, sondern unrettbar verloren geht. Sie starrt von ihrem Sessel auf das nur wenig bewegte Grün der Baumkronen, überlässt sich peinigenden Gedanken, die wieder darum kreisen, dass sie von hier vertrieben wird. Auf einem kleinen Beistelltisch stehen eine Flasche Sherry und ein leeres Glas. Aufseufzend schenkt sie sich nach, trinkt.

    Süß schmeckt er ja, etwas zu süß. Keiner wird’s merken. Richard würde schimpfen, denkt Anna. Eine Art Wärme durchrieselt sie. Langsam trinkt sie den Sherry, mehr am Glas nippend, um den Genuss auszudehnen und diese grässliche Bitterkeit in ihr zu überdecken. Sie blickt zur kleinen Uhr auf dem Sekretär, eine französische Antiquität, die ihr Richard

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