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Pamina hat Hunger: Opernroman
Pamina hat Hunger: Opernroman
Pamina hat Hunger: Opernroman
eBook557 Seiten8 Stunden

Pamina hat Hunger: Opernroman

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Über dieses E-Book

Die kleine Nora wächst behütet im Kreis ihrer Familie auf. Auch ihre Pubertät verläuft harmonisch. Sie hört geistliche Musik und singt in Kirchenkonzerten. Sie fühlt sich umsorgt und hat stets die Gewissheit, es allen recht zu machen.

Während der Vorbereitung auf ihr Abitur bekommt Nora jedoch plötzlich Angst zu versagen und lernt Tag und Nacht. Sie erkrankt an einer chronischen Darmentzündung und muss starke Medikamente nehmen.
Während ihres Gesangsstudiums verliebt Nora sich in den Schlagzeuger Mark, aber die Beziehung ist geprägt von wechselseitigen Abhängigkeiten: Nora bewundert den vitalen, arroganten Mark. Schon als Kind von seiner unselbständigen Mutter in die Partnerrolle gedrängt, benutzt Mark andere Frauen, um sich über deren Schwächen als Retter zu definieren. Er betrügt Nora, die er wie ein krankes Kind behandelt, beichtet jeden Fehltritt reumütig und Nora verzeiht.

Nach der Hochzeit mit Mark bekommt Nora ihr erstes Opernengagement in einer anderen Stadt.
Die Darmkrankheit verschlimmert sich. Nora beginnt eine Psychotherapie und erkennt, dass sie aus der Rolle des kranken, schutzbedürftigen Mädchens, in die sie sich von Mark gedrängt fühlt, ausbrechen muss.
Kurz darauf lässt sie sich bei einem Gastspiel auf ein Verhältnis mit einem Dirigenten ein. Ihr Weltbild kippt, als sie merkt, dass es Moral und Strafe, wie sie sie bis zu diesem Zeitpunkt verstanden hat, nicht gibt. Sie betrügt ihren Mann, aber Gott bestraft sie nicht. Nora erkennt ihren Ausbruch als Prozess des Erwachsenwerdens, und spürt trotz aller Gewissensqualen wie entlastend es ist, nicht mehr perfekt sein zu müssen.

Sie beginnt eine weiter Affäre. Die ständigen Lügen quälen sie, aber sie schafft es nicht, Verantwortung zu übernehmen und die Ehe mit Mark endgültig zu beenden.

Nora wechselt an ein größeres Opernhaus. Dort hat sie mehrere Affären, aber ihre Verwirrung wird immer größer. Sie hat das Gefühl, sich aufzulösen, ein Gefäß ohne Inhalt zu sein. Sie hört auf zu essen und nimmt stark ab. Nachts schneidet sie sich mit dem Brotmesser in den Unterarm. Wieder ist Mark zur Stelle. Nora gesteht sich ihren Widerwillen gegen seine Fürsorge nicht ein und kehrt nach jeder Affäre zu ihm zurück.
Erschöpft willigt sie schließlich ein, ihren Beruf aufzugeben, um zu ihm zu ziehen.

Dann verliebt sie sich auf einer Hochzeit in den Fotografen Sven.
Nora schafft es, sich von Mark zu lösen. Sie hört auf, sich zu schneiden, beginnt wieder zu essen und bekommt ein Kind.

Am Ende des Romans zeigt sich allerdings, dass es für Noras Gesundung nicht ausreicht, mit einem anderen Partner ein neues Leben zu beginnen, sondern dass Glück und Heilung viel mehr aus Nora selbst erwachsen müssten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Dez. 2014
ISBN9783738005172
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    Buchvorschau

    Pamina hat Hunger - Petra Labitzke

    Oktober 2001, Generalprobe

    Gegen zwei Uhr morgens verlässt sie das Theater. Die Generalprobe an diesem Abend war ein großer Erfolg; sie hatte die Partie zum erstenmal komplett ausgesungen und fühlte sich überhaupt nicht heiser. Der Regisseur hatte keine szenischen Verbesserungsvorschläge für sie, der Dirigent hob nur im Vorbeigehen den Daumen und rief „Bis Samstag!" Sein Assistent blätterte zwar aufgeregt in seiner Kladde, aber es gab keine musikalischen Korrekturen für sie. Sie ließ ihr Bühnen-Make-up drauf und begab sich in die Kantine zu den Kollegen. 

    Sie trank drei Weißbier und aß nichts. Wieder nichts. Sie fühlte sich leicht, schlank, begabt und geliebt. 

    Sie tänzelt durch den stillen, schwarzen Park. Es ist schön, hier nachts allein zu sein. Und dann kommt es. Es kommt wieder ohne Vorwarnung, aber natürlich ist sie vorbereitet. Sie sieht im frühen Oktober-Morgennebeldunst die Brücke, fahl beleuchtet, dahinter schemenhaft ihr Haus, und beschleunigt ihren Schritt.

    Was nun kommen wird ist nötig, zwingend notwendig. Sie weiß, sie muß es hinter sich bringen, sonst würde sie nicht schlafen können. Nun rennt sie fast, hört sich wie von ferne selber wimmern, „nein, nein!!" 

    Mit fliegenden Fingern schließt sie die Haustür auf, hastet nach oben. Sie macht das Küchenlicht an, zieht den Mantel aus. Sie hat jetzt alle Zeit der Welt, denn sie weiß, es würde passieren.

    Die CD, die sie braucht, liegt obenauf. Die Tracknummer hat sie im Kopf; Charlottes Arie „Les larmes qu‘on ne pleure pas aus Massenets Werther. Ungeweinte Tränen fallen in die Seele zurück. Alkohol hat sie genug im Blut, dieser Teil der Vorbereitung kann also übersprungen werden. „Va, laisse couler mes larmes

    Sie ist nur noch eine Membran, fühlt sich durchlässig für alle Emotionen der Welt, ist alle Gefühle aller Menschen. 

    Denn inzwischen steht sie in der Küche und hat sich mit dem Brotmesser die ersten Schnitte in Unterarm und Oberschenkel beigebracht. Es tut viel weniger weh als man vermuten würde.

    Dann kommt das Blut. Nicht viel; dünne, rote Fäden. Sie begibt sich ins Bad und setzt sich auf den Rand der Badewanne, unverrückbarer Teil des Rituals. Sie tupft das Blut mit Toilettenpapier und Wattepads ab. Fürsorglich, mitleidsvoll. 

    Jetzt kann sie schlafen.

    1991-1995 Nora und Mark

    Mark warf wütend die Paukenschlegel zur Seite und begann damit, seine Instrumente abzubauen. Er war verunsichert, und das Gefühl mochte er nicht. Diese Sopranistin. Studentin in Mannheim, genau wie er. Er kannte sie flüchtig, hatte aber nie ein Wort mit ihr gewechselt. Sie flatterte immer aufgeregt, mit perlendem Lachen, durch die Mensa, was Mark enorm auf die Nerven ging. Dennoch. Sie hatte ihre Arien vorhin beim Pfingstkonzert mit einer Innigkeit gesungen, die ihr divenhaftes Auftreten Lügen strafte, und ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte. Und deshalb hatte er sie angesprochen, als sie vor wenigen Minuten mit ihrem Gefolge zwitschernd die Kirche verlassen hatte.

    Auf Marks Kompliment hin hatte Nora sich nur kurz umgedreht, ihm unverbindlich zugenickt, und sich dann beim Tenorsolisten untergehakt. Eine solche Reaktion hatte Mark nicht erwartet, und er wurde sauer. Arrogante Ziege!, dachte er. Und dieses lächerliche Tenörchen, er musste an sich halten um nicht laut herauszuplatzen. Wie wenn Bruce Lee ihn von hinten mit einer Holzstange gewürgt hätte, so hat der geklungen, dachte er. Guter Vergleich!

    Grinsend deckte Mark seine Pauken ab. Er hatte eine ausgeprägte Schwäche für Kung-Fu-Filme und zitierte auch gerne den Terminator: Komplizierte Probleme verlangen nach einfachen Lösungen. Das war sein Lebensprinzip, und er fuhr nicht schlecht damit. Mark polarisierte. Manche seiner Kommilitonen vergötterten ihn, andere hatten regelrecht Angst vor seiner scharfen Zunge, und wiederum andere, der kleinste Teil, belächelte ihn. Aber jeder Student der Mannheimer Hochschule kannte ihn. Er hob sich ab aus der grauen Menge der Musikstudenten. Würgeholztenor, dachte Mark. So würde er dieses armselige Würstchen ab sofort nennen. Grinsend bugsierte er die Pauken in sein Auto. 

    Seit dem Konzert vor Pfingsten bekam Nora Mark nicht mehr aus dem Kopf. Er war eigentlich gar nicht ihr Typ, dünn und blond, wie er war. Aber er hatte ihr keine Wahl gelassen, denn jedes Mal, wenn sie sich seitdem zwischen Mensa und Fahrstuhl begegneten, rief er ihr etwas flapsiges, ironisch-anzügliches hinterher. Sie schaffte es nicht lange, ihre blasierte Haltung, die zur Gesangsstudentin gehört wie Lippenstift und Evian-Flasche, ihm gegenüber aufrecht zu erhalten, denn er brachte sie zum Lachen.

    Der Tenor und sie, das hatte nicht besonders harmoniert, und auch die Geschichte mit dem Trompeter trat auf der Stelle. Im vergangenen Jahr hatte Nora zwar viel Spaß gehabt, hatte mit sich und ihrer Wirkung auf Männer experimentiert, aber das Ergebnis war eigentlich nur deprimierend. Sie hatte keine Lust mehr auf zögernde, weinerliche Charaktere. Mark war genau das Gegenteil, und das reizte sie. Sie wähnte sich ihm gegenüber in einer sicheren Position. Seit einigen Semestern war sie der unangefochtene Hochschulstar unter den Sängerinnen, und Nora nahm an, dass Mark das wusste. Von ihrer vermeintlich hohen Warte herab gedachte sie, einen harmlosen Flirt mit ihm riskieren zu können. 

    Die Gelegenheit ergab sich wenig später, kurz vor den Ferien. Die Mannheimer Musikhochschule war zu einem Gastkonzert nach Sylt eingeladen worden. Eine Haydn-Kantate für Sopran, Chor und Orchester, sowie eine Schütz-Motette standen auf dem Programm. Als Mark am Schwarzen Brett gelesen hatte, dass Nora die Sopran Solo-Partie übernehmen würde, hatte er sich sofort für den Chor gemeldet.

    Am Abreisetag kam Mark Hand in Hand mit einer zierlichen Blondine auf den Bahnsteig spaziert. Nora merkte, wie ihre Knie weich wurden, registrierte gleichzeitig ihre Überraschung und ihren Unmut über diese Reaktion, und suchte Deckung in einer Gruppe aufgeregter Erstsemester. Mark stieg in den Zug, die kleine Blonde winkte kurz, rief: Meld’ dich mal!, und warf ihm eine Kusshand zu. Dann schlenderte sie Richtung Bahnhofshalle. Als Nora versuchte, ihren Koffer in den Zug zu bugsieren, sprang Mark mit einem breiten Grinsen auf den Bahnsteig zurück, griff nach dem Koffer, trug ihn zu seinem Abteil und wuchtete ihn ins Gepäcknetz. Und dann standen Mark und Nora am offenen Fenster im Gang und redeten. Die Blondine hieß Dagmar. Mark war ihr vier Jahre zuvor begegnet, kurz bevor er sein Studium in den USA begonnen hatte. 

    Es war irgendwie Liebe auf den ersten Blick, sagte Mark und blickte aus dem Zugfenster. Dachte ich zumindest ...  Erzähl!, sagte Nora. Mark sah sie an. Dagi war Tanz-Studentin als ich sie traf, und wunderschön. Sie wurde mein Status Symbol, mein ‘Jaguar’, wie ich zu meinen Freunden immer sagte, er lachte, wurde aber sofort wieder ernst. Von ihren Geschwistern hat sie als einzige die Kurve gekriegt. Dagis Vater hockt den gesamten Tag im Sessel und schaut Talkshows. Und ihre Mutter, Herrgott nochmal, diese Mutter ... , wütend brach er ab. Wieso, was ist mit der?, fragte Nora. Mark verzog das Gesicht, sprach aber weiter. Sie war Garderobiere am Freiburger Stadttheater. Wollte aber immer Schauspielerin werden. Weißt du, Dagmar hatte gar keine Wahl. Sie musste zur Bühne, als sie kapierte, wie ihre Mutter verblühte. Zuerst versuchte sie es an sämtlichen Schaupielschulen, wurde aber nirgends genommen. Ihre Mutter wurde krank. Dagi bewarb sich dann ohne große Hoffnung als Ballettelevin an der John-Cranko-Schule und wurde prompt genommen. Tja, und dann trafen wir uns auf einer Party, es ging alles ziemlich schnell. Große Liebe, rosa Wolken.

    Er drehte sich mit dem Rücken zum Fenster und steckte die Hände in die Hosentasche. Nora fragte: Aber dann bist Du trotzdem nach Amerika gegangen? Mark nickte. Ja, für ein Jahr. Und, um die Frage vorweg zunehmen, nein, ich war ihr nicht treu! Nora errötete und schaute zu Boden. Mark lachte. Aber dann war ich zurück, und da war Dagi wieder. Und ich spürte, dass ich sie immer noch liebte. Und dann begannen die ganzen Probleme. Nora hob den Kopf. Was meinst Du? Dagmar studierte inzwischen in Graz, sagte Mark. Ihr Trainingspensum war immens, und sie aß fast nichts. Ihr Busen verschwand, ihre Periode blieb weg. Sie kam in den Semesterferien nach Mannheim, wo sie sich bei uns einnistete, und ohne zu reden Süßigkeiten in sich hineinstopfte. Sie nahm in den Ferien jedesmal 10kg zu, fuhr nach Graz zurück, wo sie selbige innerhalb weniger Tagen verlor. Weißt Du, ich wollte ihr wirklich helfen. Ich besuchte sie oft, und versuchte, sie zu einer Therapie zu überreden. Es war alles sinnlos. Die Situatuion besserte sich eigentlich erst vor einem Jahr, als Dagi einen Job im Mannheimer Varietétheater bekam. Aber dann fand sie dort neue Freunde und blieb nächtelang weg. Und ich wartete. Ich wusste ja, wie labil Dagi ist, und dass ihre Hochstimmung von einer Sekunde zur nächsten umschlagen konnte.

    Nora schluckte. Er sprach so analytisch, so kühl und distanziert. Vor einem halben Jahr musste Dagi am Knie operiert werden, Mark stieß sich von der Wand ab und begann, den schmalen Gang auf und ab zu tigern. Die Arthrose war aber zu weit fortgeschritten, die Profi-Karriere gestorben. Dagi brach zusammen, es war die Hölle. Ich besuchte sie jeden Tag im Krankenhaus, ihre Freunde aus dem Varieté meldeten sich natürlich nicht. Dann verfasste ich in Dagis Namen Bewerbungen, die ich an die großen Mannheimer Hotels verschickte. Das Intercontinental bot ihr einen Ausbildungsplatz als Hotelfachfrau an. Mark straffte die Schultern und seufzte. Tja, und da ist sie jetzt. Total happy, endlich gebraucht zu werden. Und sie ist mir so dankbar, er blickte Nora unglücklich an. Aber irgendwie ist seit einigen Wochen der Wurm drin. Er biss sich auf die Lippe. Ich langweile mich mehr und mehr mit ihr, ehrlich gesagt. Die Minibar rollte vorbei. Willst du auch einen Kaffee?, fragte Mark. Nora nickte. Sie fühlte sich mit einem Mal befangen. Mark gab ihr einen Pappbecher. 

    Aber jetzt erzähl du mal! Er grinste genüsslich und blies in seinen Kaffee. Wie läuft’s mit dem Tenörchen? Noras Augen wurden schmal. Sie wollte eine scharfe Antwort geben, aber als sie Mark grinsen sah, musste sie auch lachen. Und dann erzählte Nora, nicht nur vom Tenor, sondern von Stefan, ihrer ersten großen Liebe, den sie wegen des vermeintlich aufregenderen Tenors hatte sitzen lassen. Mark hörte konzentriert zu, stellte die richtigen Fragen, und Nora registrierte überrascht das Bedürfnis, sich Mark anzuvertrauen. Sie genoss seine Nähe und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wohl. Sie hätte den Teufel getan, ihm das zu diesem Zeitpunkt zu gestehen. Aber er wußte es längst. 

    „Also, wenn Dagi sich ausgezogen hat, das war, wie wenn du den Playboy aufschlägst! Mark grinst und stützt sich auf die Ellbogen. Nora und er liegen in ihrer Wohnung nackt auf dem Boden. „Wirklich? Toll. Nora steht auf und geht in die Küche, um zwei Bier zu holen. Sie versucht, das Gesicht abzuwenden und bewegt sich betont langsam. Mark darf nicht merken, wie tief er sie mit dieser Bemerkung verletzt hat. Seit zwei Monaten sind Nora und Mark ein Paar.

    Mark hatte Nora im Foyer der Hochschule abgefangen, sie zur Seite gezogen, und mit hochgezogenen Schultern, die Händen in den Taschen nur einen Satz gesagt. „Ich hab’ keine Freundin mehr. Nora hatte versucht zu flachsen. „Ja, ja, ich weiß schon, es läuft gerade nicht so toll, bla bla ...  Mark hatte Nora am Arm gepackt. „Nein, es ist aus mit Dagmar, endgültig. Sie ist nicht die Frau, die ich an meiner Seite brauche! Ausnahmnweise hatte Nora keine Antwort parat gehabt, sie rettete sich mit einem Blick zur Uhr und murmelte „Gesangsstunde ... . Im Fahrstuhl musste sie sich an die Wand lehnen. Er brauchte sie an seiner Seite. Brauchte sie ihn auch?

    Die erste Zeit war schwer für Nora und Mark, denn Dagi gab sich nicht so einfach geschlagen. Sie war bei einer Kollegin untergekommen, klingelte aber manchmal mitten in der Nacht bei Mark und wollte mit ihm tanzen gehen. Eine Tages rief die völlig verstörte Mutter Dagmars an. Dagi liege nur im Bett und starre apathisch zur Decke. Schlechtes Gewissen oder Helfersyndrom, Mark machte sich sofort auf den Weg nach Freiburg. Redete Dagi gut zu. Sie starrte an die Decke. Dann konfrontierte er sie wieder und wieder mit der Tatsache, dass er nun mit Nora zusammen sei. Ignorierte ihre Tränen und ging. Nach einigen Wochen gab sie auf.

    Nora wusste, dass Mark mit Dagi noch nicht abgeschlossen hatte. Und wer hätte besser gewusst als sie, dass es eigentlich nicht gut war, von einer langen Beziehung sofort in die nächste zu stolpern. Eine Art Auszeit, so etwas wie eine Rekonvaleszenz, hätte sie Mark vorschlagen sollen, das war ihr klar. Aber womöglich hätte er es sich dann anders überlegt und wäre zu Dagi zurückgegangen. Und Nora war so verliebt wie noch nie. Mark hielt Nora für die Traumfrau schlechthin. Trotz, oder gerade wegen ihrer paar Kilo zuviel, fand er sie attraktiv und sexy, hochintelligent und witzig. Schon an der Nordsee hatte Nora Mark von der Krankheit erzählt, die sie seit einigen Jahren quälte, einer chronischen Dickdarmentzündung. Es ging ihr oft sehr schlecht, dann musste sie starke Medikamente nehmen. Mark frohlockte. Eine Frau, selbstbewusst und stark, eine Frau die sich vor 1000 Leute stellt und singt, die aber krank, und dadurch ganz bestimmt hilfs- und anlehnungsbedürftig war. Diese Mischung war für Mark das reinste Aphrodisiakum. Die Krankheit streichel’ ich dir weg!, sagte er immer. Nora war glücklich, denn Mark gab ihr das Gefühl, dass er sie wirklich wollte.

    Nur diese Dagi bereitete ihr nach wie vor Bauchschmerzen. Mark hatte Nora einige Photos von Dagi gezeigt, und Nora fragte sich verunsichert, wie sie mit einer solchen Schönheit konkurrieren sollte. Nora war mit ihrem Aussehen immer zufrieden gewesen, und im letzten Jahr waren ihr die Männer zu Füßen gelegen. Aber nun ertappte sie sich dabei, wie sie sich vor dem Spiegel drehte, verbog, um sich von hinten zu sehen. Sie fing an, sich zu wiegen und Sport zu machen. Das Phantom Dagi wurde Studienobjekt und ständige Bedrohung. Nora fühlte sich im Vergleich zu der schmalen Elfe plump und fett, und wartete jeden Tag darauf, dass Mark sie wieder verlasssen würde. Aber nichts dergleichen geschah, und Nora begann, Boden unter den Füßen zu spüren.

    Verliebte Ruhe kehrte ein; Mark und Nora atmeten durch.

    Nora begann, jeden Tag in ihrem Zimmer Aerobic-Übungen zu machen, die Mark aus USA mitgebracht hatte. Von seiner Aerobic-Queen Meg, wie er Nora vor kurzem lachend erzählt hatte. Seine Augen hatten bei der Erwähnung des Namens geglänzt, und Nora hatte argwöhnisch nachgefragt. Mark erzählte vom Beginn seines Studiums in den USA, vom dramatischen Abschied von seiner großen Liebe Dagi. Doch kaum war er in USA aus dem Flieger gestiegen, hatte er Dagi schon das erste Mal betrogen. Mit einer Frau, deren Name er sofort vergessen hatte. Seine Zeit an der Uni war ausgefüllt. Jeden Monat gab es Beurteilungen und Klassenabende; theoretische Fächer mußten absolviert, der Chor besucht werden. Und im Chor sang Meg. Meg war das Gegenteil von Dagi. Pummelig und quirlig nahm sie Mark im Sturm. Die beiden wurden zum Hochschul-Traumpaar, und Meg hatte ihr Glück kaum fassen können, erzählte Mark. Der coole Student aus Germany. Meg wusste von der schönen Dagi mit dem perfekten Körper, und Mark hatte immer wieder betont, dass er am Ende des Jahres zu Dagi nach Deutschland zurückgehen würde. Mark machte Schluss mit Meg und stieg in den Flieger nach Deutschland. Er hatte Megs Lachen im Ohr und einen Kloß im Hals. So müsste die Frau an seiner Seite sein. Aber dann war da stattdessen Dagi, die fragile Nymphe.

    Und als Mark dann Nora getroffen hatte, die Meg in vielem so ähnlich war, war ihm irgendwann klar gewesen, dass mit Dagi Schluss war. Nora beschloss, dieses Bild, dass Mark von ihr hatte, schärfer zu zeichnen, und begann mit den Aerobic-Übungen. Schließlich wollte sie ja auch unbedingt abnehmen. Und sie wollte vital sein, so vital wie Mark. Denn instinktiv spürte sie schon zu diesem Zeitpunkt, dass es nicht gut war, ihn zu sehr an ihrer Krankheit teilhaben zu lassen. An manchen Tagen behandelte er sie wie ein krankes Pferd, obwohl es ihr gut ging. Er streichelte und umsorgte sie, dabei hatte sie oft tagelang nicht mehr an ihre Krankheit gedacht. Eines Abends, als er sie besorgt an ihre Medikamente erinnerte, sagte sie lachend zu ihm: Sag mal, du willst wohl, dass ich mich krank fühle, oder? Mark widersprach empört und zog sie leidenschaftlich an sich.

    Auf der Reise an die Nordsee, bei der Nora und Mark sich kennengelernt hatten, waren auch Jan und Gerd mit von der Partie gewesen. Zwei hochbegabte Klavierstudenten, im Jazz wie in der Klassik versiert. Jan und Gerd waren die besten Freunde, und so verschieden, wie zwei Menschen verschieden sein können. Gerd war dürr, trug eine zu dicke Brille sowie einen Schnauzbart und hatte noch nie eine Freundin gehabt. Jan war blond, gutaussehend, und die Frauen standen Schlange. Mark hatte die meisten Vorlesungen gemeinsam mit den beiden, und zusammen mit Nora und ihrer Kommilitonin Frauke, die ein Auge auf Jan geworfen hatte, entstand eine farbenfrohe Clique. Wenn die fünf den halben Tag gemeinsam in der Mensa gesessen hatten, verabredeten sie sich abends für Kino oder Kneipe. Nora war glücklich. Sie hatte endlich richtige Freunde. Mark war verliebt in sie und sagte ihr immer wieder, dass sie zusammen gehörten. Auch im Bett hatten sie phantastische Stunden. Mark war einfühlsam und wusste trotzdem genau, was er wollte. Nora hatte in letzter Zeit keine erwähnenswerten Erfahrungen gemacht, und fühlte sich von Mark zur Sex-Göttin erhoben.

    Derart umsorgt und auserkoren sah Nora in den ersten Monaten mit einem Augenzwinkern darüber hinweg, dass Mark viel Zeit mit seiner Kommilitonin Vera verbrachte. Die beiden waren im Schulmusik-Ausschuss, deshalb lag es in der Natur der Sache, dass sie sich oft sahen. Als die Treffen allerdings zunehmend in Veras Wohnung stattfanden, die beiden sich häufig zum Joggen verabredeten, und als dann und wann versehentlich Treffen mit Vera verschwiegen wurden, wurde Nora misstrauisch. Sie war sicher, dass er sie nicht betrog, aber das Verhältnis zwischen Vera und ihm war dennoch nicht in Ordnung.

    Eines Mittags in der Mensa versuchte Nora mit Jan und Gerd darüber zu reden, aber die beiden reagierten verständnislos. Gerd fragte: „Wieso, Mark ist dir doch absolut treu! Und Jan meinte gähnend: Ist doch in Ordnung, wenn man sich auch mal mit anderen verabredet, oder nicht? Du, fang’ bloß nicht an zu klammern, da hat kein Mann Bock drauf! Und außerdem, fügte er mit einem Grinsen hinzu, lass‘ ihm doch sein treues Hündchen, die ist für ihn sicher auf Dauer nicht interessant." Nora verabschiedete sich nachdenklich.

    Sie suchte ein leeres Probezimmer uns setzte sich auf den Klavierschemel. Gedankenverloren schlug sie einen Akkord an. Mark schätzte an ihr ihr sicheres Auftreten und ihre spontanen, verrückten Einfälle, das wusste sie. Aber oft sah sie in seinen Augen ein ungutes Glitzern, wenn er in die Mensa kam und sie laut lachend mit ihren Gesangskollegen am „Sängertisch" sitzen sah. Selbst wenn sie dann sofort aufsprang und sich umgehend mit ihm an einen anderen Tisch setzte. 

    Es klopfte an der Tür, und Noras Freundin Frauke steckte grinsend den Kopf herein. Hey, jetzt hör’ mal auf zu üben, ich kriege ein total schlechtes Gewissen! Komm, wir gehen Kaffeetrinken, Jan und Gerd warten unten! Nora stand auf, zog Frauke am Arm ins Zimmer und schloss die Tür. Lachend stolperte Frauke über Noras Tasche. Dann sah sie Noras Gesicht. Was ist denn los?, fragte Frauke und setzte sich auf die Fensterbank. Nora nagte auf ihrer Unterlippe. Ich denke über Vera und Mark nach, sagte sie. Frauke stöhnte. Nicht schon wieder, das haben wir doch schon tausendmal durchgekaut. Da läuft nix! Ja, ich weiß, das ist auch nicht das Problem, hör zu, ich habe das Gefühl, dass ... kann es sein, dass Mark eifersüchtig ist auf meinen Erfolg? Frauke zog die Brauen hoch. Du lernst aber schnell! Nora zuckte zusammen. Wieso? Frauke blickte zum Fenster hinaus, kniff die Augen zusammen und sagte: Na ja, denk doch nur mal an den Elias vor zwei Wochen. Du hast phantastisch gesungen, und was ist dann passiert? Nora schluckte.

    Mark war hinter die Bühne gekommen, um ihr zu gratulieren. Just in dem Moment umarmte Nora den attraktiven Bariton-Kollegen, weil der vor Kurzem Vater geworden war. Mark hatte auf dem Absatz kehrtgemacht. Gegen Mitternacht hatte er dann bei Nora geklingelt, und sich zerknirscht entschuldigt. Nora erinnerte sich, dass sie dann mit Mark geschlafen hatte, dankbar, dass alles gut ausgegangen war. Aber das Konzert und ihren großen Erfolg hatte er ihr kaputt gemacht. Ich hab’ nicht kapiert, warum du ihm das einfach so verziehen hast, sagte Frauke und gähnte. Aber was hat das alles mit Vera zu tun? Nora blickte sie ernst an und sagte langsam: Ich glaube, dass Mark eine Abhängige braucht. Eine Frau, für die er, ich weiß nicht, sowas wie ein Heilsbringer ist. Die seine Worte trinkt und zum Evangelium erhebt. Klingt das total absurd? Frauke lachte: Nein, überhaupt nicht. Das ist die perfekte Charakterisierung unseres grauen Mäuschens! Sie sprang vom Sims. So. Ich brauch jetzt dringend Koffein! Kommst Du mit? Noch am selben Abend tat Nora Mark ihre Beobachtungen kund. Es gab Tränen, Geschrei und, zu guter Letzt, erschöpften Sex. Mark gab Nora in allen Punkten recht und versprach, den Kontakt zu Vera einzuschränken.

    Nora und Mark bereiteten sich auf ihre Abschlussprüfungen vor. Nora beendete ihr Grundstudium, Mark seine Schlagzeug-Semester. Beide schlossen unter dem tosenden Applaus ihrer Freunde und Familienmitglieder mit „Sehr gut" ab. Nora überlegte, in der Opernklasse ein Aufbaustudium anzuschließen. Nach wie vor war sie der Star der Hochschule, und der Opernschulleiter hatte schon vor Wochen angedeutet, sie nehmen zu wollen.

    Mark begann sein Germanistik-Studium an der Uni, aber seine Gedanken kreisten immer öfter um Vera. Es hatte ihm immer gut getan, wenn Frauen sich ihm anvertrauten, und er ihnen das Gefühl geben konnte, sie zu verstehen. Jan hatte vor einiger Zeit grinsend zu Mark gesagt: Wie machst Du das? Ohne Mühe geben die dir den Zugangscode zu ihrem Innersten, echt beneidenswert! Mark hatte damals gelacht, aber mittlerweile beschlich ihn immer öfter ein mulmiges Gefühl. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, eine Frau abhängig zu machen. Aber was dann? Längst war ihm nämlich klar, dass eine Frau wie Vera ihn auf Dauer nur langweilen würde, Bewunderung hin oder her. Ebenso klar war ihm, dass Nora recht gehabt hatte, als sie ihm wegen Vera so den Kopf gewaschen hatte. Und vermutlich war seine Mutter die Wurzel allen Übels. Mark war intelligent genug, die Verbindung herzustellen. Die beengte Wohnsituation mit Angelika und ihrem Lebensgefährten Hermann hatte ihn eigentlich nie gestört, aber jetzt spürte er, dass er sich dem Einfluss seiner Mutter entziehen musste, um sein Problem in den Griff zu bekommen. Denn wenn er ehrlich war, war nach wie vor seine Mutter die Person, mit der er sein Leben teilte.

    Vor wenigen Tagen hatte Mark Nora zum ersten Mal von seiner Familie erzählt. Nora hatte versucht, ihre Erschütterung vor Mark zu verbergen, es war ihr aber nicht gelungen. Kein Wunder, dachte Mark bitter. Mit zwölf hatte Mark das erste Mal Schmiere vor dem Pfarrhaus gestanden, denn seine Mutter hatte sich in den Priester verliebt. Ornat und heilige Worte ließen ihr Herz höher schlagen, das war schon immer so gewesen. Mark verstand das damals alles noch nicht richtig. Mit gesenktem Kopf schaute er am Fenster des Pfarrhauses vorbei. Was drinnen passierte wollte er lieber nicht so genau wissen. Mark hätte sich keine Sorgen machen müssen, denn seine Mutter Angelika verabscheute alles, was mit dem menschlichen Körper und seinen Ausscheidungen zu tun hatte. Warum sie ihren Mann Anton geheiratet hatte, vermochte sie längst nicht mehr zu sagen. Manchmal tat sie so, als lebe sie im 19. Jahrhundert, in einem großen Schloss. Sie liebte historische Romane, vor allem Seeräuberromanzen mit schlüpfrigen Liebsszenen, die ihren Bedarf an Körperlichkeit mehr als deckten.

    Ihr Mann Anton rettete sich in zynische Bemerkungen und verschanzte sich hinter seiner Doktorarbeit. Warum er Angelika geheiratet hatte, wusste er nicht mehr. Sie hatte ihm gefallen, mit ihren Spitzenhandschuhen und der gezierten Sprechweise. Dass es für Angelika nur einen einzigen Mann gab, ihren großen Bruder Walter, hatte Anton gewusst, sarkastisch kommentiert, und nicht weiter ernst genommen. Die Ehe von Marks Eltern stand unter keinem guten Stern. Anton war mittlerweile Doktor der Philosophie an der Freiburger Uni, trotzdem hatte er ständig das Gefühl, gegen den großen Walter, Bankvorstand und Millionär, nur ein kleines Licht zu sein.

    Angelika konzentrierte sich mehr und mehr auf Mark, ihren Buben. Die Rollen wurden vertauscht. Mark beriet Angelika beim Kauf ihrer Schuhe, Mark wählte die Ohrringe zum Kleid seiner Mutter. Mit seinem Vater verbanden ihn lediglich die Boxkämpfe, die er nachts mit ihm sehen durfte. Mark verinnerlichte jeden Haken, jede Finte, und übte sie später heimlich in seinem Zimmer. Dann wurde er Ministrant bei Pater Hermann und die Wachen auf dem Parkplatz fingen an. Marks Vater lachte nur hässlich, als er davon erfuhr. Höhepunkt der grausamen Scharade war der gemeinsame Urlaub der Familie mit Pater Hermann, der inzwischen zum Freund der Familie avanciert war.

    Irgendwann hatte die Ehe von Anton und Angelika einen Grad an Baufälligkeit erreicht, der nicht mehr reparabel war. Hermann trat die Flucht nach vorne an und fand eine Gemeinde mit Pfarrwohnung in Mannheim. Angelika verließ Anton und Freiburg, und suchte sich eine hübsche Wohnung im Mannheimer Süden, finanziert vom großen Bruder Walter. Angelika war vollkommen glücklich. Hermann hatte zwar seine eigene postalische Adresse, lebte aber de facto mit Angelika zusammen. Mark war nach seinem Abitur in Freiburg mit nach Mannheim gekommen. Vor die Entscheidung zwischen seinen Freunden in Freiburg und seiner Mutter in Mannheim gestellt, hatte er Angelikas Tränen nicht standhalten können. Er zog mit ihr und Hermann in die Drei-Zimmer-Wohnung.

    Noras Entsetzen, als er ihr vor wenigen Tagen seine Geschichte erzählt hatte, hatten tiefen Eindruck auf Mark gemacht. Vor allem als ihm klar wurde, dass sich im Prinzip nicht viel geändert hatte: er fällte nach wie vor keine Entscheidung ohne Angelika, fuhr mit Hermann und ihr in den Urlaub, und beriet seine Mutter bei der Wahl ihrer Ohrringe. Und er hatte immer nur Frauen mit nach Hause gebracht, die Angelika gnädig abnickte. Persönlichkeitsarme ja-Sagerinnen wie Vera, oder Mädchen wie Dagmar, die eine Mama brauchten.

    Mark beschloss, Nägel mit Köpfen zu machen, sich eine eigene Wohnung zu suchen, und endlich Nora seiner Mutter vorzustellen. Lange genug hatte er den Kontakt vermieden, weil er geahnt hatte, wie seine Mutter auf Nora reagieren würde. Mark lud Angelika zu einem Vortragsabend von Noras Gesangsklasse ein. Angelika war begeistert von Nora. Dieses Timbre, flüsterte sie Mark während Noras erster Arie zu, Wie die junge Freni! Mark nickte nur, hin-und hergerissen zwischen Erleichterung und Panik. Wie sollte er Angelika beibringen, dass die junge Freni seit zwei Monaten das Bett mit ihrem Buben teilte? In der Pause schwärmte Angelika weiter. Weißt Du Mark, auch die Ausstrahlung dieser Nora ist die eines Stars. Die anderen Sängerinnen können ihr absolut nicht das Wasser reichen! Mark blickte betreten in sein Sektglas.

    Nach dem Konzert machte er die beiden Frauen mit klopfendem Herzen bekannt. Angelika war begeistert, den Star des Abends kennenzulernen, hakte Nora unter und flötete Komplimente. Mark nahm seinen ganzen Mut zusammen, legte den Arm um Nora und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Nora sah ihn überrascht und ungläubig an. Sie lachte laut und sagte: Was war das denn für ein Kuss? Dann zog sie ihn an sich und küsste ihn voll auf den Mund. Angelikas Augen wurden schmal. Aber nur für einen Moment. Schließlich war Nora eine begnadete Sängerin, die alle anderen Studenten an diesem Abend um Längen geschlagen hatte. Und wer wusste schon, wie lange ihr Junge und sie überhaupt zusammmen bleiben würden. Angelika zwang das Lächeln in ihr Gesicht zurück.

    Im Restaurant nahm Mark seinen Damen die Mäntel ab. Angelika wurde bleich, als Nora sich laut ein Weizenbier bestellte. Sie überspielte ihren Schock, tröstete sich mit dem Gedanken, dass dieses Bier sicher nur gegen den Durst war und zupfte an ihren Handschuhen. Nora lachte laut und küsste Mark vor aller Augen. Dann streifte sie sich mit einem erleichterten Seufzen ihre Pumps ab und bestellte ein weiteres Bier. Angelika verzog den Mund und ging sich die Nase pudern.

    Nora war keine Dame. Diese gewaltige Kröte musste Angelika in den kommenden Wochen schlucken. Aber wenn Nora sang, gab Angelika sich geschlagen. Noras Stimme war einzigartig, das wusste Angelika. Und dafür nahm sie Noras Art in Kauf. Und sie nahm in Kauf, dass Nora keine neue Mutter brauchte. Bitter war auch, dass Nora eine eigene Wohnung hatte. Angelika bekam ihren Jungen kaum noch zu Gesicht und spürte, wie er ihr entglitt. Angelikas Rache war wenig subtil. Nach wie vor stand auf dem Klavier in ihrer Wohnung das Familienphoto vom letzten Weihnachtsfest, mit einer strahlenden Dagi in der Mitte. Nora litt darunter, und weil sie nichts davon hielt, schlechte Emotionen hinunter zu schlucken, sprach sie Angelika darauf an. Die tat es mit einem Lachen ab: „ Ach meine Liebe, das hat gar nichts zu bedeuten, das ist eben nur das einzige Bild, auf dem Hermann nett mit drauf ist!" Dem konnte Nora natürlich nichts entgegensetzen.

    Angelika setzte dieses Bild nun ein wie eine Waffe: eines Tages war es verschwunden. Gesprochen wurde nicht darüber, aber Nora war glücklich, und fühlte sich endlich von Marks Mutter akzeptiert. Zwei Wochen später waren sich Nora und Angelika uneins über eine Sache, und das Bild stand wieder auf dem Klavier. Als Mark schließlich verkündete, ausziehen zu wollen war Angelika sofort klar, dass Nora hinter dieser Entscheidung steckte. Tatsächlich hatten Nora und Mark oft über dieses Thema gesprochen, aber Nora hätte Mark niemals zum Umzug gedrängt. Insgeheim sehnte sie sich schon lange danach, mit Mark ein Nest zu bauen, aber den Auszug bei seiner Mutter musste er schon alleine bewerkstelligen. Angelika weinte und flehte, gab sich aber schließlich geschlagen.

    Nora und Mark begannen Mannheim zu durchwandern, zu träumen und zu planen. Alles war möglich, alles war neu und aufregend. Nora hatte sich in ihrer ersten Studentenwohnung wohl gefühlt, aber jetzt wollte sie so schnell wie möglich ausziehen. Zu Mark. In den schönsten Farben malte sie sich ihr gemenisames Leben mit ihm aus und packte Umzugskartons, was das Zeug hielt.

    Mark hatte das Wochenende bei seinem Freund Chrissy in Freiburg verbracht. Seit Mark nach Mannheim gezogen war, hatten sich die Freunde kaum mehr gesprochen. Mark hatte Nora viel von Christoph erzählt, und Nora war froh, dass Mark den Kontakt zu ihm wieder aufgenommen hatte.

    Chrissy war während Marks Jugendzeit sein einziger Halt gewesen. Hin und hergerissen zwischen dem diffusen Bedürfnis, seine Mutter schützen zu müssen, Mitleid gegenüber seinem Vater und Scham, wann immer er Hermann gegenüberstand, war Mark meistens abends zu Chrissy geflüchtet. Chrissy hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie unwürdig er die Situation bei Mark zuhause fand. Diese kranke Konstellation hatte er immer gesagt. Chrissy und Mark schufen sich ihre eigene Welt. Sie tauchten ein in die Filme von Arnold Schwarzenegger, dessen Terminator-Motto zu ihrem Evangelium wurde: komplizierte Probleme verlangen nach einfachen Lösungen. Mark übertrug diese Devise auf sein Leben, wappnete sich gegen die Übergriffe seitens der Familie, die ihm sein Freund Chrissy wieder und wieder unerbittlich aufzeigte, und machte sich unverwundbar. Er trug sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein wie einen weichen, warmen Mantel, und Chrissy war der Schal, der perfekt dazu passte.

    Mark und Chrissy gründeten eine Band und spielten laute, aggressive Rockmusik. Mark hatte sich für den Part des Drummers entschieden, und schnell hatte sich herausgestellt, dass er eine Begabung für das Instrument hatte. Er hörte komplizierte Rhythmen auf den Platten seiner Lieblingsbands und spielte sie sofort fehlerfrei nach. Chrissy ließ dilettantisch, aber mit großer Begeisterung, die Gitarre dazu jaulen und organisierte kleine Auftritte in Studentenkneipen. Dann kamen die ersten Erfahrungen mit Frauen, und die beiden jungen Männer erzählten sich detailgetreu, was sie erlebt hatten. Chrissy war von Anfang an ein gewaltiger Dorn im Auge Angelikas. Sie fühlte, dass Mark sich von ihr entfernte und Chrissys Einfluss immer größer wurde. Diese Tatsache hatte Nora irgendwie beruhigt. Sie hatte zwar Walter und Anton noch nicht kennengelernt, aber die haarsträubenden Geschichten um den sagenhaften Walter und den verbissenen Anton jagten ihr Angst ein. Angst um Mark. Als sie Mark einmal gefragt hatte, wie denn Chrissy mit Angelika zurecht gekommen sei, hatte der nur vielsagend die Brauen hochgezogen und gefragt: Kannst Du dir das nicht denken? Nora hoffte, dass die beiden Männer sich wieder annähern würden, denn Mark hatte sonst kaum Freunde.

    Nach seinem Wochenendbesuch in Freiburg kam Mark Montag morgen unangemeldet zum Frühstück. Nora freute sich und beschloss, ihre Theoriestunde ausfallen zu lassen. Beim Kaffeekochen plapperte sie munter vor sich hin bis sie merkte, dass Mark immer noch im Türrahmen stand und ihr überhaupt nicht zugehört hatte. Als sie ihn ansprach und spielerisch kitzelte schob er sie entschieden von sich. Setz dich bitte, bat er ernst. Noras Lächeln gefror. Langsam sank sie auf den Stuhl, der ihr am nächsten stand. Mark räusperte sich. Ich habe mich dazu entschieden, nicht mit dir zusammen zu ziehen. Nora schloss die Augen und schluckte. Jetzt war es also passiert, er wollte sie verlassen. Er liebte sie nicht mehr. Nora begann zu weinen. Mark wartete einige Minuten. Als ihr heftiges Schluchzen leiser wurde begann er zu erklären, was am Wochenende im Gespräch mit Chrissy geschehen war. Ich habe Chrissy natürlich von uns erzählt. Wie glücklich wir sind und so. Und dass ich es dank Dir endlich geschafft habe, mich von meiner Mutter zu lösen, und wir uns nun eine gemeinsame Wohnung suchen. Mark brach ab. Nora schniefte: Und dann? Christoph hat zuerst gar nichts gesagt. Dann geseufzt, tief Luft geholt und mir dann, in alter Manier, den Kopf gewaschen. Dass ich nach 28 Jahren bei Mami vielleicht erst mal mein eigenes Leben führen sollte. Dass ich mich davor hüten sollte, von einem gemachten Bett ins nächste zu fallen. Mark blickte zu Boden. Er hatte seinem Freund wenig entgegenzusetzen gehabt und war am nächsten Morgen verstört aus Freiburg weggefahren. Doch dann hatte er angefangen nachzudenken, und war zum Ergebnis gekommen, dass Chrissy in allen Punkten recht hatte. Mark stieß sich vom Türrahmen ab. Die Phase ist jetzt wichtig für mich, und ich werde mir alleine was suchen. Sorry, aber du wirst, wenn du darüber nachgedacht hast, schon sehen, dass es das beste ist, auch für dich. Dann streichelte er flüchtig ihre Wange, nahm sein Brötchen und verließ die Wohnung.

    Nora starrte auf den gedeckten Tisch, ohne etwas zu sehen. Sie hatte es sich so sehr gewünscht. Und Mark doch auch. Nora wurde sauer. Natürlich wusste sie, dass Christoph Recht hatte, oft genug hatte sie selbst bei der romantischen Wohnungsplanung ein ungutes Gefühl gehabt. Aber warum wurde sie wieder vor vollendete Tatsachen gestellt? Warum wurden die wichtigen Dinge in Marks Leben ausschließlich mit anderen besprochen? Sie war so sauer, dass sie anfing, ihre Wohnung zu putzen. Die körperliche Arbeit tat ihr gut, aber das Gefühl der Machtlosigkeit ließ sich nicht abschütteln. Angelika würde sich ins Fäustchen lachen, denn ob Mark jetzt überhaupt ausziehen würde, stand in den Sternen. Vera würde triumphierend zurückkehren; jetzt konnte man die Studenten-Ausschuss-Sitzungen ja in Marks Wohnung abhalten.

    Nora schleuderte den Putzlappen gegen das Küchenfenster und brach schluchzend zusammen. Sie hatte soviel Liebe in dieses neue Konzept gesteckt: Das Nest mit Mark. Erschöpft wischte sie sich die Tränen ab und trank ein großes Glas Wasser. Dann fasste sie einen Entschluss. Was Mark tat, wie er sich entschied und wer sich heimlich darüber freute, das konnte sie nicht beeinflussen. Das einzige was Nora tun konnte war, ihr eigenes Leben zu planen, das Mark momentan nicht mit ihr teilen wollte. Sie füllte das Glas noch einmal und trank. Tränen tropften auf die blank geputzte Arbeitsfläche. Sie fühlte sich so kraftlos. Alle Energie war in Umzugskisten verpackt. Nora setzte sich auf den Küchenboden und machte Bestandsaufnahme: sie hatte ihre eigene Wohnung, immerhin. Dann erinnerte sich Nora daran, dass sie nach ihrer Abschlussprüfung eigentlich mit dem Gedanken gespielt hatte, sich in die Opernklasse aufnehmen zu lassen. Bis jetzt hatte sie sich nie vorstellen können Opern zu singen, weil sie immer nur Kirchenkonzerte gemacht hatte. Aber warum eigentlich nicht? Nur würde sie dann nicht mehr so viel verfügbare Zeit für Mark haben. Nora seufzte. Das war heute anscheinend der perfekte Tag für schmerzhafte Nabelschau. Sie gestand sich ein, immer Rücksicht auf ihn genommen zu haben. Mit Terminen, Plänen oder Entscheidungen. Plötzlich fielen ihr unzählige Situationen ein, in denen sie aus Sorge um seine Befindlichkeiten gegen ihr eigenes Gefühl entschieden hatte.

    Entschlossen stand sie auf und stellte das Glas in die Spüle. Dann rief sie im Hochschulsekretariat an und meldete sich zur Prüfung an. Erleichtert legte sie den Hörer auf. Sie fühlte sich viel besser, und überlegte bereits, welche Arien sie zur Prüfung vorbereiten könnte. Energisch riss sie das Klebeband vom Umzugskarton mit der Aufschrift Noten und kippte die darin befindlichen Klavierauszüge auf den Boden. Nach einer Stunde hatte sie rote Wangen und drei Arien ausgewählt, die sie mit ihrem Lehrer ausprobieren wollte.

    Jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Im Stehen machte sie sich ein Brot und kaute nachdenklich, bis ihr Blick auf einen Zettel fiel, den Mark vor einigen Tagen mitgebracht hatte. Darauf stand die Telefonnummer einer Psychotherapeutin, von der Mark viel gehört hatte. Er hatte Nora nahegelegt, einen Termin mit ihr zu vereinbaren. Nora warf das angebissene Brot auf den Teller und zerknüllte den Zettel. Wieder Mark. Vor Wut hätte Nora am liebsten laut geschrien. Bestand sie aus gar nichts Eigenem mehr? Zornig zerrupfte sie den Zettel in winzige Stücke. Natürlich hätte sie gern jemandem die Situation mit Mark geschildert. Nora wusste auch, dass sie den Ursachen der Darmgeschichte auf den Grund gehen sollte. Laut Mark war ihr kranker Perfektionismus Schuld an der Krankheit. Immer die Beste sein zu wollen, zu müssen. „Aber wäre ich ohne diesen Perfektionismus eine so gute Sängerin?, fragte Nora sich. Immer gut vorbereitet und pünktlich? Kann man ohne das Streben nach Perfektion überhaupt Karriere machen?" Karriere. Und genau das wollte Mark nicht. Nora ließ die Schnipsel zu Boden rieseln. Plötzlich war ihr so übel. Mit wem konnte sie eigentlich reden? Wem ihre Gefühle schildern? Vermutlich war sie selber, genau wie Vera, nur eine Marionette. Und Mark der begnadete Spieler. Nora ließ sich zu Boden gleiten und vergrub das Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufblickte strahlte die Sonne in die Küche. Nora blinzelte zur Küchenuhr. Zwei Stunden war sie so gesessen. Müde legte sie die Schnipsel des zerrissenen Zettels zusammen. Frau Hartmann, stand da. Mit einiger Mühe stand Nora auf und ging zu Telefon. Sie hatte Glück, für den kommenden Vormittag hatte ein Patient abgesagt. Nora beendete das Gespräch und blieb mit dem Hörer in der Hand stehen. Sie schluckte die Tränen hinunter. Vielleicht würde sie ja mit Hilfe von Frau Hartmann ein Gespür dafür entwickeln, wer sie eigentlich war. Sie ließ den Hörer sinken. Alles schien sich aufzulösen. Lebenslang eingeübte Strukturen im Nebel. Ein Gerüst aus Stäben war sie nur noch. Hatte sie jemals etwas getan, was sie selber gespürt hatte? Oder war sie ein Lautsprecher, der nur Ideen und Wünsche anderer verstärkte?

    Nora bestand die Aufnahmeprüfung für die Opernklasse mit Bravour. Mark erzählte sie davon erst Tage später, als sie ihn zufällig in der Mensa traf. Sie hatte ihn nach der letzten Begegnung in ihrer Wohnung nicht angerufen. Er hatte sich zwar alle paar Tage gemeldet um zu wissen, ob sie klar käme, aber Nora hatte jedes Mal gereizter reagiert. Irritiert hatte Mark sich zurückgezogen. Nora hatte Angst, ihn zu verlieren, wusste aber ganz genau, dass diese Zeit wichtig für sie war. Nur wenn Mark spürte, dass sie eine eigenständige Person mit einem eigenen Leben war, würde er auf Dauer den Respekt vor ihr behalten.

    Als sie jetzt bei der Essensausgabe hinter ihm stand fühlte sie sich stark genug, ihm gegenüber zu treten. Nora balancierte ihr Tablett an einen freien Tisch, und bedeutete Mark, sich zu ihr zu setzen. Sie aßen zusammen, redeten aber kaum. Dann holte Nora zwei Kaffee und lächelte Mark an. Erleichtert rührte er Zucker in seinen Kaffee und berichtete von den vergangenen Wochen. Er hatte schnell eine Wohnung gefunden und seinen Onkel Walter davon überzeugt, die Wohnung als Kapitalanlage zu kaufen. Dann begann Nora zu erzählen; von der Opernschule und ihren wöchentlichen Terminen bei Frau Hartmann. Sie plauderte begeistert, berichtete von Freunden und Bekannten, von Kino und Oper, von Bars, die sie unbedingt mit Mark zusammen besuchen wollte. Und vom Kammerchor, in dem sie seit kurzem sang. Noras Augen leuchteten als sie davon erzählte. Der charismatische Dirigierprofessor, der den Chor leitete, hatte sie persönlich eingeladen. Sie schwärmte: Weißt du, in diesem perfekten Klang aufzugehen, eine von vielen zu sein, gemeinsam diese Musik zu erzeugen, das ist unbeschreiblich. Und besser, als alleine vorne zu stehen! Mark sah sie neugierig an. Spielte sie eine Rolle oder hatte sie sich tatsächlich binnen zwei Wochen derartig verändert? Nora erzählte weiter. Na ja, eigentlich läuft es solistisch jetzt so gut, dass ich natürlich keine Chorkarriere einschlagen werde. Aber die Leute da sind so nett... Nora redete weiter, Mark hörte nicht mehr zu. Er betrachtete sie. Schlank sah sie aus, strahlend. Und er vermisste sie. Der Gedanke, allein in der neuen Wohnung zu leben machte ihm Angst, aber das konnte er ihr nicht sagen.

     Nora sang. Sie, die für Oper nie viel übrig gehabt hatte, ging im neuen Studiengang komplett auf. Sie belegte alle Fächer, die es gab: Kostümkunde, Operngeschichte, Körpertraining, Fechten und Vorsingtraining. Nach wenigen Monaten konnte sich Nora ein Leben ohne Oper nicht mehr vorstellen. Zur Opernschule gehörte ein kleines Theater, in dem jedes Jahr eine Opernproduktion zur Aufführung kam. In historischen Kostümen, mit Maskenbildnern und Bühnenaufbauten, einer Premiere und anschließenden Vorstellungen. In diesem Jahr stand Mozarts „Figaros Hochzeit" auf dem Programm. Nora war als Kammerzofe Susanna besetzt. Als sie ihren Namen auf der Besetzungsliste las, schrie sie vor Begeisterung, fiel dem schüchternen Tenor-Kollegen um den Hals und tanzte durchs Treppenhaus. Susanna. Der Olymp des Soprangesanges. Die Traumpartie aller Sängerinnen würde ihr Debüt sein! Nora stürzte sich mit Feuereifer in ihre Aufgabe. Sie probte, übte, und verbrachte ganze Tage im Gebäude der Opernschule. Die ungewohnte und fordernde szenische Arbeit machte ihr großen Spaß und die Partie der Susanna war Nora auf den Leib und in den Hals geschrieben.      

    Zwischen Nora und Mark war inzwischen alles wieder in Ordnung. Sie sahen sich nicht oft, aber schließlich stand Nora kurz vor ihrer ersten großen Premiere. Außerdem hatte sie eisern an ihrem Vorsatz fest gehalten, Mark nicht mehr Tag und Nacht zu Verfügung zu stehen. Und dann machte Mark aus heiterem Himmel Schluss. Nora war glücklich und verschwitzt nach dem Fechten nach Hause gekommen. Mark hatte vor ihrer Wohnung gewartet, mit kalten Augen und vor der Brust gekreuzten Armen. Mit zitternden Fingern hatte Nora die Tür aufgeschlossen. Mark hatte sich nicht einmal hingesetzt. Hatte Plattitüden von sich gegeben, die Nora den Boden unter den Füßen weggezogen hatten. „Du bist nicht die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens ...  „In letzter Zeit ... keine Gemeinsamkeiten ... , ... nicht mehr die Nora, in die ich mich verliebt habe ... „Oper, Oper, Oper ... fremd geworden ...  Trotz aller Schwierigkeiten, die sie und Mark in den letzten Monaten gehabt hatten, traf sie dieser Schlag völlig ohne Deckung. Sie brach zusammen und fühlte ihr mühsam erarbeitetes Selbstbewusstsein der letzten Wochen verpuffen. „Mark, flehte sie, um Fassung bemüht, Sag mir jetzt und hier, dass du mich nicht mehr liebst! Mark blickte ohne zu blinzeln in Noras Augen. Ich liebe dich nicht mehr. Tut mir leid, aber es geht nicht mehr. Dann verließ er ihre Wohnung.

    Die ersten Tage verdrängte Nora was passiert war, mit dem Rest an Kraft, den sie noch zur Verfügung hatte. Verbissen stürzte sie sich in ihre „Figaro"-Proben. Nach einer Woche wurde sie zum Direktor der Opernschule zitiert. Vorsichtig schlich er um den heißen Brei. Ob etwas vorgefallen sei, was ihren dramatischen Leistungsabfall rechtfertige. Die Regisseurin sei sehr unzufrieden und überlege, eine andere Susanna zu besetzen. Benommen taumelte Nora aus seinem Büro. Sie hatte alles gegeben, trotz ihrer schweren Lage. Verzweifelt vergrub sie sich zu Hause im Bett. In der Nacht schlief sie kaum, aber als sie am nächsten Morgen vor dem Spiegel stand, fasste sie einen Entschluss. Keine andere würde die Susanna singen. Bis zur Premiere waren es noch zwei Wochen, und sie würde dem Chef und der Regisseurin beweisen, dass sie zurecht besetzt war. Mark hatte sie verlassen. Aber das würde sie nicht ihre Premiere kosten. Zaghaft lächelte sie ihrem blassen Spielgelbild zu und machte sich auf den Weg zur Hochschule.

    Noras Premiere war ein großer Erfolg. Sie hatte sich wieder gefangen und lieferte ein sehr gutes Debut ab. Und sie spürte, wie stark Oper sein kann. Ob Schmerz, Hass oder Liebe: auf der Bühne konnte sie ihre Gefühle freilassen, sich ihnen ohne Angst hingeben, denn niemand fühlte sich angegriffen oder wandte sich ab. Im Gegenteil: die Zuschauer waren ergriffen. Mozarts Musik und die Kraft ihrer eigenen Stimme gaben Nora ein Ahnung davon, was sie sein wollte, und was ihr gut tat. Die unbeschreibliche Erfahrung als Susanna gab ihr Gewissheit darüber, was sie zu leisten imstande war, und was ihr Leben ab sofort bestimmen würde.

    Jan und Gerd besuchten eine Vorstellung und schleppten Nora danach total begeistert in ihre Lieblings-Jazzkneipe. Sie hörten gar nicht auf zu schwärmen, und Nora genoss die Komplimente, ihre Freunde, den Alkohol und die Musik. Sie wirkte so entspannt und selbstbewusst, dass Jan sich nichts dabei dachte, vom gemeinsamen Kinobesuch mit Mark zu erzählen. „Und rate mal, wen er dabei hatte? Sein Schoßhündchen Vera!" Überrascht registrierte

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