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Das Frühlingsfenster
Das Frühlingsfenster
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eBook317 Seiten4 Stunden

Das Frühlingsfenster

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Über dieses E-Book

Lizzy hat es trotz ihrer Panikattacken geschafft, die Geschäftsführerin des Bürgerzentrums zu werden. Doch geschehen bald schreckliche Dinge rund um das Zentrum: Vandalismus, ein brutaler Überfall und schließlich sogar ein Mord erschüttern die Mitarbeiter. Doch wer hätte ein Interesse daran, dem Zentrum zu schaden? Ist es Ophelia, die neue Jugendleiterin, die sich seltsam verhält und Lizzy regelmäßig eine Gänsehaut bereitet? Oder stecken andere Mächte hinter den skrupellosen Attacken? Lizzy weiß bald nicht mehr, wem sie trauen kann. Nicht einmal der Polizist, zu dem sie sich hingezogen fühlt, scheint an ihrer Seite zu stehen. Soll sie sich wirklich in Lebensgefahr begeben und um das Zentrum kämpfen, oder lieber ihre Karriere aufgeben und zu ihren Eltern flüchten?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Dez. 2021
ISBN9783754933336
Das Frühlingsfenster

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    Buchvorschau

    Das Frühlingsfenster - Lilian Dexter

    Frühlingsfenster-ebook

    Das Frühlingsfenster

    Lilian Dexter

    Impressum

    Texte: © 2021 Copyright by Susan Beer

    Cover: © 2021 Copyright by Ronja Forleo

    Verantwortlich für den Inhalt:

    Susan Beer

    Heinrich-Böll-Str. 6

    81829 München

    Sube2309@gmail.com

    Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

    *

    »Da musst du Name reinschreiben. Du verstehen? DEINE NAME!«

    Lizzy sah von ihrem Computer auf. Das ungehaltene Gebrüll kam von Elfriede, die einem Antragsteller das Formular für das kostenlose Mittagessen erklärte. Wobei »erklärte« es wohl nicht ganz traf. Der arme Mann hatte gar keine Chance, ihr zu folgen.

    Lizzy war die Geschäftsführerin des Bürger- zentrums. In der Jugendstilvilla wurde von der Büchergruppe für Senioren bis zur Still-Beratung jede Menge für die Bewohner des Viertels angeboten. Elfriede war Teil des fünfköpfigen Vereinsvorstands und damit Lizzys Arbeitgeberin. Das Zentrum hatte erst seit einer Stunde geöffnet und das war heute schon der dritte Besucher.

    Sollte sie einschreiten? Der Mann tat ihr leid. Ginge sie hinüber, wäre das Problem in zwei Minuten gelöst, aber Elfriede eingeschnappt. Nachdenklich drehte Lizzy ihren französischen Zopf um den Finger. Ihr Büro war durch eine Tür von der Geschäftsstelle getrennt. Sie schloss diese Tür nur, wenn sie konzentriert arbeitete oder eine Besprechung hatte. Man hatte beim Umbau der Villa einen Durchbruch für die Tür geschaffen und Lizzy war entsetzt gewesen, dass deshalb der Stuck über dieser Stelle unterbrochen worden war. Abgesehen davon fühlte sie sich wie im Schloss, wenn sie die kunstvolle Decke ansah.

    Sie kannte den Mann. Er war Paketbote und kam gerade so über die Runden. Das Mittagessen hier war oft die einzige Mahlzeit, die seine Kinder am Monatsende bekamen. Sie warf ihren Zopf wieder auf den Rücken.

    Wenn die gute Frau nur nicht so unfähig wäre. Selbst die Praktikantin hatte in zwei Wochen mehr weg- gearbeitet, als Elfriede in einem ganzen Monat schaffte. Aber sie übernahm die morgendlichen Bürozeiten, was dem Verein viel Geld sparte.

    Die Diskussion in der Geschäftsstelle wurde hitziger. Der Mann versuchte zu erklären, dass er das Formular schon ausgefüllt hatte und nur den Nachweis für diesen Monat brachte. Seine Stimme überschlug sich. Elfriede hörte gar nicht hin, sondern wiederholte stupide, was er eintragen müsse.

    Lizzy hatte sogar mal mit ihrer Therapeutin über Elfriede gesprochen. »Erinnern Sie sich daran, dass Sie Ihr Studium bestanden haben. Sie haben Fachwissen und dürfen deshalb durchaus Kritik üben«, hatte diese ihr gesagt.

    Es war ihre erste Stelle. Was, wenn sie es mit der Kritik zu weit trieb?

    Sie versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht.

    Der Mann hatte offenbar nicht die Zeit, sich durch das ganze Formular zu kämpfen. Elfriede bestand darauf. Das Drama war nicht auszuhalten.

    Ein Kribbeln schob sich ihren Rücken hinauf. Lizzy kannte dieses Zeichen: Ihre Panikattacken kündigten sich so an. Das Leiden des Mannes nahm sie doch mehr mit. Langsam atmete sie ein und aus. Sie schloss die Augen und versuchte, die Diskussion im Nebenzimmer auszublenden. Nach einigen Atemzügen verschwand die Unruhe in ihrem Körper, dafür spürte sie umso stärker die Verzweiflung des Mannes.

    Sie sendete die Mail, an der sie geschrieben hatte, ab und stand auf. Bevor sie an der Tür war, rief Florian nach ihr. Er war der Jugendleiter und ebenfalls im Vorstand des Vereins.

    »Lizzy, bist du da?«

    Sie steckte ihren Kopf in die Geschäftsstelle und fragte: »Bekommen wir wieder eine Praktikantin?« Elfriedes beleidigte Miene ignorierte sie.

    Florian erwiderte: »Das wird vermutlich nicht klappen. Der Gutachter für das Dach war da. Es sieht übel aus. Das zahlen wir nicht mehr aus der Portokasse. Wir besprechen das gleich im Vorstand, da muss schnell eine Lösung her.«

    Er wurde von Elfriede unterbrochen. »Ich werde eine Einladung schicken. Für so eine entscheidende Bes- prechung muss man formal laden.«

    Florian strich sich durch seinen Drei-Tage-Bart und bemühte sich, ruhig zu bleiben.

    »Nein, meine liebe Elfriede, das müssen wir nicht. Hartmut und Achmed sind schon auf dem Weg hierher. Damit sind vier von fünf auch ohne offizielle Ladung da, das reicht für eine außerordentliche Besprechung zu nur einem Thema.«

    Florian wirkte, als würde er in der Schule einem begriffsstutzigen Kind die Pausenregeln das dritte Mal erklären.

    Elfriede setzte ihre rote Kunststoffbrille wieder auf. Zusammen mit einem praktischen Kurzhaarschnitt sollte das wohl sportlich wirken, aber ihre schlaffe Haltung und ihre hängenden Wangen verrieten deutlich, dass sie jegliche Anstrengung scheute.

    »Ja, wenn Hartmut schon Bescheid weiß, dann ist das natürlich in Ordnung. Lizzy kümmert sich bestimmt um die Unterlagen, oder?«

    Elfriede setzte sich zufrieden hinter ihren Computer. Ihr Schreibtisch war riesig und nahm fast das ganze Zimmer ein, dennoch waren auf jedem Regal und sogar auf den Stühlen Ordner und Papiere. Elfriede schien das nicht zu stören.

    Der Paketbote hatte die Gelegenheit genutzt und war gegangen. Lizzy schnappte sich seine Unterlagen und lief zurück in ihr Büro. Sie würde die Anmeldung fertig machen und damit den Kindern auch im nächsten Monat das Mittagessen sichern.

    Florian folgte ihr und sagte:

    »Bis Hartmut und Achmed kommen, könnten wir noch schnell meine Abrechnungen durchgehen. Dann habe ich das schon mal weg.«

    Lizzy nickte. Sie holte die Unterlagen und setzte sich mit Florian an den kleinen Besprechungstisch in ihrem Büro.

    Nach einem Blick auf die einzelnen Belege stutzte sie: »Was ist das für eine Baumarktrechnung? Das sind ja fast fünfhundert Euro!«

    »Ich habe mit der Freitagsgruppe die Fenster abge- schliffen und neu eingestellt. Die Scharniere mussten wir zum Teil austauschen, und ich habe uns eine Schleifmaschine gekauft. Du kannst das doch ab- rechnen, oder?«

    »Ja, ich habe ein Hausmeisterbudget bei Hartmut durchgesetzt. Er will ja nicht, dass wir den Hausmeister- dienst anrufen. Also habe ich ihm gesagt, wenn wir schon alles selbst machen müssen, dann brauchen wir auch Material. Und da gehört dein Werkzeug dazu. Solange ich noch Geld auf dem Budget habe, ist das okay. Meine Fenster müssten auch mal wieder gemacht werden. Zumindest die Winterfenster sollten langsam runter.«

    Florian nickte. »Ich sage Achmed, er soll dir helfen. Das schafft ihr schon, man muss die ja nur aushängen. Aber du hast recht, wir heizen den Garten, so verzogen wie die sind.«

    »Kann das nicht deine Freitagsgruppe erledigen? Ich komme nicht dazu.«

    »Ich muss mit den Jugendlichen auch mal was anderes machen als das Haus renovieren. Wir bieten sowieso viel zu wenig für die Kids an.«

    »Dann ist es ja gut, dass wir noch eine Jugendleiterin bekommen.«

    »Wenn wir das mit dem Dach geregelt kriegen. Es nimmt irgendwie kein Ende.«

    Florian ließ die Schultern hängen und erinnerte Lizzy an ein Gemälde. Eine Bauersfamilie versucht, ihr Getreide vor dem drohenden Gewitter zu ernten. Der Mann auf seine Forke gestützt, zu erschöpft, um noch weiterzuarbeiten. Das Bild hatte Mitleid und Bewunderung bei ihr ausgelöst.

    Sie legte ihre Hand auf Florians Arm und sagte: »Das bekommst du schon hin, glaub mir. Irgendwann scheint die Sonne wieder.«

    Lizzy tat nur so zuversichtlich. Falls sie Florian nicht aufmunterte, wer sollte dann weiter um das Zentrum kämpfen? Der restliche Vorstand war hier keine Hilfe.

    Er seufzte. »Mir graut schon, wenn ich an Hartmut denke. Der wird wieder rumtoben, wenn er das mit dem Dach hört.« Er stierte einen Moment geradeaus, dann gab er sich einen Ruck und sah Lizzy an.

    »Wie gehts mit deinen Attacken? Die Sitzung später ist kein Problem für dich?«

    Lizzy schüttelte den Kopf. »Hartmut macht mir ein bisschen Angst. Aber der ist ja deine Baustelle.«

    Florian lachte trocken. »Du wirst sehen, wir werden dich schneller brauchen als dir lieb ist. Mit dem Jugendhaus wars ja genauso. Bevor du nicht mit der Baubehörde gesprochen hast, dachte ich, das wird nichts mehr.«

    Lizzy wurde rot. »Du weißt ganz genau, dass ich da nicht viel gemacht habe. Ich habe halt zufällig die richtigen Worte bei der Bearbeiterin getroffen und der Rest war ja schon von euch vorbereitet. Lass uns lieber die Abrechnung machen.«

    Sie stand auf, um das Fenster zu öffnen. Der äußere Flügel knarzte und ließ dann kühle Luft herein. Der Park erwachte langsam aus seiner Winterruhe. Die Bäume hatten diese hellgrünen Blattspitzen, die Lizzy so liebte. Lächelnd verfolgte sie ein Eichhörnchen auf seinem ersten Ausflug.

    Auf der Wiese vor dem Haus wehte das restliche Laub vorbei. Sie sah in den Himmel. Es würde heute wohl noch ein Gewitter geben. Besser, sie schloss das Fenster wieder.

    Sie wandte sich Florian zu, der sie angrinste.

    »Du hast den Frühling gesehen, hm?«

    Sie war froh, ihn so selbstsicher zu sehen. Ohne seine Unterstützung kam sie sich hilflos vor. Die Therapeutin hatte ihr geraten, sich an Florian zu wenden, und so hatte sie ihm von ihren Panikattacken erzählt. Der Sozialpädagoge war damit professionell umgegangen und hatte sie nicht vor die Tür gesetzt. Bei Hartmut war sie sich da nicht sicher. Er erinnerte sie an ihren strengen Vater. Bei jedem kleinen Fehler geriet sie in Panik. Würde er sie entlassen?

    Sie hakten die restlichen Punkte ab.

    Schließlich lehnte Florian sich nach hinten, sodass sein T-Shirt über seinen Armmuskeln spannte.

    »Irgendwie finde ich das schon komisch, dass wir fast keine Rücklagen haben. Ich meine, du sagst ja selbst, dass wir viele Mitglieder haben. Etliche zahlen den höheren Förderbeitrag. Wo geht das Geld hin?«

    »Das weiß ich nicht. Ich habe nur Zugriff auf die laufenden Kosten, ich könnte dir nicht mal sagen, was wir von den Mitgliedern bekommen. Das erledigen alles Elfriede und Hartmut.«

    »Ich müsste mich da echt mal mehr mit befassen. Aber das wird schon passen.«

    Die beiden saßen noch einen Moment ratlos da. Das war alles so kompliziert und bis jetzt hatten sie nie darüber nachgedacht. Lizzy zupfte an der Manschette ihrer Bluse. Was, wenn sie dafür haftbar gemacht würde? Man sagte, sie wäre eine tüchtige Verwalterin. Sogar Hartmut war beeindruckt, wie schnell sie sich in die verschiedenen Abrechnungen eingearbeitet hatte. Aber sie konnte ja schlecht Elfriede und Hartmut überwachen.

    Florian brach das Schweigen: »Wenn ich nicht alles in meiner Freizeit machen müsste, dann könnte man sich auch mal um so was kümmern. Vielleicht mit der neuen Jugendleiterin.«

    Lizzy nickte. Die Betreuerin würde einiges verbessern.

    Florian sprang auf.

    »Wenn es sonst jetzt nichts mehr gibt, hole ich noch schnell mein Laptop aus dem Jugendhaus. Wir sehen uns gleich.«

    Lizzy ging nach unten in die Cafeteria, um den Platz für die Besprechung herzurichten. Sie liebte das Jugendstilhaus mit seiner bemalten Fassade, den bunten Fenstern und der knarzenden Holztreppe, die vom Foyer in den ersten Stock zu ihrem Büro führte. Im Erdgeschoß hatten sie einen Gruppenraum, der vor allem für die Mutter-und-Kindgruppen verwendet wurde. Ansonsten gab es eine Küche und die Cafeteria, die sich zu einer eleganten Terrasse öffnete. Es roch nach Blumen. Jemand hatte ein paar Töpfe mit Frühlingsblumen auf das Regal gestellt. Sie nahm die Stühle von den Tischen.

    Hoffentlich fanden sie eine Lösung. Was, wenn sie entlassen wurde? Ihr Körper kribbelte.

    »Das ist nichts für dich, so allein in der Stadt. Du wirst schon sehen.« Hatte ihr Vater recht gehabt? Gleich nach dem Studium eine Geschäftsführung, das war wirklich anmaßend. Noch mal würde sie keiner einstellen.

    Die Gedanken tobten in ihr. Sie versuchte, gegen die Attacke zu atmen. Dann hörte sie Florians Stimme in ihrem Kopf. Er würde die Dinge in Ordnung bringen. Nach ein paar tiefen Atemzügen war sie wieder bei sich, gerade noch rechtzeitig, bevor die anderen kamen.

    *

    Hartmut eröffnete die Sitzung. Er war der Vorstandsvorsitzende und bildete sich viel auf diese Position ein.

    »Liebe Vorstandskollegen, liebe Lizzy, hiermit eröffne ich unsere 17. außerordentliche Vorstands- sitzung. Das Protokoll führt Elfriede, die Leitung übernehme ich. Gibt es Gegenstimmen?«

    Er sah so aus, als würde er für seine sensationelle Begrüßung Beifall erwarten.

    Alle nickten nur zustimmend. Lizzy hatte sowieso nichts zu sagen, da sie nicht im Vorstand war.

    »Anwesend sind: ich, Elfriede, Florian und Achmed. Weiß jemand was von Mechthild?«

    Elfriede meldete sich: »Ich habe sie nicht erreicht, ich glaube, sie hält gerade einen Kurs bei der VHS. Wir haben ja nicht offiziell geladen.«

    Hartmut bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. Sie schien es nicht zu merken. Daher ergänzte er: »Ich kenne die rechtlichen Voraussetzungen, das musst du mir nicht jedes Mal sagen.«

    Elfriede war eingeschnappt, sagte aber nichts. Sie begann umständlich ihre Brille zu putzen.

    Achmed nahm sich wie immer aus der Sache heraus. Er hatte gelernt, dass er als Flüchtling besser unsichtbar blieb. Er war zum Zentrum gekommen, weil die IT zusammengebrochen war. In kürzester Zeit hatte er den Computer wieder zum Laufen gebracht und seitdem lief alles reibungslos. Florian hatte ihn gedrängt, sich zur Vorstandswahl zu stellen. Der junge Syrer hatte mehr Stimmen als Elfriede erhalten, war jedoch genauso bescheiden geblieben wie vorher.

    Lizzy sprach selten mit ihm, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Er war stets höflich distanziert, was in seiner Kultur wohl üblich war.

    Hartmut sagte:

    »Gut, wir haben ja nur einen Punkt. Florian, würdest du bitte anfangen?«

    »Laut dem Bausachverständigen, der heute Morgen bei uns war, ist die Dachkonstruktion morsch. Das heißt, das Dach muss komplett runter und mit einem neuen Dachstuhl wieder aufgebaut werden. Er schätzt, dass uns das ungefähr 180.000 € kosten wird.«

    Alle schwiegen.

    Lizzy sah den Wolken zu, die hinter den hohen Bäumen im Garten vorbeizogen. Die Äste bogen sich. Der Föhn schien sich durchzusetzen, kein Regen heute.

    Hartmut riss sie aus ihren Gedanken. Er beugte sich nach vorn: »Komm, diese Bauleute übertreiben doch immer.«

    Florian stützte sich auf: »Das ist ein amtlich bestellter Gutachter, der verdient nichts daran, dass er uns diese Summe nennt. Außerdem war ich mit ihm und einem Dachdecker oben und habe mir das selbst angeschaut. Du wirst mir schon glauben müssen, das Ding ist hinüber.«

    Hartmut trug seine grauen Haare in einem akkuraten Seitenscheitel, den er regelmäßig mit einem Kamm nachzog. Sein Hemd drohte aus der Hose zu rutschen. Ein Bauch auf Stelzen, wie Lizzys Kommilitonin solche Männer immer genannt hatte. Florian hingegen, durchtrainiert und fit, war wie ein junger Wolf. Jeder sah, wie die beiden um ihr Revier kämpften.

    Florian erläuterte den Bauplan des Hauses und den Fehler, der beim Umbau gemacht wurde. »Daher läuft seit einem halben Jahrhundert bei jedem Unwetter Wasser ins Haus. Es muss also das ganze Dachgeschoss saniert und die Mauern trockengelegt werden.«

    Elfriede schnaufte tief ein. Lizzy und Achmed tauschten einen Blick aus: Das konnte dauern.

    »Denken wir an den Willen der Stifterin. Wie ihr vermutlich nicht wisst«, sie sah Lizzy und Achmed an, die sehr wohl die Geschichte kannten, »wollte sie vermeiden, dass aus diesem gewachsenen Viertel alle wegziehen. Sie gab ihnen ein Zentrum und deswegen …«

    »Jeder von uns kennt die Vorgänge hier. Die Frage ist, woher bekommen wir das Geld.« Hartmut sah Florian drohend an: »Und nein, wir übergeben es nicht an die Stadt. Dann wird das ein reines Zentrum für das Neubauviertel. Sie sehen ja nur noch dort ihre ›Bedarfe‹.«

    Lizzy konnte die Anführungszeichen um Bedarfe regelrecht sehen. Sie hoffte, die ganze Diskussion war bald vorüber. Der Kampf zwischen Florian und Hartmut war nicht hilfreich und verursachte ihr Kopfweh.

    Florian erwiderte: »Wenn wir das Dach nicht selbst reparieren können, bleibt uns gar nichts anderes übrig.«

    Elfriede setzte sich aufrecht hin und dozierte: »Das wird unserer edlen Stifterin aber gar nicht gerecht.«

    Ob die edle Stifterin wohl gerne so genannt worden wäre? Lizzy hatte gehört, dass sie eine pragmatische Frau ohne eigene Kinder gewesen war, die genau gesehen hatte, wie viele Menschen in Not um sie herum lebten.

    »Wir können unsere Ausgaben kürzen und so einen Kredit aufbringen. Wenn Lizzy und Florian auf etwas Geld verzichten, sollte das doch machbar sein. Ich arbeite ja umsonst hier und Achmed bekommt nur eine Aufwandsentschädigung.«

    Florian platzte der Kragen: »Meine liebe Elfriede, nicht jeder hier hat einen reichen Mann, der ihn aushält. Wir müssen unsere Miete mit echter Arbeit finanzieren, aber vielleicht kann ja dein Göttergatte einen hübschen Scheck ausstellen.«

    Hartmut unterbrach ihn: »Dieser Ton war jetzt nicht nötig. Natürlich werden wir alle unseren Beitrag leisten, das erwarte ich gerade von den Vorstandsmitgliedern.

    Dennoch möchte ich daran erinnern, dass wir auch die Möglichkeit haben, den Willen unserer Stifterin mit einem Kulturhaus umzusetzen. Ich bin da in Gesprächen mit einem Kunstsammler, der überlegt, seine Sammlung von Künstlern aus der letzten Jahrhundertwende zu vererben. Das würde wundervoll in unsere Jugendstilvilla passen und auch sonst der Umgebung viel mehr entsprechen.«

    Florian stand auf. »Wenn jetzt wieder dieser Quatsch kommt, dann gehe ich. Willst du das Dach vielleicht mit Bildern abkleben? Wenn’s oben rein regnet, ist es doch völlig egal, was unten drin ist. Also entweder kümmern wir uns jetzt um das Dach oder wir beenden die Diskussion.«

    Elfriede öffnete den Mund, um die Lage etwas zu befrieden.

    Hartmut war schneller. »Dann bleiben wir mal bei den Kosten. Der Betrieb hier ist unglaublich teuer. Aber das interessiert dich ja nicht. Du willst ja nur immer das Geld mit beiden Händen rauswerfen.«

    »Was soll das jetzt wieder heißen?«

    »Na, ständig braucht ihr in eurem Jugendhaus was Neues. Mal ist es ein Drucker, dann irgendwelches Bastelzeug, und wozu das ganze Gartenzeug gut sein soll, ist mir auch nicht klar. Der Garten sieht jetzt auf jeden Fall nicht besser aus.«

    »Kennst du überhaupt den Unterschied zwischen einem Baum und einem Busch, wenn du davorstehst?«, konterte Florian gereizt.

    »Weil du hier der große Botaniker bist!«

    Das saß. Florian hatte erst Schreiner gelernt und dann Kunstpädagogik studiert. Gartenbau war nicht sein Metier.

    »Ist ja schön, wenn du einen Baum und einen Busch malen kannst. Aber hier geht es ums Geld«, setzte Hartmut noch einen nach.

    »Lizzy, du machst uns jetzt eine Aufstellung aller Kosten und dann schauen wir, wo wir sparen können.«

    Sie nickte. »Ja, gern. Aber wir können nicht einfach irgendwo kürzen, weil wir für die meisten Dinge zweckgebundene Zuschüsse bekommen.«

    »Ich habe dich nicht um deine Meinung gefragt, ich will eine Aufstellung. Ob wir was kürzen, entscheidest nicht du.«

    Lizzy senkte schuldbewusst den Kopf. Hätte sie doch ihre große Klappe gehalten. Es lief immer darauf hinaus, dass sie eins aufs Dach bekam, wenn die beiden aneinandergerieten. Sie war ja quasi im Team Florian.

    Dieser stand mittlerweile. Er stützte die Arme auf den Tisch und beugte sich in Richtung Hartmut.

    »Du brauchst Lizzy da gar nicht anbrüllen. Wenn sich jemand hier um unser Geld kümmert, dann ist sie es. Sie hat jede noch so seltsame Fördermethode im Blick. Ich habe heute Morgen schon wieder drei neue Programme kennengelernt, aus denen wir Mittel be- kommen. Aber wie ist es denn mit den Mitglieds- beiträgen? Wo bleiben die?«

    Hartmut wich zurück. Er schien einen Moment zu überlegen, wie er den Angriff parieren sollte.

    Da ertönte die sanfte Stimme von Achmed:

    »Vielleicht können wir ja einen Aufruf machen und es gibt irgendwen, der uns unterstützt. Das ist ja ein reiches Viertel mit all den Villen. Da will doch bestimmt jemand was Gutes tun.«

    Lizzy sah ihn dankbar an. Achmed war noch so jung, aber seine Augen waren die eines viel älteren Mannes. Lizzy vermutete, weil er schon so viel erlebt hatte. Seine ganze Art war weich. Sie hörte ihm gern zu, ihr gefiel der leichte Akzent, das gab seinen Äußerungen etwas Melodisches.

    Hartmut war für diese Reize unempfänglich. Er erwiderte: »Du glaubst doch nicht, dass die Leute aus dem Viertel eure Jugendlichen unterstützen. Die wollen den Lärm und den Dreck nicht.«

    Florian nahm sich sichtbar zusammen und antwortete ruhig: »Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Wir haben so viele Leute hier, die das Zentrum wirklich brauchen. Auch aus der Villenkolonie.«

    Hartmut lehnte sich gönnerhaft zurück und sagte: »Gut, dann beschließen wir, dass wir einen Aufruf zur Spende machen. Gegenstimmen? Nein, gut, dann ist die Sitzung hiermit beendet.«

    Lizzy hatte den Eindruck, dass auch er keine bessere Lösung hatte.

    Elfriede hob zaghaft die Hand: »Und was machen wir, wenn wir nicht genug Spenden bekommen?«

    Hartmut sah sie drohend an. Florian griff die Frage auf: »Ja, was machen wir dann?«

    »Das ist doch wohl klar. Das Zentrum wird eine Kunstvilla. Da kenne ich schon ein paar, die uns dann unterstützen.«

    Alle starrten ihn ungläubig an. War das Kulturhaus bereits mehr als eine fixe Idee von ihm?

    Hartmut stand auf und damit war die Sitzung endgültig beendet.

    *

    Am Nachmittag schnürte Lizzy ihre Joggingschuhe. Sie musste sich unbedingt ein bisschen Auslauf verschaffen, sonst fraß sie ihre Arbeit auf.

    Die Wolken türmten sich auf, aber das Gewitter schien weiterzuziehen.

    Sie wärmte sich auf und lief dann ihre übliche Strecke über die Straße am Industriegebiet vorbei zum Park. Die Luft war klar und roch nach Sommer. Lizzy hörte den Vögeln zu und dem gleichmäßigen Knirschen ihrer Füße auf dem Kies. Sie ließ all die Probleme im Zentrum Revue passieren. Das marode Dach, das fehlende Geld, Elfriede, das Kulturhaus.

    Die Themen zogen durch ihren Geist und sie ließ sie auf dem Kies zurück. Irgendwann waren alle Gedanken gedacht und alle Sorgen gefühlt und sie kam in diesen angenehmen Leerlauf, der nur noch aus ihrem Atem und dem Taptap ihrer Schritte bestand.

    Sie liebte diese Kraft, die im Moment des Laufens über sie kam. Das war wohl das, was man Runners High nannte.

    Früher hatte sie dieses Gefühl öfter, aber es endete stets in einer Panikattacke.

    Die Therapeutin meinte, dass ihr Körper vermutlich zu viel Adrenalin oder ein anderes Hormon nicht verarbeiten konnte.

    Solange sie lief, wanderte das Prickeln einmal durch ihren Körper und dann war da nur noch Kraft und das Gefühl, dass ihr die Welt zu Diensten stand.

    Auf der Bank unter der Trauerweide sah sie ein Liebespärchen. Das Mädchen hatte sich mit dem Kopf auf den Schoß des Jungen gelegt und sah ihn an. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und beugte sich dann nach unten, um sie zu küssen.

    Das versetzte Lizzy einen Stich im Herzen. Die Kraft und gute Laune waren weg. Sie fühlte sich einsam und Neid breitete sich in ihr aus. Alle Töpfe fanden einen Deckel, nur sie war offenbar eine Sondergröße.

    *

    Das Gewitter war in der Nacht doch noch gekommen und Lizzy hatte schlecht geschlafen. Daher war sie müde und unkonzentriert. Die Bewerbungsgespräche für die Jugendleitung würden sie hoffentlich aufwecken.

    Lizzy drehte ihren Zopf in der Hand. Sie saß mit Florian an ihrem Besprechungstisch und wartete auf die erste Bewerberin für die Stelle der Jugendleiterin.

    Er bemerkte ihre Anspannung, stellte seinen Frühstückskaffee weg und sagte:

    »Ich stelle die Fragen und du siehst dir ihre Reaktionen darauf an und machst Notizen. Ich bin gespannt. Mit diesen internationalen Abschlüssen und den Referenzen könnte sie einen besseren Job bekommen als die Leitung unserer Mädchengruppe.«

    Lizzy sagte nichts. Sie war selbst in diesen Job reingerutscht, weil sie es nicht fertiggebracht hatte, sich

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