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eBook513 Seiten7 Stunden

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Über dieses E-Book

Term wächst in der perfekten gerechten, nachhaltigen und gleichen Gesellschaft auf. Die Umweltkatastrophe ist abgewandt, die Dominanz der Männer beseitigt und die Allgemeine Wohlfahrt kümmert sich um die Gesundheit und Rente jedes Menschen: Von Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Nur, dass die Menschen immer älter werden und der Nachwuchs immer weniger. Aber Defizite im System werden durch Terms Lebenszeit ausgeglichen, das bestimmt die Ökologische Sozialistische Partei.
Terms Wunsch, seinen eigenen Weg zu gehen, verlangt automatisch auch von seinen Mitmenschen, ein eigenes Leben zu führen. Das geht nicht im Ideal der Gleichheit. Außerdem ist seine Arbeitskraft schon fest von der Allgemeinen Wohlfahrt einberechnet. Ein frühzeitiges Ausscheiden ist nicht vorgesehen.
Dann trifft er auf Roland, der ihn vor eine unmögliche Wahl stellt: Entweder begeht er ein unglaubliches Verbrechen und wird für immer frei sein, oder er verrät das geplante Verbrechen und wird sein Leben weiterhin eingesperrt verbringen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Nov. 2018
ISBN9783742715128
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    Buchvorschau

    TERM - Felix Leitner

    Wieder ein Alter

    Der Polizist ließ ihn vor einem weißgestrichenen Mehrparteienhaus aussteigen. Es hatte noch die großen, rechteckigen Solarzellen auf dem Dach. Die veralteten Zellen mussten bestimmt über dreißig oder vierzig Jahre alt sein. In der Schule hatte Term gelernt, dass die Energiewende nur gegen einen enormen Widerstand in Industrie und Gesellschaft erreicht worden war. Term verstand das nicht. »Macht und Geld«, hatte Terms Vater den langen Kampf um die Energiezukunft kommentiert. Für Term waren Elektroautos und Solarzellen auf dem Dach normal wie sein Instant-Milchschaum-Kakaocaramel-Drink am Morgen – selbstverständlich zuckerfrei, biologisch angebaut und nachhaltig produziert.

    »Ich melde mich bei dir. So Sprüche wie »Stadt oder Land nicht verlassen« können wir uns ja schenken«, Berg lachte tief. Der silbergraue E-Wagen summte leise davon.

    Term suchte die Klingel- und Sprechanlage ab. Raphael Luks. Etagenwohnung. Die Kamera zoomte beinahe unhörbar. »Wer ist da«, raunte ihn eine alte Stimme an.

    »Was für eine blöde Frage. Sie sehen mich auf ihrem Display und daneben blendet ihnen die Software meinen Namen ein. Ihre Sicherheitsidentifizierung müsste mich längst erkannt haben.«

    »Und?«

    Term seufzte laut. »Ich bin Term. Ihr Lebensunterstützer.« Term wollte kotzen.

    Es klickte leise und die große, massive graue Eingangstür öffnete sich langsam wie ein ägyptischer Grabstein. Gebückt trat Term ein. In der Eingangshalle befand sich ein hochmoderner Aufzug. Aufzüge für Rollstuhlfahrer waren ja stinknormal und gesetzliche Pflicht, aber mehr und mehr wurden diese breiten Aufzüge noch weiter verbreitert. Lebenswagen, mobile Betten und der Lieferservice für die Alten brauchten Platz. Ein Klicken hallte einsam über die weißen Kacheln. Die einzige Tür in der Etage hatte sich geöffnet. Term atmete ein. Er wollte noch eine Lunge voll frischer Luft mitnehmen.

    Braunes Papier, trockenes Moor, kalter Kompost und abgestandenes Parfüm: so rochen für Term die alten Menschen. Obwohl Luks‘ Appartement verdammt modern eingerichtet war, haftete dieser Geruch an den Wänden und Möbeln. In jedem Raum gab es ein Display, mit dem alle Funktionen des Hauses per Fingerdruck reguliert werden konnten. Aber dieser Standard wurde von den kleinen Sensorboxen noch getoppt. Getarnt als kleine schwarze Kunstwerke, schwarz-spiegelnde Pyramiden, Mini-Skulpturen oder ebenso schwarze Vasen mit weißen Steinen reagierten die Sensorboxe auf Stimme, Wärmegrad und Luftgehalt der Wohnung.

    »Computer: Regen.«

    Ein tiefes Piepsen ertönte. »Programm nicht vorhanden.«

    »Beweg dich zum Wohnzimmer. Und lass den Unsinn«, mahnte ihn der Alte aus einem Lautsprecher an. Das ganze Appartement war hell weiß gestrichen. Die wenigen Möbel waren aus Stahlsilber. Die Schränke und Regale in die Wände eingelassen, so dass Eingang und Zimmer wie weite Flure wirkten. Term fand das modern-schick, wusste aber, dass dahinter ein praktischer Grund steckte. Es gab keine Hindernisse für den Bewohner und die Notärzte mit ihren Rollbetten, wenn sie schnell in die Wohnung mussten. Silber eingerahmte Aufnahmen in Übergröße hingen an den Wänden. Sie zeigten einen Mann, um die vierzig, weites Lächeln, kräftiges schwarzes Haar auf einer Wanderung durch den tropischen Regenwald. Der Mann auf den Bildern hatte ein markantes Kinn, breite Schultern und einen stolzen Blick. Ein anderes Foto zeigte ihn dick eingemummt in einen roten Polaranzug irgendwo in einer Eiswüste. Term war sich sicher, dass es derselbe Mann war, da das Kinn unter der dicken Schutzbrille und dem flauschigen Anzug hervorspitzte.

    Das Wohnzimmer war gigantisch und quadratisch im Grundriss. Ein Flachbildschirm wie in einer Kommandozentrale war an der Wand befestigt. Hauchdünn wie ein Blatt Papier. Auf dem Bildschirm lief links in einer Spalte eine Dauernachrichtensendung und darunter wurden Uhrzeit und Datum eingeblendet. Der Rest des Bildschirms füllte eine Kochshow aus. Zu den anderen drei Seiten war der quadratische Raum offen. Durch die Fenster sah er zwei kleine Mädchen im Garten spielen.

    Term kam vom Eingang, links ging es offensichtlich zu Schlafzimmer und Küche und rechts war eine Fensterwand installiert, die aber leider verdunkelt war. In der Mitte des Raumes stand ein schwarzer Sessel. Die Armlehnen waren bestimmt so breit, man hätte einen Teller abstellen können, ohne dass er über die Lehne ragen würde. Das Leder glänzte noch wie im Möbelhaus.

    Das Erste, was Term von Luks sah, war sein Lebensbaum. Basierend auf der Tropfinfusion und der dazugehörigen schiebbaren Halterung hatten Ärzte und Techniker ein modulares Gerüst entwickelt. Bei Luks waren ein Organunterstützer, Flüssigkeits- und Nahrungsregulatoren und eine Ersatzbatterie für die eingebauten Körpermodule eingehängt. Standard bei einem über Hundertjährigen.

    »Du bist fünf Minuten zu spät. Der Polizeiwagen hatte dich aber pünktlich vor meinem Haus abgesetzt.« Der Alte musste mit seinen Kameras die ganz Zeit seinen Eingangsbereich ausspioniert haben. »Was denkst du dir dabei, wenn du so herumtrödelst?«

    »Selbst der ferngesteuerte Straßenverkehr ist spannender als ihre bescheuerten Kochshows.« Term und Luks musterten sich voller Abneigung füreinander. Von Luks‘ prominentem Kinn, schwarzen Haaren, nicht mal von seinem Grinsen auf den Fotos war etwas übergeblieben. Das Gesicht war langgezogen und seine Wangenknochen hingen die dünne Haut wie ein Nagel einen Bilderrahmen auf. Feine Operationsnarben oberhalb der Schläfen verrieten, dass die ganze Kopfhaut gestrafft worden war, damit sie nicht auch noch über die Augen hängen würde. Die Zähne waren geradezu lächerlich gesund. Das künstliche Gebiss strahlte kräftig weiß, wie bei einem jungen Menschen, der nie einen Tropfen Tee, Kaffee oder Wein getrunken hatte. Es fiel beinahe aus der hängenden Mundhöhle heraus. Nur Luks‘ Bick zeigte noch Verwandtschaft mit dem Mann auf dem Foto. Sein stolzer Blick hing erstarrt in seinen farblosen Pupillen fest, wie ein abgestürzter Computer.

    »Haben Sie Großenkelinnen?« Außerhalb seiner Wohnung zerrten und umarmten sich spielerisch zwei kleinen Mädchen. Ihre Haare waren wenige Millimeter kurz geschnitten und gefärbt.

    »Im Altersheim wurde eine staatliche Grundschule integriert. Die Viertklässler haben Pause und können sich einfach nicht ruhig verhaaaa … verhalten«, setzte Luks zu einem Schrei an, der so stark wie ein alter, kranker, ausgemergelter Hund war. Die Kinder im Garten nahmen seinen Protest nicht wahr.

    »War das ein Brüller«, lachte ihn Term aus.

    »Du bist noch zwei Stunden siebzehn Minuten hier. Lass uns besser mit der Arbeit anfangen.« Luks klang, als hätte er Terms Beleidigung nicht gehört. Term nahm an, dass sie gar nicht in seinem Gehirn angekommen war. Gestrandet auf einer toten Synapse.

    »Was soll ich denn hier arbeiten? Sie haben eine Küche, die Sie nicht benutzen.« Luks starrte ihn an. Das Gebiss hing ihm offen entgegen. »Sie werden von Nahrungsmischungen ernährt, die Sie durch einen Katheder zu sich nehmen. Die Verpackung werfen Sie weg. Sie schauen fern, sitzen so, dass Ihr Lebensbaum Sie mit genug Flüssigkeit versorgt und brauchen in vielleicht zwei Stunden einen frischen Beutel.« Angestachelt durch Luks Schweigen fuhr Term fort. »Selbst diesen Wechsel könnten Sie gerade noch alleine machen. Es gibt nichts für mich zu arbeiten. WAS SOLL ICH HIER?«

    Term hatte nicht gemerkt, wie er lauter geworden war. Erst als er den Alten anschrie, merkte er, dass seine Wut sein Sichtfeld schon wieder verdunkelte. Luks gaffte ihn an wie ein Idiot und tippte mit seinen langen, unverkrümmten Fingern auf der Tastatur. Früher hatten sehr alte Menschen meist zu Ballen geformte Hände oder krumm und schief abstehende Finger, wie bei einer Hexenpuppe. Das wurde längst ab dem 100. Geburtstag von der AW standardmäßig behandelt.

    »Ich habe einem Psychologen eine E-Mail wegen deiner Wutanfälle gesandt. Das muss behandelt werden.«

    Term konnte gar nicht verschnaufen und brüllte sofort wieder los: »Das können Sie nicht machen. Zermscheiße noch einmal, du stinkender Zombie, ich brauche keine Selbstanalyse.« Term fühlte sich aggressiv wie ein junger Bulle. Er war kein Freund von Beleidigungen, er war nicht mal gerne wütend. Was war nur los mit ihm? Er wollte Bücher aus Luks‘ Regal reißen. Sie dem Alten an den Kopf werfen … das wäre aber dann wirklich versuchter Mord gewesen. Zum Glück gab es keine offenen Regale und auch keine Bücher in der Wohnung. Überhundertjährige durften nur ausgebildete Betreuer anfassen. Lebensunterstützer wie er durften nur den Notfallknopf drücken. Auf keinen Fall mehr, war ihm in der Vorbereitung beigebracht worden. Die ganze Vorbereitung war eine überkorrekte Zermscheiße gewesen, Term wäre beinahe erstickt. Schnell verdrängte er die Erinnerungen, da sich seine Lunge nicht richtig mit Luft füllte. Er hatte zu viel Wut eingesogen.

    »Eine Kopie ging an deinen Lebensunterstützer Erdogan Lächner und dessen Vorgesetzten und natürlich an die drei ÖSP-Berater für dein Wohnviertel.« Es piepte, als er die Ökologische Sozialistische Partei erwähnte. Luks bewegte seine Augen wie festgefahrene Scheinwerfer auf sein Infopad und dann wieder langsam hoch. »Mein Vorschlag wurde von den Beratern gerade bestätigt und angenommen.« Klang Luks triumphvoll? War das ein erstes Anzeichen von Emotionen, fragte sich Term.

    »Du musst mir helfen, mein Fotoalbum vorzubereiten«, fuhr Luks langsam fort. »Nächste Woche treffe ich mich mit Bekannten aus dem Gerohap-Komplex.« Sein Mund bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer uralten, überschweren Stahllock.

    »Ein Fotoalbum vorbereiten!« Terms Wut stieg schon wieder an. Angestrengt kontrollierte er seine Atmung. Die Wut ebbte leicht ab, aber lauerte darauf, wie eine Flut zurückzukehren. »Das geht alles elektronisch. Sie rufen ihren HomePc mit der Stimme auf. Öffnen die Ordner per Stimme und wählen per Touchscreen die Bilder aus. Was soll ich da machen?«

    »Zuschauen und lernen.« Term drehte sich um und ging in die Küche. »Komm zurück«, befahl Luks vergeblich. Er klang beinahe flehend. Term sah in den Kühlschrank. Wie er es befürchtet hatte, nur Flüssignahrungspackungen. Eine Packung Butter lag seltsamerweise dazwischen. Was wollte der alte Mann damit? Er konnte kein richtiges Brot kauen. Butter zum Braten brauchte er auch nicht. Sein Kochvorgang war ganz simpel: er steckte die Essenspackung seiner Wahl an den grünen Schlauch und die Flüssigkeit tröpfelte in seinen halb-künstlichen Magen.

    »Wofür ist die Butter?«

    »Wenn du mich noch einmal anschreist und mir nicht hilfst, werde ich dir kein Mittagessen zuteilen und eine weitere Meldung für deine Akte schreiben. Wer sich nicht in der ökologisch-gerechten Gesellschaft einbringt, der soll auch nicht essen. Du kennst die Devise.«

    »Ja.« Term schaltete ab und stellte sich neben Luks. Jetzt war es an ihm, den lebendigen Zombie zu spielen. Der Alte fing wieder an im Schneckentempo einer Dampflock … Term kannte den Begriff nur aus dem Unterricht und fand es faszinierend, dass die Menschen früher in Zügen gefahren waren, aus denen vorne Dampf gekommen war. Aber er bevorzugte die neuen modernen Züge: schnittig, leise und extrem schnell. Er hatte sich einmal mit neun Jahren in den Zug gesetzt und war in den Norden und wieder in den Süden Deutschlands gefahren. Alles an einem Tag. Er liebte die hohe Geschwindigkeit. Als ihn seine Mutter angerufen hatte, war er schon weit über fünfhundert Kilometer gefahren. Der Ärger war heftig gewesen, aber Term einfach glücklich … »hier waren meine Freunde und ich in Ägypten. Das ist die berühmte Unterwasser-Party-Kugel auf dem Boden des Roten Meers. Das ist Pier, Frederick, da bin ich.« Term sah dreißig bis vierzig Jahre alte Männer in weißen Anzügen, die Champagner tranken und anscheinend tanzten. Die seltsamen Verrenkungen hatte er mal in einer Dokumentation gesehen. So hatte man früher getanzt.

    »Hier. In dem Ordner habe ich das Neuland in Grönland besucht. So viel grün, wer hätte das gedacht? Dafür mussten wir Dämme in Bangladesch errichten …«. An der Grenze hatten sie ihn aufgehalten. Ein neunjähriger Junge ohne Begleitung und ohne Pass war dem Schaffner aufgefallen. Die blöde automatische, elektronische Reiseüberprüfung hatte das Personal erst aufmerksam gemacht. Zum Glück hatten sie ihm geglaubt, dass er einfach seinen Halt verpasst hatte und keinen Bericht geschrieben. Für solche ungemeldeten Bewegungen konnte man im Heim landen, hatte er gehört. Sogar die Eltern konnten bestraft werden, sagte man. Daher hatte er seinen Eltern davon nicht erzählt … »…das ist der Amazonas übrigens.«

    Term unterbrach seinen Nickrhythmus im Minutentackt. »Sie waren in Brasilien?«

    »Ja. Das hier sind Pier, Frederick und Adgan, der kam damals in unsere Abteilung. Wir vier haben mehr Gewinn für das Unternehmen reingeholt als alle anderen Abteilungen. Da hat uns der Chef eine First-Class Reise geschenkt. Alles Spesen. Hä Hä.« Sein Lachen klang mehr wie das Krächzen einer überfahrenen Krähe.

    »Wie ist Brasilien?«

    »Viel Urwald, Menschen, alte Lastwagen und große Busse … und laut war es. So unsagbar laut.« Intensiv beobachtete Term den Alten. Auf den Bildern sah er Luks, wie ihm eine grün-braun gefleckte Schlange um den Hals gelegt wurde. Er hatte eine Flasche exotischen Biers zwischen den Lippen. Ein anderes Bild zeigte ihn und seine Arbeitskollegen vor Spaß in die Kamera brüllend mitten auf einer befahrenen Kreuzung. Die Kreuzung faszinierte Term. Da waren LKW mit Planen und Holzbeschlag. Kleine Mopeds aus deren Auspuffen schwarzer Qualm aufstieg. Straßenverkäufer hielten Sandalen oder Orangen in die Höhe und schrien ihre Preise über die rumpelnden Motoren.

    Es war fantastisch. Luks und seinen Saufkumpanen schien es auch gefallen zu haben. Sie mussten ihre Zeit sehr genossen haben, denn sie lachten frei in die Kamera. Luks sah auf dem Bild nicht aus, als würde ihn der Lärm stören. Im Gegenteil, sein Kinn war nach unten geklappt und gesunde weiße Zahnreihen formten ein massives Grinsen.

    »Speichern unter Brasilien ‘23«, befahl Luks der Software. Wie Rollladen, die sich schlossen, verschwanden die Bilder in einem neuen Ordner. Term gefiel das Design, er hatte dieselbe Software auf seinem PC. Aber diesmal ging der Speicher- und Verschiebevorgang zu schnell für seinen Geschmack. »Das ist genug für heute. Ich bin müde.«

    Endlich. Term hatte die digitalisierte Lebensschau vorerst überstanden. Luks war gerade mal ein Jahr oder zwei mit ihm durchgegangen. Auf seiner Festplatte hatte Luks leicht dreißig Mal mehr Bilder gespeichert, als er Tage gelebt hatte.

    Terms Blick fiel wieder auf die spielenden Kinder. Sie hatten mittlerweile eine Zweierreihe gebildet und vor einem hölzernen Rosenbogen aufgestellt. Auch Luks starrte sie an, seine Mundwinkel zuckten leicht und Speichel sammelte sich an seinen Rändern. Gaffte er? Was gab‘s denn da zu gaffen? Vor dem Rosenbogen standen zwei kleine Mädchen. Eine übergewichtige Erzieherin stand am Kopf der Zweierreihe und nickte den Mädchen auffordernd zu.

    »Was zur heiligen Zermscheiße machen die da?«, entfuhr es Term. Er ging an das große Fenster, um das Geschehen genauer zu beobachten.

    »Gab es das zu deiner Zeit noch nicht?«, krächzte Luks von seinem Sessel aus. »Die spielen heiraten.«

    Irritiert blickte Term auf die Schulklasse und ging hinaus. »Ey, ich habe dir nicht erlaubt …«, Term hörte nicht mehr auf ihn. Die zwei Mädchen sagten einen Spruch auf, dann umarmten sie sich und gingen durch das Tor. Die Erzieherin klatschte und alle Kinder klatschten mit. Dann ging das nächste Paar an den Rosenbogen.

    Term konnte sich nicht mehr gut an seine vierte Klasse erinnern. Er hatte sich gerauft, gelangweilt und vor sich hingeträumt. Er war schon damals aufgefallen, aber hatte noch keine Minuspunkte bekommen – nur Zusatzaufgaben.

    »Was ist da hinten los«, unterbrach die Erzieherin die nächste Zeremonie, denn hinten in der Reihe zankten sich eine Junge und ein Mädchen. »Norbert, Kerstin, was habt ihr?«

    »Frau Gerrets, Michael will meine Hand nicht halten!«, meinte Kerstin. »Und ich will auch nicht seine Hand halten. Michael stinkt.« Lachen brach unter den Viertklässlern aus.

    Frau Gerrets ging auf das Pärchen zu. »Auseinander! Das ist mir sowieso zu heteronormativ. So, Michael du gehst jetzt zu Paul und Kerstin zu Büsra. Wir haben genügend Pärchen für eine Hetero-Heirat. Der Rest soll sich andere Konstellationen suchen. Wer spielt den Intersexuellen«, wollte Frau Gerrets wissen.

    »Aber Frau Gerrets, Kerstin habe ich schon letzte Woche geheiratet«, beschwerte sich Büsra.

    »Ruhe! Wer spielt den Intersexuellen?« Eine Hand hob sich mit einer grünen Karte, auf der die Rolle vermerkt war. »Gut, dann gehst du jetzt zu Michael und Paul … «

    Murren, genervtes Augendrehen und Kichern begleitete die Neuordnung der Pärchen. »Einer fehlt noch«, kam es aus der Gruppe.

    »Genau, wo gehörst du hin?« Als Term nicht reagierte, schritt die Erzieherin zu ihm und packte ihn an der Hand. »Wo gehörst du hin?«

    Term schüttelte perplex ihre Hand ab. »Nicht in ihre Klasse.«

    »Du kannst ja mitspielen. Man ist nie zu alt«, lud sie ihn freundlich ein. »Wir brauchen einen für Paul.«

    »Öhm, nichts gegen Paul, aber ich bin nicht schwul«, sagte Term beiläufig, ohne nachzudenken.

    »Boaaah, das sagt man nicht. Der hat wohl in der vierten Klasse nicht aufgepasst!« Die Viertklässler warfen ihm böse Blicke zu, wie es nur kleine Kinder konnten.

    »Wo gehörst du hin?« Alle Freundlichkeit war aus dem Gesicht der Erzieherin gewichen und sie packte wieder sein Handgelenk.

    »Luks.« Term war noch immer völlig perplex. Er hatte es nicht böse gemeint, so wurde unter Jugendlichen gesprochen – wenn niemand in der Nähe war. Mit einem Ruck zog die Erzieherin ihn zu Luks in die Wohnung. »Ihr spielt noch zu Ende, dann habt ihr Pause«, wies sie die Kinder an.

    »Gehört der zu ihnen«, verlangte sie zu wissen. »Er hat ein maskulinistisch heterosexuelles Schimpfwort vor meinen Schülern gebraucht! Ich muss eine Mitteilung an die Zentrale schreiben. Ein solches Vergehen muss mit einem Minuspunkt in der Akte geahndet werden.«

    »Tun sie das. Er wurde mir heute erst zugeteilt.«

    Term sagte gar nichts mehr, rieb sich die Hände und beobachtete Luks und die Erzieherin.

    »Ein schönes Spiel, das sie da spielen«, lobte Luks ihre Arbeit und freute sich. »In dem Alter hören die Kinder noch auf die Erwachsenen.«

    »Danke.« Draußen heirateten sich die Viertklässler, ein Paar nach dem anderen. Frau Gerrets stützte ihre Arme in die Hüften und blickte stolz auf ihre Kinder: »Ja, in dem Alter tun sie noch, was man ihnen sagt.«

    Zufrieden schwiegen die Erzieherin und der Alte für eine Weile und genossen gemeinsam den ordentlichen Ablauf im Garten. Die Kinder dagegen spielten friedlich, wie es ihnen aufgetragen war. Mit albernen Grimassen und Gekicher gingen sie durch den Rosenbogen und als sie fertig waren, begannen die Kinder durch den Schulhof zu rennen. Schnell hatten sie sich auf der Wiese und zwischen den Bäumen verteilt. Das Spiel der Kinder hatte den Alten und die Erzieherinnen beruhigt.

    »Gute Kinder«, bemerkte Luks. Frau Gerrets bedankte sich daraufhin, verabschiedete sich und ging zurück auf den Schulhof.

    »Ich hau ab.« Term konnte die selbstgerechte Stimmung nicht mehr ertragen.

    »Nicht so schnell.« Luks lag regungslos in seinem schwarzen Sessel. Wie eine Folie auf dem Leder. Genau wie vor Stunden, als er begonnen hatte, Term mit seinen Bildern zu belästigen.

    »Meine Zeit für heute ist vorbei. Zwei Stunden muss ich per Gesetz ableisten.«

    »Hä Hä. Ableisten nennst du es. Hä Hä. Was glaubst du, habe ich mein Leben lang an Steuergeldern diesem Staat abgeleistet. Da hat mich keiner nachgefragt. Hä Hä … leisten. Das ganze Geld gehört dem System.«

    »Ich habe aber gar kein Geld«, erwiderte Term.

    »Nein. Aber Zeit … und Zeit ist … Hä Hä.« Luks hatte einen perversen Spaß an dem Vergleich. Term hasste ihn dafür.

    Er fühlte sich schuldig. »Du sollst nicht hassen.« Das hatte der papua-neuguineische Priester im Religionsunterricht mit seinem lustigen Akzent gesagt. Das hatte ihm aber auch seine Oma gesagt. Term wollte nicht hassen. Aber er tat es.

    »Bring mir meinen Kaffee und Kuchen. Die fünf Minuten länger bringen dich nicht um.« Luks Körper schien auf dem Sessel zu flattern. Anscheinend fand er schon wieder etwas an seinem letzten Satz lustig. Seine verbliebenen Brustmuskeln zitterten und sein Körper wackelte und flatterte. Das war sein Lachen.

    »Und Term, schneid mir eine hauchdünne Scheibe von der Butter ab.« Die seltsame Bitte erreichte ihn in der Küche.

    Kaffee und Kuchen waren ein schlechter Witz. Koffein würde Luks in seiner medizinischen Verfassung umbringen. Genauso wie der Zuckerschock eines Käsesahnekuchens. Selbst die Glasur eines gesunden Obstkuchens mit frisch gepflückten Beeren könnte ihn unter die Erde bringen. Alles was Term im Kühlschrank fand war eine kleine Kapsel, doppelt so dick und hoch wie sein Daumen, mit der Aufschrift »Kaffee und Kuchen, Dienstag«. Und die Butter.

    »Danke, Junge.« Term konnte die Bezeichnung nicht ausstehen »Steck sie an meinen Lebensbaum an. Die gelbe Öffnung ist es.«

    »Weiß ich. Das weiß doch jeder. Auf der Kapsel ist auch extra ein gelbes Symbol.« Term war genervt. Die Alten mussten immer alles erklären. Immer und immer wieder. Die Flüssigkeit war braun-weiß und sehr dick. Langsam floss das Geschmacksimitat durch die Schläuche. Wieder beobachtete Term den Alten. Menschen reagierten auf Kaffee und Kuchen. Sein Vater atmete laut und glücklich aus nach einem ersten Nippen. Seine Mutter biss gerne auf frisches Obst. So, dass es knack machte. Seine Oma wurde richtig aufgedreht vor Freude, wenn sie Sahne aß – wahrscheinlich hatte Term seine Sahnesucht von ihr. Jonas, sein Schulfreund, verzog dagegen das Gesicht, wenn er Kaffee trank. »Ist ne bittere Sache, aber die Mädels finden‘s gut. Du lehnst dich an die Mauer, nimmst lässig die Tasse und nickst den Mädels zu.« Term war nicht ganz überzeugt von Jonas‘ Mädelsgeschichten. Der Punkt aber war: Jonas Körper reagierte auf Kaffee.

    Luks schluckte nicht einmal. Wie auch. Die braune Brühe floss direkt in seinen Magen … und bald würde sie da auch wieder raus fließen, ohne groß die Farbe zu wechseln.

    »Die Butter.«

    Term stellte einen Teller mit einem feinen Stück Butter auf Luks Armlehne.

    »Verabreiche sie mir.« Gierig sah Luks auf die Butter.

    »Butter ist verboten. Die ist nicht gesund für Sie«, spulte Term das Wissen ab, das er bei seiner Einweisung in den Lebensunterstützerdienst hatte auswendig lernen müssen. »Ihr Lebensbaum wird Alarm auslösen, wenn Sie die essen.«

    »Nein. Kleinstdosierungen fallen nicht auf. Die Butter!«

    »Sie steht doch bei ihnen«, fuhr Term den Alten an.

    »Ich kann nicht … reiche sie mir.« Luks drehte seinen Kopf nach Links. Sein stolzer Blick wirkte lächerlich, als er seinen Mund öffnete und hilflos wartete.

    Angeekelt nahm Term die dünne Butterscheibe mit den Fingern. Er drückte zu fest zu und sie flutschte ihm aus den Fingern und fiel auf Luks Schulter. »Idiot«, kommentierte Luks sein Versehen. Schnell griff er sie wieder und legte Luks die Butter auf seine vertrocknete Zunge. Speichel und Butter klebten an seinen Fingern und Term eilte angewidert in die Küche, um seine Hände zu waschen.

    Im Wohnzimmer lutschte Luks genüsslich die Butter.

    Das Ende des Fleischdeputats

    »Du hast ihn doch nicht umgebracht! Ich finde den Verdacht der Polizei eine Zumutung.« Seine Mutter war eine schöne Frau. Jedenfalls sagte das sein Vater sehr oft. Auch Lukas, sein Schulfreund, meinte das. Aber für Term war sie einfach seine Mutter. Das Fantastische an ihr war: sie war unkompliziert. Keine langen Reden, keine tausend emotionalen Erinnerungen, wie sehr sie sich wünsche, wie schön es wäre und wie gut es einem selbst täte. Nein, seine Mutter brachte die Dinge auf den Punkt. Ohne Umschweife. Leider setzte sie damit aber auch immer ihren Willen durch. Term mochte zwar nicht immer aufräumen oder Hemden an Geburtstagen tragen, aber dafür trug ihm seine Mutter nichts nach.

    »Term, hast du jemanden umgebracht?« Sein Vater stand noch in der Küche, als er die Frage zwischen laufendem Wasser und dampfendem Ofen stellte. »Ah, Mist. Ich habe mir den Finger an der Auflaufform verbrannt.«

    Mutter legte ihr Nachrichtenpad weg und schüttelte den Kopf. Dann sah sie mit ihren braunen Augen Term mitfühlend an. Term tippelte mit seinen Füßen auf dem Boden. »Kommst du mit deinem neuen Senior zu Recht?«

    »Nein. Er ist ein A …« Seine Mutter sah ihn streng an. Liebevoll oder streng, sie konnte sehr schnell zwischen beiden Stimmungen wechseln, wenn nötig. »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

    Sein Vater stellte die dunkelblaue Auflaufform auf den Tisch. Sie hatte die Form eines Xes. »Term«, ermahnte ihn sein Vater, während er die Beine des Xes schnitt und Käse-Schinken-Gratin auf den Tellern verteilte. »Du musst lernen mit diesen Aufträgen klar zu kommen. Du sammelst verdächtig viele Mahnungen. Das bleibt doch alles in deiner Akte.«

    »Die Akte ist mir egal.«

    »Term. Die Akte der AW ist nicht egal. Die Akte bestimmt dein Leben. Geht das in deinen Kopf nicht rein?« Sein Vater strafte ihn wütend mit seinen Blicken. Term verbrannte sich die Zunge.

    »Schau Term, das war nicht klug. Dein Vater will nur, dass du daran denkst, was deine Handlungen für Konsequenzen haben. Die Polizei wird bestimmt zweimal nachsehen, weil du so … so wirklich viele und unnötige Ermahnungen hast.« Seine Mutter sorgte sich immer noch wegen des Mordverdachts. Ihre helle Stimme berührte ihn durch seine düstere Genervtheit hindurch.

    »Ja. Es tut mir ja leid«, sagte Term leise und etwas komisch. Die Zunge schmerzte noch.

    »Du bist doch gar nicht so.« Term nickte.

    »Ach er hat doch Recht«, entfuhr es seinem Vater. Das Grau an den Schläfen seines sonst dunkelbraunen Haares erinnerte Term an einen alten Baum, der verwitterte.

    »Heinrich?«

    »Wenn da nicht die Konsequenzen für sein Einkommen wären, würde ich genauso reagieren.« Sein Vater schnitt das Gratin und aß einen Happen.

    »Du bist ja ein schönes Vorbild. Ermutige ihn nur dazu, die Senioren weiter zu ärgern, zu beleidigen. Was hatte er letztens gemacht? Er hat in jede Nahrungskapsel Beta-Carotin gemischt. Heimlich, über Wochen hinweg. Der alte Mann hatte lächerlich ausgesehen. Ein Glück, dass sein Körper das vertragen hat. Ansonsten …«

    Bei der Geschichte schien sein Vater beinahe zu grinsen. Zum Glück war die medizinische Seite glimpflich ausgegangen. Term war in der Vorbereitung gewarnt worden, dass jede Nahrungsveränderung zu körperlichen Konsequenzen führen könnte. Aber es war ihm in dem Moment egal gewesen. Er wollte herausfinden, ob der alte Moralbonze orangefarben anlaufen würde. Aber es hätte auch ganz anders ausgehen können, da hatte seine Mutter recht. Wie so oft.

    »Schmeckt es dir?«, fragte seine Mutter nach. Term schmeckte wegen der verbrannten Zunge nicht viel, aber es roch gut.

    Das Gesundheitsarmband seines Vaters piepte. »Neeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiin. Jetzt schon?«

    »Hast du auf der Arbeit Fleisch gegessen? Heinrich?«

    »Es war doch nur eine Leberkässemmel.« Echos von Tränen liefen an den Wangen seines Vaters herab. Sehnsuchtsvoll sah er den Schinken im Auflauf an.

    Sie haben Ihr Fleischdeputat für diesen Monat aufgebraucht. Sie können bis zum Ersten des nächsten Monates kein Fleisch mehr erwerben und dürfen keines mehr verzehren. Ihr Gesundheitsbetreuer in der Allgemeinen Wohlfahrt ist benachrichtigt. Vergessen Sie nicht: Fleischkonsum beschleunigt den Klimawandel, deswegen wurde er dank dem GNHL stark eingeschränkt. Sehen Sie ihre fleischfreie Zeit als Chance die Welt ein Stück besser zu machen. Als die Computerstimme verstummte, schwiegen seine Eltern. Sein Vater sezierte den Schinken aus dem Auflauf auf seinem Teller heraus. Seine Mutter streichelte seine linke Hand und lächelte ihm mitfühlend zu.

    »Ich wäre lieber Mao gefolgt als unter dem Gesetz für nachhaltiges Leben zu existieren«, murrte sein Vater kleinlaut. »Ich esse exakt gleich viel Gramm Fleisch, trinke exakt gleich viel Liter Milch im Monat und habe bestimmt den exakt gleichen Stuhlgang wie jeder 49-jährige Deutsche. Unter Mao konnte man zwar jederzeit zwangsexekutiert werden, aber wenigstens konnten sich die Kommunisten noch besaufen und überfressen.«

    »Können wir nach Brasilien fliegen? Einfach mal Urlaub machen?« Traurig stocherte seine Mutter mit der Gabel im Gratin herum. Term fühlte sich sofort schuldig, er wusste, wie gerne sie verreiste.

    »Ausgeschlossen, Term. Das Geld haben wir nicht so locker.«

    »Wieso denn nicht? Ihr arbeitet beide.«

    »Das habt ihr wohl in der Schule noch nicht drangenommen … Du kennst doch das System, dass jeder Jugendliche ab seinem zwölften Lebensjahr als Lebensunterstützer arbeiten muss. In dieser Zeit kannst du dir für deine Rente Zusatzpunkte erarbeiten. Wenn du nicht ordentlich arbeitest oder die Alten beleidigst", Vater hob seine Augenbrauen, »dann bekommst du weniger oder nichts für deine Rente gutgeschrieben. Wenn du ins Arbeitsleben eintrittst, ist dein Guthaben bei null, plus all die Boni … bei dir eher die Mali, die du dir bereits in der Jugend erarbeitet hast. Bei uns Erwachsenen im Arbeitsleben gab es früher mal den Tag des Steuerzahlers. Der sagte aus, bis wann man im Jahr für den Staat arbeitete und ab wann man den Lohn für seine Arbeit für sich behielt. Das war so …«

    »Juni. Aber nach der Staatsschuldenkrise, dem Ausbau der Gesundheitssysteme, der Sozialsysteme und der Glückssysteme für alle Bereiche des Lebens sprang der Tag auf September. Wanderte mit der Gründung der Allgemeinen Wohlfahrt in den November und als er auf dem 31. Dezember lag wurde es verboten, über diesen Tag zu reden oder zu schreiben.« Mutter wusste solche Details immer besser als sein Vater.

    »Genau. Damit dieser Garantie- und Absicherungsstaat noch irgendwie funktioniert, arbeitet man jetzt sein Leben für die Sicherungssysteme und kurz vorm Ende für sich. Ich muss bis ich 55 bin für den Staat arbeiten, dann hab ich noch die verbleibenden Jahre, um nur für die Altersabsicherung zu arbeiten. Ohne die Boni aus der Jugend hat man keine Chance auf etwas Zeit, bevor man an einen Lebensbaum angeschlossen ist.« Sein Vater warf wütend die Gabel auf den Teller und stützte seinen Kopf auf das Kinn. Term war erschrocken, er sah so gebrochen aus.

    Das machte Term noch wütender. »Dann verkaufen wir das Auto. Dafür bekommen wir bestimmt drei Tickets. Wir müssen ja nicht zurückfliegen.«

    »Term!« Doch er ließ seine Mutter nicht zu Wort kommen.

    »Ich werde dort sofort arbeiten. Das Geld gebe ich euch, damit wir alle gut auskommen.« Term sah sich schon unter der Sonne Brasiliens in einer Bar aushelfen. Wenn er dann 18 war, würde er Elektromechaniker werden und in einer lauten Nebenstraße täglich die E-Wagen reparieren. Abends dann kühlen Limettensaft trinken und zum Tanzen in den Club gehen – in den Club Celecao oder in die Bar Dragao oder im Calido oder wie sie hießen. Seine Eltern würden in Brasilien bestimmt Jobs finden. Sie hatten beide sehr gute Abschlüsse. »Ihr beiden könntet abends Cocktails trinken gehen. Zusammen Tanzen. Nicht wie hier, wo ihr müde nach Hause kommt und nur eure Zeit ableistet.«

    »Term. Es ist genug.« Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr Mutters Augenbrauen aus Sorge zusammengewandert waren.

    Term warf die Gabel in seinen Auflauf. Der Stuhl schabte laut über den Boden, als er wütend den Tisch verließ. Sein Vater schimpfte. Seine Mutter bat ihn, wenigstens doch etwas zu essen. Hunger müsse er doch haben! Er hatte keinen Bock auf das Minimum. Wenigstens zusammen zu sein, als Familie am Tisch. In solchen Momenten nervten ihn seine Eltern gewaltig. Sie dachten nur an den Alltag. An das, was zu tun war, was sich gehörte und worüber er nachdenken sollte. Und dann? Wollten seine Eltern nicht auch leben? Nicht einfach nur funktionieren?

    Er schlug die Tür nicht zu. Theatralik lag ihm nicht. Seine Wutausbrüche verunsicherten ihn selbst schon genug. Das am Tisch war aber keiner seiner unkontrollierten Wutausbrüche gewesen, sondern einfach nur Ärger mit den Eltern.

    Terms Zimmer war voll und eng. Es glich einem Urwald aus alten Zeitschriften und ein paar Büchern. Nicht mehr viele, die meisten las er elektronisch. Aber manche alten Ausgaben waren anders nicht zu bekommen. Vor allem die Naturkunde- und Reisezeitschriften. Er kaufte sie für wenig Geld online oder bei Hausräumungen. Deswegen roch es in seinem Zimmer manchmal muffig. Viel altes Papier auf einem Fleck produzierte eine abgeschmackte Luft. Er kippte deshalb immer sein Fenster. Auf den Zeitschriften, die unordentlich auf dem Boden und in den Regalen herumlagen, standen elektronische Bilderrahmen. Fotos von Urwäldern, Bergen und Küsten wechselten sich ab. Die Bilder gingen sanft ineinander über und verstrahlten ein leichtes blaues oder grünes Licht.

    Term warf sich in sein Bett und starrte an die Decke. An der Decke hing sein Lieblingsposter. Es zeigte das Nachtleben von Rio de Janeiro. Term verlor sich in seinen Gedanken. Bei diesem fantastischen Poster ging das in Sekundenschnelle. Auf dem Gehsteig neben ihm tanzte ein brasilianisches Pärchen wild und leidenschaftlich. Ihr roter, geknitterter Rock flatterte laut in der Luft. Ein Cocktailverkäufer und er stießen freundlich zusammen. Die kantigen Gläser klirrten. Er war doch fast siebzehn. Wen kümmerte es? Überhaupt, wen kümmerten Regeln und Vorschriften, wenn man durch die Straßen Rios ging? Kleine Mopeds schossen an ihm vorbei, hupten, überholten sich und bogen scharf ab. Term schmeckte das Benzin in der Luft. Alle Menschen dort waren mit Leben beschäftigt, mit Lachen, mit Geld ausgeben, für das, was das Herz gerade begehrte. Hier gab es keinen Sparzwang und keinen Nahrungs- und Konsumplan für die nächsten 365 Tage. Die Nacht lebte in Rio und die Bewohner Rios lebten in der Nacht. Unter ihnen Term.

    Der 99. Geburtstag

    Wenn er jetzt Luks mit voller Wucht … ach mit einem leichten Kick von der Seite gegen die Schultern treten würde, müsste er nicht zum Geburtstag. Term wollte ihn wegkicken, allein damit er nicht neben diesem alten Monster stehen würde, das ihn ständig zu Recht wies und korrigierte.

    »Nä«, krächzte Luks, »wir können stolz sein auf unser System. Niemand hungert und die Busse und Bahnen sind pünktlich. Das schaffen die meisten Länder in Afrika immer noch nicht.« Term hatte dem Scheusal auf seine Frage, wo er hinreisen wolle, ehrlich geantwortet. Sofort erhielt er Belehrungen von Luks, der sein Leben lang die Welt bereist hatte. Etwas, das Term niemals möglich sein würde. »Fahr nach Portugal, Griechenland oder hoch nach Dänemark und du wirst einen schönen Urlaub erleben. Dort gibt es keine bösen Überraschungen und nur Essen, das vorher auch nach ökologischen und gerechten Kriterien zertifiziert, geprüft und zubereitet wurde.«

    »Dort gibt es auch keine guten Überraschungen«, entgegnete Term. Der Tritt hätte ihn ins Gefängnis gebracht. Bei einem so alten Menschen konnte die leichteste Erschütterung an Schulter, Torso oder sonst wo zu gebrochenen Rippen und Hüften führen. Die uralten Knochen mussten morsch wie gammlige Sumpfäste sein. »Sie waren schon lang nicht mehr in Afrika. Dort haben die Menschen …«

    Ein kühler Lufthauch entwich aus dem Bus, der leise wie eine Schnecke an die Haltestelle gekrochen war. Term konnte ganz schwach die Kompressoren hören, als der Bus standardmäßig auf Gehsteigniveau abgesenkt wurde. Zwischen Bus und Bordstein presste sich fester, schwarzer Plastik-Elastostoff. Schnell wie ein Airbag schoss er unter der Eingangstür hinaus und füllte die gefährlichen Stolperlücken.

    »Dort haben die Menschen noch quietschende Busse. Die sind erbärmlich laut und die Luft verpestet. Es kostet einen bestimmt ein gutes halbes Jahr an Leben, wenn man sich in Afrika oder Asien aufhält. Das kann die AW nicht kompensieren und daher ist es zu Recht verboten. In diese Länder reisen ist ja wie freiwillig Gift essen und atmen. Wer macht das schon?« Luks schob seinen Lebensbaum in den Bus und setzte sich auf die Unterstützungsplätze. Dort stöpselte er seinen Lebensbaum an die Energieversorgung an und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Er sah aus, als wäre er tot.

    »Früher wäre ich die Strecke gerne mit meinem Auto gefahren. Wir wären in einer Viertelstunde bei Jacqueline. Ich hatte einen Ferrari. Der war lang und knallrot. Die Zylinder haben eine unglaubliche Kraft entwickelt. Junge, bist du schon mal 200 km/h gefahren?«

    »Nein. Ist verboten.«

    »Wann ist denn das passiert?« Luks klang ehrlich überrascht. Aber nicht überrascht genug, um eine Regung in seinem Gesicht zu produzieren. Term war sich nicht sicher, ob das seine Gesichtsmuskeln überhaupt noch hergaben.

    »Bei hohen Geschwindigkeiten ist der Schaden an den menschlichen Körpern bei einem Unfall zu hoch. Sie wissen schon, dann kann man keine Organe mehr retten.« Term blickte aus dem Fenster. Sie würden für die kurze Strecke eine gefühlte Stunde brauchen. Aber der Bus durfte nicht schneller als 30 km/h fahren, da er fast ausschließlich von alten Menschen genutzt wurde. Außerdem dauerte das Ein- und Aussteigen. Es dauerte.

    »Hä … klingt vernünftig.« Dann knickte Luks Kopf nach vorne und er öffnete mühsam seine Augen. »Vernunft ist wichtig. Der Verbrauch meines Ferraris war zu hoch. Auch der Lärm war zu hoch und für die Materialien wurde … wurde irgendein Volk irgendwo ausgebeutet. Das war schon okay, dass die von der Partei Sportwagen verboten haben.« Luks klang, als wäre es überhaupt nicht okay gewesen. »Nicht einmal einen Kleinwagen durfte ich mehr fahren. Nur diese Mini-Elektromobile, bei denen die Route vorher einprogrammiert wird. Zeitung soll man dann lesen oder das Mobi-TV schauen. Das ist doch kein Autofahren. Da, schau sie dir an.«

    Am Bus flitzten ein paar Mini-Es vorbei. Wie kleine silberne Fische machten sie einen engen Bogen um den dicken, dunklen Bus, der sich wie ein Wal durch die Wohngebiete schob. Term mochte die Fahrzeuge. Wenn man den Bordcomputer ausschaltete, konnte man die Mini-Es sogar selbst steuern. Das machte Spaß … war aber nicht erlaubt. Er zuckte Luks gegenüber die Schultern, er hatte diesen Verbots- und Besserwisserwahn nicht begonnen. Luks tat ihm nicht leid. Term kannte es nicht anders.

    »Wie lang muss ich denn bei Ihnen bleiben?« Seine Blicke folgten den kleinen Flitzern, die jetzt vor dem Bus fuhren. Würden sie noch schneller fahren, würden die Kameras sofort ihre Geschwindigkeitsübertretung aufzeichnen und ein paar Stunden später eine elektronische Nachricht an den Postkasten der Fahrzeughalter senden.

    »Bis die Feier vorbei ist.«

    Jetzt legte Term den Kopf in den Nacken und stöhnte laut. »Feier? Sie werden Kuchenkapseln zu sich nehmen und über längst vergangene Zeiten reden, als Sie noch laufen und lachen konnten. Wenn Sie sich überhaupt noch an alles erinnern können.«

    »Du hast gerade mal 16 Jahre in deinem Kopf gespeichert und schon die ersten vier bis sechs Jahre verloren. Die Babyjahre verliert der Mensch immer zuerst. Warte ab bis du acht oder neun Mal so viele Erinnerungen hast.«

    »Ich

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