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DER REGENMANN: Anja Spangenbergs fünfter Fall
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DER REGENMANN: Anja Spangenbergs fünfter Fall
eBook616 Seiten8 Stunden

DER REGENMANN: Anja Spangenbergs fünfter Fall

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Über dieses E-Book

"Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …"
Er nennt sich selbst DER REGENMANN und schlägt nur zu, wenn es heftig regnet.
Er unterhält sich mit dem Regen, den er als seinen Mentor und Ratgeber betrachtet und in dessen Gegenwart er sich stärker und mutiger fühlt.
Er beobachtet seine Opfer zunächst aufmerksam im Schutz des Regens und der Dunkelheit, bevor er in ihre Häuser eindringt und rasch und erbarmungslos zuschlägt.
Auch der Name von Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg von der Vermisstenstelle der Kripo München steht auf der Todesliste des REGENMANNS …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Feb. 2019
ISBN9783742705716
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    Buchvorschau

    DER REGENMANN - Eberhard Weidner

    Titel.jpg

    INHALTSVERZEICHNIS


    COVER

    TITEL

    PROLOG

    1

    2

    3

    4

    5

    ERSTER TEIL

    6

    7

    8

    9

    10

    11

    12

    13

    14

    15

    16

    ZWEITER TEIL

    17

    18

    19

    20

    21

    22

    23

    24

    25

    26

    27

    28

    29

    30

    31

    32

    DRITTER TEIL

    33

    34

    35

    36

    37

    38

    39

    40

    NACHWORT

    WEITERE TITEL DES AUTORS

    LESEPROBE

    PROLOG

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    PROLOG

    1


    Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …

    Der Regenmann sah zum Himmel und lächelte zufrieden.

    Die lückenlose Wolkenschicht hing wie eine erstickende schwarze Decke über der Stadt. Da weder die Sterne noch der Mond zu sehen waren, war die Nacht nahezu stockfinster. Darüber hinaus regnete es in Strömen.

    Doch er war über all das nicht unglücklich. Im Gegenteil. Er mochte die Dunkelheit, denn in ihr konnte er sich vor den anderen verbergen. In ihrem Schutz konnte er seine sogenannten Mitmenschen beobachten, ohne dass sie ihn sahen und etwas davon bemerkten. Und wenn es, so wie jetzt, auch noch wie aus Eimern schüttete, fühlte er sich erst recht in seinem Element – beinahe wie ein Fisch im Wasser.

    Der Regenmann, wie er sich nicht nur wegen seiner ausgeprägten Vorliebe für Regenwetter selbst nannte, kauerte im Schutz einiger Büsche auf der Rückseite des Grundstücks, das in unmittelbarer Nähe des Waldfriedhofs lag, und beobachtete das Haus. Er trug einen mattschwarzen Regenparka, dessen Kapuze er sich über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen hatte. Dazu eine Regenhose, Gummistiefel aus Neopren und extra dicke Einweghandschuhe aus Nitril; alles ebenfalls in Schwarz, sodass er nahezu vollständig mit der geliebten Dunkelheit verschmolz, die ihn wie ein Tarnmantel umgab und für neugierige Augen so gut wie unsichtbar machte. Allerdings sorgten sowohl die Uhrzeit als auch das Wetter ohnehin dafür, dass die Leute zu Hause blieben und nur dann einen Fuß vor die Tür setzten, wenn es absolut notwendig war.

    Während er das Haus beobachtete und die Vorgänge darin durch verschiedene Fenster und die Terrassentür aufmerksam im Auge behielt, lauschte er den Regentropfen, die beständig auf seine Kapuze und seine Schultern fielen. Der Rhythmus, mit dem die schweren Tropfen ihn trafen, veränderte sich ständig und bildete Laute, die außer ihm niemand verstehen konnte. Nur er war dank langjähriger Übung dazu in der Lage, das Getrommel in verständliche Worte zu übersetzen. Auch aus diesem Grund war er der Regenmann. Denn der Regen sprach zu ihm; und der Regenmann hörte ihm geduldig zu und tat, was der Regen ihm riet oder von ihm verlangte.

    Bald ist es so weit, wisperte der Regen in diesem Moment in seiner plätschernden Regentropfenstimme.

    Der Regenmann nickte nur. Es war nicht notwendig, dass er laut sprach. Der Regen verstand ihn auch ohne Worte, denn sie beide waren inzwischen ein eingespieltes Team.

    Schon als er ein kleines Kind gewesen war, hatte er zum ersten Mal den unwiderstehlichen Drang verspürt, nach draußen zu gehen, sobald es nach Einbruch der Dunkelheit zu regnen angefangen hatte. Je heftiger der Regen herunterprasselte, desto stärker war auch sein Verlangen, sein Kinderzimmer und das Haus zu verlassen. Doch da zunächst seine Eltern und später seine Pflegeeltern das nie erlaubt hätten und von seiner absonderlichen Liebe für den Regen nichts erfahren durften, weil sie ihn sonst vermutlich für noch merkwürdiger gehalten hätten, als sie das ohnehin schon taten, wartete er immer, bis sie schliefen. Erst dann zog er seine rote Regenjacke über den Schlafanzug und seine quietscheentengelben Gummistiefel an und schlich auf Zehenspitzen aus dem Haus. Es waren die schönsten Stunden seiner Kindheit, als er im Schutz des Regens und der Dunkelheit durch die menschenleeren Straßen, über verlassene Hinterhöfe und durch einsame Gärten huschte, um aus dem Verborgenen heraus heimlich seine Mitmenschen zu beobachten. Dabei lernte er im Laufe der Jahre die Sprache des Regens, der ihm alles über die Welt beibrachte, in der er lebte, und über die Menschen erzählte, die er beobachtete.

    Damals war er natürlich noch nicht der Regenmann. Schließlich war er noch ein Kind und gewissermaßen in der Ausbildung. Erst mit seinem ersten Mord vor wenigen Wochen war er zum vollwertigen Regenmann geworden. Die Tat war so etwas wie seine Abschlussprüfung gewesen, sein Gesellenstück. Indem er sie mit Unterstützung des Regens erfolgreich ausgeführt hatte und hinterher nicht erwischt worden war, hatte er die praktische Prüfung mit Bravour und Auszeichnung bestanden.

    Seitdem war er der Regenmann.

    Und als solcher, also in offizieller Mission, war er heute hier.

    Denn es galt, in dieser herrlich regnerischen und stockfinsteren Nacht einen weiteren Mord zu begehen.

    Der Regenmann lächelte bei dem Gedanken an das, was schon bald passieren würde. Er konnte es kaum erwarten, endlich loszuschlagen, und zitterte vor Erregung.

    Warte noch ein bisschen, flüsterten die Regentropfen ihm zu. Warte auf eine günstige Gelegenheit. Schon bald wird es so weit sein. Hab nur noch ein wenig Geduld.

    Obwohl er kein geduldiger Mensch war, nickte der Regenmann. Er hatte verstanden und würde tun, was der Regen ihm sagte. Bisher war dieser ihm stets ein zuverlässiger Mentor und guter Ratgeber gewesen. Der Regen hatte ihm vor seinem ersten Mord gesagt, worauf er besonders achten musste. Und er hatte ihm eingeschärft, was er unter allen Umständen vermeiden sollte, weil er sonst unweigerlich geschnappt werden würde. Nur deshalb hatte er nach der Tat ungesehen und unerkannt verschwinden können. Dafür und für die unzähligen Stunden des Unterrichts während der letzten Jahre schuldete und zollte er dem Regen tiefen Respekt und unendliche Dankbarkeit.

    Obwohl die Tropfen des heftigen Regens noch immer ohne Unterlass auf seine Kapuze und seine Schultern prasselten, bildeten sie keine Worte mehr. Der Regen wartete nun schweigend und ebenso gespannt wie er auf den richtigen Moment.

    Der Regenmann begann nahezu lautlos vor sich hin zu summen. Als die Regentropfen die Melodie aufnahmen, sang er zu ihrer Begleitung leise ein paar Worte, die beinahe dem korrekten Liedtext entsprachen, die er jedoch ein wenig abgeändert hatte, damit sie besser zu ihm passten:

    »Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …«

    Obwohl die Worte nur ein Hauch waren und darüber hinaus im Stakkato des Starkregens untergingen, verstummte der Regenmann nach dieser einen Zeile sofort wieder. Die Frau im Haus, die er nun schon seit einer Stunde geduldig beobachtete, konnte ihn zwar auf keinen Fall hören, dennoch wollte er kein Risiko eingehen. Der Regen würde es ihm nie verzeihen, wenn er hier und heute einen Fehler beging und versagte.

    Deshalb beschränkte er sich von nun an wieder vollständig aufs Beobachten und verhielt sich dabei mucksmäuschenstill.

    Da im Wohnzimmer des Hauses Licht brannte, konnte er dabei zusehen, wie die Frau in diesem Moment wieder das Zimmer betrat und mit ihrer Katze sprach. Natürlich konnte er die Worte der Frau ebenso wenig hören wie sie zuvor seinen leisen Gesang. Dafür war der Regen zu laut und er zu weit entfernt. Außerdem befand sie sich innerhalb des Hauses, und er kauerte draußen im Garten zwischen den Büschen. Er konnte jedoch sehen, wie sich ihre Lippen bewegten. Das Tier reagierte allerdings nicht auf die Worte der Frau mit den kurzen blonden Haaren. Es saß direkt vor der Terrassentür und starrte nach draußen.

    Der Regenmann erwiderte den Blick der Katze und erschauderte. Obwohl er hinter den Büschen hockte, die Regentropfen einen dichten Vorhang bildeten und er in seinen schwarzen Regensachen mit der Dunkelheit verschmolz, hatte er dennoch das Gefühl, dass das Tier ihn ansah. Es starrte, ohne ein einziges Mal zu blinzeln, genau in seine Richtung. Unter Umständen spürte es mit seinen viel feineren Sinnen seine Gegenwart.

    Blödes Vieh!

    Er mochte keine Tiere, schon gar keine Katzen. Auf seinen nächtlichen Streifzügen war er vielen begegnet und hatte stets einen Bogen um sie gemacht. Vor allem konnte er es nicht ausstehen, wie sie ihn ansahen: ohne jede Furcht und so wissend und gleichzeitig berechnend. Als könnten sie in sein Innerstes sehen, seine verborgensten Gedanken erfassen und wüssten alles über ihn, sogar seine finstersten Geheimnisse.

    Er erschauderte erneut unter dem intensiven Blick des Tiers.

    Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn die Frau überhaupt keine Katze gehabt hätte. Doch er war einen Deal eingegangen und hatte zugestimmt, sie zu töten. Deshalb musste er jetzt auch mit ihrem Haustier klarkommen, ob er wollte oder nicht.

    Er seufzte tief. Dann wandte er rasch den Blick von der Katze und sah wieder zu der Frau.

    Der Regen schien seine Nervosität und Verunsicherung zu spüren. Er sprach wieder in seiner sanften Regentropfenstimme zu ihm.

    Die Katze ist kein Problem, flüsterte der Regen, denn sie ist kein Gegner für dich. Zuerst tötest du die Frau und anschließend kümmerst du dich um das Tier. So ist es vereinbart.

    Der Regenmann war dankbar für die Worte des Regens, denn sie gaben ihm wieder Zuversicht. Das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. Er summte erneut die Melodie seines Lieblingsliedes, die von den Regentropfen freudig aufgenommen wurde. Dann sang er leise und lächelte dazu:

    »Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …«

    2


    Yin reagierte nicht auf ihre Worte und tat einfach so, als hätte er sie nicht gehört. Er saß weiterhin mit dem Rücken zu ihr vor der Terrassentür und starrte nach draußen, als hoffte er, es könnte jeden Moment wie durch ein Wunder zu regnen aufhören, sodass er doch noch ins Freie konnte. Doch der Regen war nach Anjas Meinung viel zu heftig, als dass alsbald mit einem Ende gerechnet werden konnte.

    Anja Spangenberg seufzte. So leid ihr der Kater auch tat, konnte sie ihm dennoch nicht helfen. Sie konnte sich nicht einmal mit ihm beschäftigen, um ihn abzulenken, da sie im Augenblick einfach keine Zeit dafür hatte. Ihre Cousine Tanja würde sie in knapp einer Stunde abholen, weil sie ins Kino gehen wollten. Und vorher musste sie noch duschen.

    Da sie seit heute Urlaub hatte, hatte sie sich die freie Zeit damit vertrieben, im Garten rund ums Haus einige Arbeiten zu verrichten, die sie nun schon eine Weile vor sich hergeschoben hatte, die aber endlich gemacht werden mussten. Die Gartenarbeit hatte sie zudem davor bewahrt, über ihre Arbeit nachzugrübeln. Denn auch wenn sie momentan Urlaub hatte, konnte sie nicht einfach von heute auf morgen abschalten.

    Anja war Kriminalhauptkommissarin bei der Kripo München und arbeitete im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle, die für unbekannte Tote und Vermisste zuständig war. Anjas Aufgabenbereich beschränkte sich allerdings auf vermisste Personen. Darüber war sie froh, denn sie hegte eine heftige Aversion gegen Leichen, die schon beinahe das Ausmaß einer Nekrophobie besaß, einer krankhaft übersteigerten Angst vor Toten und toten Dingen.

    Sie liebte ihren Beruf, der ihr manchmal extrem viel abverlangte – vor allem, wenn es wieder einmal darum ging, eine unbekannte Leiche als einen ihrer Vermissten zu identifizieren. Er verschaffte ihr aber auch immer wieder eine enorme Befriedigung, wenn es ihr beispielsweise gelang, eine abgängige Person wiederzufinden und wohlbehalten zu ihrer Familie zurückzubringen. Nach Dienstschluss und in ihrer Freizeit gelang es ihr allerdings selten, einfach den Schalter umzulegen und jeden Gedanken an die vermissten Personen, deren Akten momentan auf ihrem Schreibtisch in der Dienststelle lagen, komplett zu unterdrücken. Dafür ging ihr das Schicksal der Personen, die verschwunden waren, oftmals ohne einen einzigen Hinweis auf ihr Schicksal zu hinterlassen, einfach zu nahe. Und deshalb war jedes Bemühen, ihre Arbeit und die vermissten Personen, für die sie die Verantwortung trug, aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, von vornherein komplett zum Scheitern verurteilt.

    Außerdem gab es noch zahlreiche andere Dinge, die ihr ständig ungewollt in den Sinn kamen.

    Die Aufklärung des als Suizid getarnten Mordes an ihrem Vater vor fünfundzwanzig Jahren zum Beispiel, bei der sie noch keinen einzigen Schritt vorangekommen war, obwohl sie mit dessen Bruder Christian einen erstklassigen Verdächtigen hatte. Doch trotz der mehrmonatigen stundenweisen Beobachtung durch einen ehemaligen Kollegen ihres Vaters konnten sie ihrem Onkel bislang nicht das Geringste nachweisen. Ja, sie konnte noch nicht einmal mit Fug und Recht behaupten, dass er der mehrfache Mörder war, für den sie ihn insgeheim hielt. Da sich die Überwachung letztendlich als kompletter Fehlschlag und Zeitverschwendung erwiesen hatte, hatten sie vor ein paar Wochen beschlossen, sie einzustellen.

    Eine weitere Sache, die sie seit ein paar Monaten immer wieder gedanklich beschäftigte, war die ebenfalls erfolglose Fahndung nach einem Mann, der sich Martin Keller genannt hatte, dessen richtigen Namen sie jedoch nicht kannte. Er war Geschäftsführer einer obskuren Organisation namens Hades, die für ihre reichen Mitglieder Menschenjagden und Organspenden organisiert hatte. Auch Anja wurde, als sie ein paar verdächtige Vermisstenfälle untersuchte und dabei dem Treiben von Hades auf die Spur kam, von drei Jägern durch den Wald gejagt, um wie ein Wildtier erlegt zu werden. Allerdings gelang es ihr, den Spieß umzudrehen. Leider konnten die Jäger unerkannt entkommen. Und auch Keller und seine Handlanger verschwanden, bevor Anjas Kollegen zur Stelle waren, um sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Zweifellos setzte Keller seine Arbeit inzwischen unter anderem Namen an einem anderen Ort fort und verschwendete vermutlich keinen einzigen Gedanken an Anja. Dennoch musste sie immer wieder an ihn denken. Und das nicht nur, weil sie ihn anfangs für ausgesprochen sympathisch gehalten und sogar gern gehabt hatte. Trotz seiner telefonischen Zusicherung, dass er nicht vorhabe, sie aufzusuchen, kribbelte es bei dem Gedanken an ihn jedes Mal zwischen ihren Schulterblättern, und sie warf zur Sicherheit einen Blick über die Schulter, ob er nicht plötzlich hinter ihr stand.

    Doch über diese Dinge wollte Anja nicht ausgerechnet jetzt nachdenken. Denn erstens hatte sie das schon so oft getan, dass sich ihre Gedanken mittlerweile nur noch im Kreis drehten und ohnehin nichts Neues ergaben. Und zweitens hatte sie nun einmal Urlaub. Und den wollte sie nach Möglichkeit genießen, ohne ständig an durchgeknallte Psychopathen, skrupellose Verbrecher oder gemeingefährliche Serienkiller zu denken. Davon hatte sie in den letzten zwei Jahren mehr als genug gehabt. Und darauf könnte sie, wenn es nach ihr ginge, in Zukunft gut und gerne verzichten. Deshalb verfolgte sie diese Gedanken nicht weiter, sobald sie ihr ungewollt in den Sinn kamen, auch wenn es ihr schwerfiel.

    Sie seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Kater, der wieder einmal so tat, als wäre er eine Katzenstatue. Ein deutliches Zeichen, dass er momentan mordsmäßig sauer war. Vermutlich gab er ihr die Schuld an dem miserablen Wetter, das ihn daran hinderte, durch die Umgebung zu streifen, was er mit Vorliebe tat, seit sie vor annähernd vier Monaten hier eingezogen waren. Als wäre sie in der Lage, das Wetter zu beeinflussen.

    Yin hatte früher auf einem Bauernhof gelebt und dort vermutlich viel Zeit mit der Jagd auf Mäuse, Vögel und anderen Kleintiere verbracht, was für eine Katze nur artgerecht war und seinen jetzigen Drang ins Freie erklärte. Allerdings hatte er sich dort auch ständig vor den brutalen Übergriffen des Sohnes der verwitweten Bäuerin in Acht nehmen müssen, der bereits Yins Gefährtin Yang getötet hatte. Auf der Suche nach einer verschwundenen Studentin war Anja in die Gewalt der Bäuerin und ihres Sohnes geraten. Sie konnte sich allerdings befreien und ihre Peiniger mit viel Glück und Yins Unterstützung töten. Anschließend adoptierte sie den herrenlosen Kater gewissermaßen und nahm ihn mit in ihre damalige Wohnung in der Nähe des Westparks. Doch dort hatte das Tier keine Gelegenheit, nach draußen zu kommen, und musste die ganze Zeit in der Wohnung verbringen, davon mehrere Stunden pro Tag allein, während Anja in ihrer Dienststelle war und ihren Job erledigte.

    Damit der Kater endlich wieder seinen notwendigen Auslauf bekam, hatte Anja sich schließlich schweren Herzen dazu entschlossen, in das Haus zu ziehen, das ihr verstorbener Ehemann Fabian von seinen Großeltern geerbt hatte. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft des Waldfriedhofs, wo sowohl ihr Vater als auch ihr Mann begraben lagen. Nach seinem Tod war es eine Weile leer gestanden, weil Anja es nicht über sich bringen konnte, hier einzuziehen. Das Haus war mit Erinnerungen an Fabian erfüllt – schöne und weniger schöne –, und seit sie wieder hier wohnte, musste sie noch öfter als früher an ihn denken. Außerdem war ihre alte Wohnung näher an ihrer Dienststelle gelegen, sodass sie das Auto oft in der Tiefgarage hatte stehen lassen und zu Fuß in die Arbeit gehen können. Und der Westpark, in dem sie am liebsten ihre Laufrunden drehte, war praktisch nur einen Steinwurf entfernt gewesen.

    Doch letzten Endes war der Ortswechsel für alle besser, und sie hatte es bislang auch nicht bereut, dass sie die Wohnung aufgegeben hatte und in das leerstehende Haus gezogen war. Für Yin war ein Haus mit Garten auf jeden Fall die bessere Wahl. Und auch sie hatte sich hier rascher wieder eingewöhnt, als sie zunächst angenommen hatte. Außerdem konnte sie auch weiterhin wie gewohnt im Westpark ihre Runden drehen. Er lag zwar nicht mehr unmittelbar vor der Haustür, war aber lediglich anderthalb Kilometer entfernt, sodass sie in wenigen Minuten dort sein konnte.

    Ausschlaggebend für den Tapetenwechsel war allerdings nicht Yins Bedürfnis nach Freigang gewesen, sondern der Umstand, dass Anja im Zuge ihrer Ermittlungen, die sie auf die Spur von Martin Keller und der Organisation Hades gebracht hatten, gezwungen gewesen war, in ihren eigenen vier Wänden in Notwehr einen gesuchten Mörder zu töten. Nach diesem Vorfall war es ihr entschieden leichter gefallen, die Wohnung trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile aufzugeben. Im Übrigen sparte sie sich seitdem die Miete.

    Allerdings war sie nunmehr auch gezwungen, Gartenarbeit zu verrichten, eine Tätigkeit, die sie insgeheim verabscheute. Eine Weile hatte sie es zwar noch vor sich herschieben können, doch mittlerweile war es überfällig gewesen, sonst hätten sich vermutlich demnächst die Nachbarn über den verwahrlosten Garten beschwert, allen voran die neugierige Frau Stanglmayer von nebenan. Aus diesem Grund hatte sie auch gleich den ersten Tag ihres Urlaubs dazu genutzt, denn wenn sie sich heute nicht dazu aufgerafft hätte, wäre es bestimmt bis zum Ende ihrer freien Tage liegen geblieben. Und wer weiß, wann sie dann wieder Zeit dafür oder Lust darauf gehabt hätte. Während der ungewohnten gärtnerischen Arbeit an der frischen Luft war sie gehörig ins Schwitzen gekommen, auch deshalb benötigte sie jetzt dringend eine Dusche.

    Doch vorher wollte sie noch versuchen, Yin etwas zu trösten. Deshalb ging sie zu ihm und neben ihm in die Hocke, damit sie ihn streicheln konnte. Doch der Kater reagierte weder auf ihre Nähe noch auf die Berührung. Er starrte weiterhin nach draußen, als hätte er dort etwas Hochinteressantes erspäht, das er auf keinen Fall aus den Augen lassen wollte. Anja richtete ihren Blick ebenfalls nach draußen, doch alles, was sie sehen konnte, war ein Spiegelbild des hell erleuchteten Wohnzimmers mit dem Kater und ihr selbst vor dem finsteren Hintergrund der regnerischen Nacht. Außerdem fiel der Regen schräg gegen die Glasscheibe und lief in zahlreichen langen Bahnen daran herunter. Yin konnte also gar nichts erspäht haben, das sich möglicherweise dort draußen befand. Aber vielleicht war es ja auch eher so, dass er mit seinen erheblich ausgeprägteren tierischen Sinnen etwas spürte, das sich im Schutz des Regens im Garten herumtrieb.

    »Was ist denn da draußen?«, fragte Anja die Katze, wohl wissend, dass schon allein die Frage Unsinn war und sie natürlich keine Antwort bekommen würde. Allerdings erwartete sie insgeheim eine andere Reaktion des Tiers.

    Doch Yin bewegte keinen Muskel, er schien nicht einmal zu blinzeln. Unter ihren Fingern, mit denen sie noch immer über sein glänzendes schwarzes Fell strich, konnte sie spüren, wie angespannt das Tier war. Es vibrierte geradezu vor innerer Erregung.

    »Was ist denn los, Yin?«

    Noch immer keine Reaktion.

    Erneut richtete Anja ihren Blick in die Richtung, in die der Kater gebannt starrte. Doch das Ergebnis war dasselbe wie zuvor. Die Scheibe spiegelte lediglich das Innere des Hauses wider und ließ nichts von dem erkennen, was außerhalb dieser vier Wände geschah. Sie überlegte, ob sie die Terrassentür öffnen und nachsehen sollte, ob da draußen etwas war. Vielleicht nur ein anderer Kater, mit dem Yin Revierstreitigkeiten ausfocht, obwohl Anja bezweifelte, dass bei diesem Sauwetter auch nur eine einzige Katze unterwegs war.

    Der heftige Regen überzeugte sie zudem davon, dass es momentan nicht ratsam war, die Tür zu öffnen und auch nur den Kopf nach draußen zu strecken. Ihr kurzes dunkelblondes Haar wäre innerhalb eines einzigen Augenblicks völlig durchnässt, und dann müsste sie mit tropfnassen Haaren durchs Haus laufen.

    Keine gute Idee!

    Sie seufzte und richtete sich auf. Was immer die Aufmerksamkeit der Katze auf sich gezogen hatte, würde vermutlich von allein wieder verschwinden. Falls da draußen überhaupt etwas war. Vielleicht war Yin auch nur wegen des heftigen Regens so angespannt, der verhinderte, dass er raus konnte.

    Anja zuckte mit den Schultern. Obwohl sie sich umdrehen und nach oben gehen wollte, um zu duschen, blieb sie noch einen Moment länger neben ihrem Hausgenossen stehen und richtete ihren Blick erneut auf das gespiegelte Wohnzimmer vor ihr.

    Und plötzlich hatte sie das intensive Gefühl, beobachtet zu werden. Sie erschauderte und legte unwillkürlich die Arme um den Oberkörper, als wäre ein eisiger Luftzug durchs Wohnzimmer geweht, der sie frösteln ließ.

    Das Gefühl währte nur den Bruchteil eines Augenblicks, sodass Anja sich gar nicht sicher war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dennoch trat sie automatisch einen Schritt zurück.

    Verärgert über ihre ängstliche Reaktion auf ein derart irrationales Empfinden schüttelte sie den Kopf.

    »Ich muss jetzt duschen«, sagte sie zu Yin, der sie noch immer hartnäckig ignorierte. »Und du kannst von mir aus gerne weiterhin die Terrassentür bewachen und den Garten im Auge behalten, wenn du willst.« Damit wandte sie sich schulterzuckend ab und verließ das Wohnzimmer.

    3


    Der Regenmann beobachtete, wie die Frau aus dem Zimmer ging. Dabei ließ sie das Licht brennen. Entweder ging sie nur in die Küche oder auf die Toilette und kam gleich wieder zurück, sodass es sich nicht lohnte, das Licht auszumachen. Oder aber sie wollte die blöde Katze nicht im Dunkeln sitzen lassen.

    Er hob den Blick und behielt die Fenster im oberen Stockwerk im Auge. Da er das Haus bereits in der vorherigen Nacht für eine Weile beobachtet hatte, wusste er genau, welche Räume hinter den jeweiligen Fenstern lagen. Nun wartete er angespannt und leckte sich dabei immer wieder mit der Zunge nervös über die Lippen, die schon etwas wund waren.

    Hab noch ein klein wenig Geduld!, ermahnte ihn die Regentropfenstimme. Gleich ist es so weit.

    Der Regenmann nickte gehorsam und entspannte sich wieder etwas. Denn wenn der Regen sagte, dass es gleich an der Zeit sei, dann war es auch so. Schließlich wusste sein Mentor alles und hatte immer recht.

    Im nächsten Moment registrierte er mit Erleichterung und Genugtuung, dass hinter einem der Fenster im Obergeschoss ein Licht anging. Der Regenmann wusste, dass es sich dabei um das Badezimmer handelte.

    Endlich war der Moment des Handelns gekommen, und er konnte zuschlagen!

    Jetzt!, gab ihm nun auch der Regen das ersehnte Startsignal.

    Erregung und Vorfreude erfüllten den Regenmann gleichermaßen, als er sein Versteck zwischen den nassen Büschen aufgab und über den Rasen zur Terrasse lief. Erst unmittelbar vor der Terrassentür stoppte er seinen Lauf abrupt.

    Die Katze war bei seinem Auftauchen aufgesprungen. Sie machte mit gesträubtem Fell einen Buckel und fauchte ihn durch die Scheibe, über die der Regen lief, angriffslustig an, während ihr Schwanz hin und her peitschte.

    Der Regenmann verzog missmutig das Gesicht. Er hasste es, wenn diese hinterhältigen Mistviecher so etwas machten. Er erinnerte sich daran, was der Regen ihm gesagt hatte. Erst sollte er die Frau töten und sich dann um die Katze kümmern. Aber wie sollte er das hinkriegen, wenn das Vieh sich ihm in den Weg stellte. Konnte er es wagen, den Anweisungen des Regens zuwiderzuhandeln, indem er die Katze vor der Frau tötete? Er leckte sich unschlüssig über die Lippen.

    Warte noch etwas, bevor du ins Haus gehst, riet ihm der Regen.

    Erleichtert, dass er in diesem Moment keine eigenständige Entscheidung treffen musste, befolgte der Regenmann den Rat und beobachtete argwöhnisch die Katze.

    Das Tier schien irritiert zu sein. Sein aggressives Verhalten hatte den schwarz gekleideten Mann auf der Terrasse nicht vertrieben. Außerdem war er groß und wirkte dadurch bedrohlich, was die Katze allmählich einzuschüchtern schien. Sie stellte ihre Drohgebärden ein und wich langsam zurück. Ihre Ohren lagen dabei flach am Kopf an, und ihr Schwanz war unter den Körper geschlagen. Als der Abstand ihrer Meinung nach groß genug war, sodass sie es gefahrlos wagen konnte, ihm den Rücken zuzuwenden, drehte sie sich um und rannte so schnell aus dem Wohnzimmer, dass der Regenmann ihr kaum mit den Augen folgen konnte.

    Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Regen musste gewusst oder zumindest vorausgesehen haben, dass die Katze sich mehr vor ihm fürchtete als er vor ihr, und hatte ihm, wie immer, den richtigen Ratschlag erteilt. Was wieder einmal bewies, wie gut es war, den Regen auf seiner Seite zu haben und stets auf ihn zu hören.

    Aus diesem Grund war er auch so froh, dass es regnete, denn ansonsten hätte er auf die Unterstützung des Regens verzichten müssen. Einerseits bot ihm der Vorhang aus Regentropfen Deckung vor neugierigen Blicken. Andererseits gab der Regen ihm in seiner unendlichen Weisheit und Intelligenz die notwendigen Anweisungen und teilte ihm jederzeit hilfreiche Ratschläge und Verhaltensregeln mit. Ohne die Hilfe des Regens hätte der Regenmann ein solches Unterfangen niemals erfolgreich durchführen können. Denn auf sich allein gestellt war er weder mutig noch klug. Erst im Schutz des nächtlichen Regens und mit seiner Unterstützung wuchs er über sich hinaus und konnte Dinge tun, zu denen er ansonsten nie in der Lage gewesen wäre.

    Jetzt ist es an der Zeit, dir Zutritt zum Haus zu verschaffen!

    Ohne den Weckruf des Regens hätte der Regenmann den richtigen Zeitpunkt verpasst, denn er war in Gedanken versunken gewesen. Dabei durfte er sich so etwas hier und jetzt gar nicht erlauben. Er ärgerte sich daher über sich selbst und beschloss, sich ab jetzt noch besser zu konzentrieren. Er durfte seinen Lehrmeister auf keinen Fall enttäuschen, sonst hätte er den Ehrentitel eines Regenmannes nicht verdient.

    Rasch zog er den Reißverschluss des Regenparkas herunter und holte einen großen Schraubenzieher aus der Innentasche. Nachdem die Frau gestern zu Bett gegangen war, hatte er sich auf Anraten des Regens die Fenster und die Terrassentür aus der Nähe angesehen. Er wusste daher, dass es keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen wie zum Beispiel eine Alarmanlage oder spezielle Tür- und Fensterverriegelungen gab. Es war daher auch für ihn, der alles andere als ein professioneller Einbrecher war, ein Leichtes, die Terrassentür mithilfe des Schraubenziehers aufzuhebeln, ohne dabei allzu viel Lärm zu verursachen.

    Sobald er im Haus war, schob er die Tür hinter sich zu, obwohl sie jetzt natürlich nicht mehr schloss, und lauschte auf die Geräusche aus dem Haus. Er hörte allerdings nichts, nur das beständige Rauschen des Regens außerhalb des Hauses.

    Geh nach oben! Kümmere dich um die Frau!

    Obwohl die Regentropfen ihn hier drinnen nicht mehr erreichten, konnte er die Stimme des Regens noch immer hören, denn er prasselte weiterhin gegen die Scheiben hinter ihm und auf das Dach des Hauses und veränderte dabei ständig seinen Rhythmus. Die Regentropfenstimme klang zwar gedämpft und etwas undeutlich, dennoch verstand der Regenmann noch immer jedes einzelne Wort.

    Er verstaute den Schraubenzieher und schloss den Reißverschluss des Parkas. Dann zog er ein Jagdmesser mit fünfzehn Zentimeter langer Edelstahlklinge und Hirschhorn-Griffschalen aus der Scheide, die er in den Bund seiner Regenhose geschoben hatte. Anschließend machte er sich mit vor Aufregung und Vorfreude heftig klopfendem Herzen umgehend auf den Weg nach oben.

    Von der Katze war nichts zu sehen. Vermutlich hatte sich der kleine haarige Feigling irgendwo verkrochen. Der Regenmann war einerseits froh darüber, denn auf diese Weise konnte er seine Aufgabe exakt so erfüllen, wie der Regen es ihm gesagt hatte. Allerdings würde er nach der Tötung der Frau nach dem blöden Tier suchen müssen, um es ebenfalls wie geplant zu erledigen.

    Auf halber Höhe der Treppe hörte er erstmals das Rauschen der Dusche im Badezimmer, das bislang vom Regen übertönt worden war. Langsam näherte er sich der Tür, das Messer zum Zustoßen bereit in der Faust. Dabei bemühte er sich nicht einmal, besonders leise zu sein oder sich anzuschleichen, denn solange die Frau unter der Dusche stand, konnte sie ihn ohnehin nicht hören. Er hob die freie linke Hand, um sie auf die Klinke zu legen und die Tür zu öffnen, als ihn die Stimme des Regens abrupt innehalten ließ.

    Warte!

    Der Regenmann verharrte sofort regungslos, als wäre er schockgefroren worden. Er wagte keinen Muskel zu rühren, solange der Regen es ihm nicht erlaubte. Und er hinterfragte die Anweisung seines Mentors auch nicht. Der Regen war viel schlauer und erfahrener als er und hatte mit Sicherheit gute Gründe dafür, ihn zurückzuhalten.

    Wenige Augenblicke später verstummte das Rauschen der Dusche.

    Der Regenmann erbebte vor Aufregung und mühsam unterdrückter Vorfreude, denn jetzt konnte es jeden Augenblick so weit sein. Er stand wie eine gespannte Feder so dicht vor der Badezimmertür, dass er sie beinahe berührte, während seine zitternde Hand über der Türklinke schwebte, um die Tür sofort aufreißen zu können, sobald der Regen endlich das Kommando dazu gab.

    Gleich!, raunte die gedämpfte Tropfenstimme des Regens, der die Ungeduld seines Schützlings natürlich spürte. Gleich ist es so weit!

    4


    Sobald Anja das Wasser abgestellt und die Tür der Dusche geöffnet hatte, griff sie nach dem Handtuch und trocknete sich etwas ab, sodass sie nicht länger tropfnass war. Erst dann verließ sie die Duschkabine und trat auf den Badvorleger, um sich im Spiegel betrachten zu können, der kaum beschlagen war.

    Ihr dunkelblondes Haar war nach einem kürzlichen Friseurtermin momentan wieder kurz geschnitten, nachdem sie es eine Weile hatte wachsen lassen. Es war zerzaust und stand nach allen Seiten ab. Aber das war nicht nur jetzt, unmittelbar nach dem Duschen, sondern in der Regel auch im trockenen Zustand der Fall, sodass sie meistens aussah, als wäre sie in einen heftigen Sturm geraten. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht mit hohen, markanten Wangenknochen, dazu grüne, ausdrucksstarke Augen, eine schmale, gerade Nase und einen ihrer Meinung nach etwas zu breiten Mund mit zu dünnen Lippen. Die 35-jährige Kriminalbeamtin war ein Meter zweiundsiebzig groß. Außerdem war sie schlank und machte insgesamt einen sportlichen Eindruck, was vermutlich vor allem daran lag, dass sie möglichst regelmäßig ihre Runden durch den Westpark drehte. Anja musterte sich zunächst mit kritischem Blick, doch dann nickte sie. Alles in allem war sie bis auf ein paar kleinere Mängel mit ihrem Aussehen und ihrer Figur zufrieden.

    Anja hängte das feuchte Duschhandtuch über den Handtuchhalter, als sie das Schaben hörte. Sie wirbelte blitzschnell herum und sah mit nachdenklich gerunzelter Stirn und aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen zur Tür, woher der Laut gekommen war.

    Was war das?

    Es hatte sich angehört, als wäre etwas an der Außenseite des Türblatts entlanggestrichen. Im Grund ein absolut harmloser Laut. Doch hier und jetzt, wo außer Yin und ihr niemand im Haus sein durfte, dennoch hochgradig verdächtig. Vor allem nach den dramatischen Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit und in Anbetracht der Tatsache, dass sie schon mehrmals das Zielobjekt diverser Serienkiller und Mörder gewesen war.

    Aus diesem Grund tat Anja das Geräusch auch nicht sofort als unbedenklich und ungefährlich ab, wie sie es normalerweise getan hätte, sondern beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und vorsichtig zu sein.

    Da sie noch immer nackt war, kam sie sich in diesem Moment umso verletzlicher vor. Deshalb zog sie sich eilig ihren Bademantel über und band den Gürtel zu. Dann sah sie sich nach einem Gegenstand um, der halbwegs als Ersatz für eine richtige Waffe taugte und mit dem sie sich gegen einen Angriff verteidigen könnte. Doch es gab nichts, das für eine derartige Aufgabe auch nur halbwegs geeignet war, da sie im Bad nichts aufbewahrte, das sich als provisorische Waffe verwenden ließ. Also musste sie sich auf ihre Kenntnisse der waffenlosen Selbstverteidigung verlassen. Zur Not konnte sie sich nämlich auch waffenlos zur Wehr setzen.

    Vermutlich ist es ohnehin nur falscher Alarm.

    Der Gedanke beruhigte sie etwas. Und bevor sie es sich anders überlegen konnte und sie der Mut verließ, ging sie auf Zehenspitzen zur Tür und riss diese ruckartig auf. Denn falls dort draußen tatsächlich jemand lauerte, würde sie die Person mit dieser Aktion überrumpeln.

    Doch dann war sie es, die vor Überraschung aufschrie.

    5


    Urplötzlich wurde die Tür vor ihm geöffnet. Doch der Regenmann hatte damit gerechnet, denn der Regen hatte ihn den Bruchteil eines Augenblicks vorher gewarnt. Deshalb reagierte der Regenmann unverzüglich, ohne dabei auch nur eine einzige Sekunde zu zögern.

    Die Frau schrie erschrocken. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn sah, denn mit einem nächtlichen Eindringling, der vom Kopf bis zu den Füßen in nasser schwarzer Regenkleidung steckte, hatte sie zweifellos nicht gerechnet.

    »Überraschung«, sagte er, während seine linke Hand sich bereits um ihren Hals legte und verhinderte, dass sie ein zweites Mal schrie. Dann begann er zu singen.

    »Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam.«

    Nach dieser einen Liedzeile verstummte er wieder. Anschließend verstärkte er den Druck seiner Finger um ihren Hals und hob ihren Körper gleichzeitig ein Stück weit an, sodass ihre nackten Füße den Bodenkontakt verloren und in der Luft baumelten.

    Ihre Augen wurden größer, so als wollten sie aus ihren Höhlen rollen, als sie keine Luft mehr bekam. Sie strampelte mit den Füßen, hob die Hände und versuchte vergeblich, den stahlharten Griff um ihren Hals zu lockern.

    Der Regenmann lächelte verzückt. Es war alles vollkommen anders als bei seinem ersten Mord und daher neu und aufregend. Seitdem hatte er sich die Szene immer und immer wieder in Erinnerung gerufen und sich daran erfreut. Doch diesmal war es sogar noch besser, denn beim ersten Mal hatte er noch improvisieren müssen. Außerdem war es natürlich um ein Vielfaches besser und erregender, es leibhaftig erleben zu dürfen, als sich nur daran zu erinnern.

    Er ging drei Schritte nach vorn, bis er mitten im Badezimmer stand, und trug die heftig strampelnde Frau dabei mühelos vor sich her.

    Zeit für Stufe zwei!

    Sobald der Regenmann das ersehnte Kommando bekommen hatte, stieß er mit dem Jagdmesser zu. Er glaubte, dass die Frau die Stichwaffe in seiner rechten Hand noch gar nicht bemerkt hatte. Vermutlich ging sie noch immer davon aus, dass die größte Gefahr für sie von der Hand um ihre Kehle ausging, die ihr die lebensnotwendige Luft zum Atmen nahm. Doch die wahre Gefahr lauerte woanders.

    Die Klinge bohrte sich mühelos durch den Stoff des Bademantels. Dann durchtrennte sie Haut, Fett und Muskelgewebe, bis sie bis zum Heft im Bauch der Frau steckte.

    Diese stieß trotz des stählernen Griffs um ihren Hals ein dumpfes Stöhnen aus, als sie der unerwartete Angriff wie ein Magenschwinger traf. Doch noch hatte sie scheinbar nicht realisiert, was soeben geschehen war. Das Adrenalin, das sie erfüllte, verhinderte bislang wohl, dass sie den Schmerz spürte.

    Der Regenmann zog die lange Klinge langsam aus ihrem Körper. Er senkte den Blick und beobachtete zufrieden, wie sich der roséfarbene Bademantel um die Einstichstelle herum dunkelrot verfärbte und der Fleck sich dann rasch ausbreitete.

    Doch eilig hob er den Blick wieder, um der Frau erneut ins Gesicht zu sehen. Er wollte auf keinen Fall den magischen Moment verpassen, wenn sie endlich realisierte, dass sie tödlich verwundet war und unweigerlich sterben würde. Denn nur für diesen einen kostbaren Augenblick tat er dies alles.

    Endlich spürte die Frau den Schmerz, den die heftige Stichwunde in ihrem Bauch verursachte. Sie verzog gequält das Gesicht, während ihr gleichzeitig Tränen in die Augen schossen und über ihre geröteten Wagen liefen. Gleichzeitig stellte sie ihr Strampeln ein und ließ die Arme sinken, als wären sie plötzlich bleischwer.

    Der Regenmann wartete gespannt und hielt den Atem an, sodass für eine Weile keiner der beiden Anwesenden atmete.

    Doch noch war es nicht so weit. Die Frau schien noch immer nicht realisiert zu haben, dass sie so gut wie tot war. Trotz der tiefen, stark blutenden Wunde hob sie erneut die Hände. Allerdings schien sie die Sinnlosigkeit ihres vorherigen Tuns eingesehen zu haben. Denn anstatt weiterhin zu versuchen, seine Hand von ihrem Hals zu zerren, schlug sie nun nach ihm. Hinter ihren Hieben steckte jedoch nicht genug Kraft, um ihm etwas anzuhaben. Und mit jedem Tropfen Blut, der aus ihrem Körper floss, wurden ihre Schläge ziel- und kraftloser.

    Dennoch knurrte der Regenmann unwirsch, denn jetzt war er gezwungen, ein zweites Mal zuzustechen.

    Dieses Mal stieß er die Klinge in ihre Brust. Er achtete dabei allerdings darauf, dass er nicht versehentlich ihr Herz durchbohrte. Schließlich wollte er nicht, dass sie starb, bevor der Augenblick des Erkennens ihrer aussichtslosen Lage gekommen war. In dem Fall wäre die ganze Sache umsonst gewesen und ihr Tod eine Enttäuschung.

    Trotz des eisernen Griffs um ihre Kehle ächzte die Frau, als der zweite Messerstich sie nicht nur mit der Wucht eines heftigen Faustschlags traf und ihr auch noch das letzte Quäntchen Atemluft aus der Lunge presste, sondern darüber hinaus die Klinge tief in ihre Brust trieb. Ihr Körper versteifte sich daraufhin, und ihre Arme sanken kraftlos herab.

    Und dann war der magische Moment des Begreifens, um den es ihm in erster Linie ging, endlich gekommen.

    Ihre Pupillen verengten sich.

    Der Regenmann beobachtete fasziniert, wie jäh die Erkenntnis über ihr unausweichliches Schicksal in die Augen der Frau trat und jede Hoffnung auf einen guten Ausgang dieser Geschichte radikal auslöschte. Er konnte förmlich, wie er es erwartet und zugleich ersehnt hatte, tiefe Resignation und panisches Entsetzen vor dem Tod in ihrem Gesicht und in ihren Augen lesen. In diesem Moment begriff sie, dass ihr Leben an diesem Abend und an diesem Ort unweigerlich sein Ende finden würde. Ein Ende, mit dem sie vermutlich nie und nimmer gerechnet hätte, gewaltsam, schmerzhaft und extrem blutig, und das sie sich mit Sicherheit nicht erträumt hatte, allerhöchstens in ihren furchtbarsten Albträumen. Als sie heute Morgen aufgestanden war, hatte sie diesen Tag nur als einen weiteren unter vielen betrachtet, die noch kommen würden. Hätte sie auch nur geahnt, dass sie am Ende dieses Tages ihrem Mörder begegnen würde, dann hätte sie diesen Tag sicherlich anders wahrgenommen und genutzt, schließlich war es ihr allerletzter auf Erden. Doch sie hatte es natürlich nicht wissen können. Und das, obwohl er sie persönlich vorgewarnt hatte.

    Denn er hatte sie angerufen. Exakt dreimal hatte er das getan. Und jedes Mal hatte er ihr die abgewandelte Zeile seines Lieblingsliedes vorgesungen.

    Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …

    Mehr hatte er gar nicht getan. Und anschließend hatte er sofort wieder aufgelegt.

    Wahrscheinlich hatte sie gedacht, er wäre nur irgendein Perverser, der sich daran aufgeilte, willkürlich Frauen anzurufen und in Unruhe zu versetzen. Der sich dann aber doch nicht traute, ihnen persönlich gegenüberzutreten. Aber da hatte sie sich getäuscht.

    Ein tödlicher Irrtum!

    Und in diesem für sie furchtbaren, für ihn hingegen wunderbaren Moment wurde ihr dieser Irrtum in aller Endgültigkeit bewusst. Und als sie nun erkannte, dass der Regenmann gekommen war, so wie er es dreimal angekündigt hatte, vergoss sie bittere Tränen.

    Der Regenmann kostete diesen allzu kurzen magischen Moment aus, solange er währte. Er saugte sämtliche Sinneseindrücke wie ein trockener Schwamm in sich auf und speicherte sie, um sie später immer wieder abrufen und sich daran erfreuen zu können.

    Dann trübte sich der Blick der Frau, und sie erschlaffte in seinem Griff.

    Enttäuscht schüttelte der Regenmann den Kopf.

    Der magische Augenblick, auf den es ihm angekommen war, war vorüber, und seine Erregung verflog rasch wieder. Von jetzt an war die Frau nicht nur uninteressant für ihn, sie widerte ihn geradezu an. Es war daher an der Zeit, dem allen ein rasches Ende zu bereiten.

    In einer fließenden Bewegung zog er ihr das Messer aus der Brustwunde.

    Die Frau erzitterte daraufhin am ganzen Körper, als hätte man ihr einen Stromstoß versetzt.

    Der Regenmann wollte nicht mehr sehen, was im Augenblick ihres Todes in ihrem Gesicht und in ihren Augen vor sich ging. Es war ohne Belang für ihn. Er hatte bekommen, was er wollte. Er würde die Erinnerung daran bewahren und immer wieder davon zehren. Aber was er jetzt tun musste, war nur eine lästige Pflicht, die dazugehörte, die er aber nur äußerst ungern erledigte. Trotzdem musste es getan werden.

    Aus diesem Grund schnitt er ihr knapp oberhalb seiner Hand die Kehle durch und warf sie gleichzeitig rasch von sich, sodass sie in die offene Duschkabine flog. Ihr Kopf schlug gegen die Kachelwand und hinterließ einen blutigen Abdruck. Der Regenmann bezweifelte allerdings, dass sie es noch spürte, denn sie war kaum noch am Leben. Der Gürtel des Bademantels war aufgegangen. Der Mantel hatte sich geöffnet und den Blick auf ihren nackten Körper und die heftig blutenden Wunden freigegeben. Vor allem aus dem klaffenden Schnitt in ihrem Hals und der Brustwunde spritzte das Blut, während ihr Herz seine letzten verzweifelten Schläge tat. Der Stoff des Bademantels saugte einen Großteil des vielen Blutes auf und verfärbte sich rot. Der Rest lief zum Abfluss der Dusche und versickerte dort.

    Schließlich zuckte der Körper der Frau ein letztes Mal, dann lag er vollkommen still, weil jegliches Leben daraus entflohen war.

    Der Regenmann wandte seufzend den Blick ab. Nachdem er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass die Frau tot war, konnte er das blutige Ergebnis seiner Tat nicht länger ansehen. Er ging zum Waschbecken und ließ Wasser über die Messerklinge und seine Handschuhe laufen, um das Blut abzuwaschen. Dann trocknete er die Klinge sorgfältig ab, bevor er fluchtartig das Badezimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.

    Im Flur blieb er stehen. Er drehte den Kopf in alle Richtungen, sah sich aufmerksam um und lauschte.

    Wo hat sich bloß diese verdammte Katze verkrochen?

    Nun, er würde es schon herausfinden. Schließlich war das Haus nicht besonders groß. Wenn er methodisch vorging, Zimmer für Zimmer gründlich durchsuchte und anschließend die Türen schloss, musste er früher oder später zwangsläufig auf die Katze stoßen. Schließlich sorgte der Regen, der immer noch heftig vom Himmel fiel, dafür, dass sie nicht nach draußen flüchten würde.

    Fang endlich an zu suchen!, befahl die Regentropfenstimme.

    Der Regenmann nickte gehorsam und setzte sich augenblicklich in Bewegung.

    ERSTER TEIL

    6


    Anja zuckte vor Schreck zusammen. Sie stieß einen kurzen Aufschrei aus, als Yin durch die offene Badezimmertür auf sie zusprang und sich mit aufgestelltem Schwanz augenblicklich an ihren nackten Beinen rieb.

    »Puh!«, sagte sie, atmete erleichtert aus und legte die rechte Hand auf ihr Herz, das heftig und rasch schlug. »Jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt. Mach das bloß nie wieder!«

    Der Kater sah mit einer Miene zu ihr hoch, als wäre er sich keiner Schuld bewusst, und miaute laut und langanhaltend.

    Anja seufzte. »Was ist los? Nachdem du mich vorhin noch ignoriert hast, kommst du plötzlich wieder an und willst was von mir. Und dabei erschreckst du mich auch noch fast zu Tode.« Anja bemühte sich zwar um einen strengen Tonfall, sie konnte der Katze aber nicht böse sein. Und das wusste dieser kleine schwarze Teufel vermutlich auch haargenau.

    Yin rieb seinen geschmeidigen Körper an ihrem Schienbein. Er ließ erneut ein langes und herzzerreißendes Miauen hören.

    »Tut mir leid, dass es regnet und du nicht raus kannst, Kumpel«, sagte sie, während sie sich bückte und ihn am Kopf und am Hals kraulte, worauf der Kater sich hinsetzte und wohlig zu schnurren anfing. »Aber es hört sich für mich ganz danach an, als wäre der Regen nicht mehr so heftig wie zuvor. Wahrscheinlich hört es in

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