Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Sadie: Ein Hauch von Ewigkeit
Sadie: Ein Hauch von Ewigkeit
Sadie: Ein Hauch von Ewigkeit
eBook271 Seiten3 Stunden

Sadie: Ein Hauch von Ewigkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im "Hier und Jetzt" zu leben - diesen Ratschlag kennt jeder. Gar nicht so einfach, wenn man sich unversehens in den Achtzigern wiederfindet. Freiwillig? Nicht direkt. Doch Sadie ist eine Zeitspringerin, und als ihr jemand das Angebot macht, gegen Bezahlung in der schmutzigen Geschichte einer stinkreichen Familie herumzuschnüffeln, lässt sich die von Geldnöten geplagte junge Frau nicht lange bitten. Klingt machbar? Vielleicht, wenn man sich an gewisse Regeln hält. Sich in der Vergangenheit zu verlieben gehört ganz sicher nicht dazu. Sadie ahnt nicht, dass sie damit Lawinen ins Rollen bringt ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Feb. 2021
ISBN9783752933291
Sadie: Ein Hauch von Ewigkeit
Autor

Narcia Kensing

Narcia Kensing ist das Pseudonym der deutschen Autorin Nadine Kühnemann, die bereits mehrere phantastische Romane bei unterschiedlichen Verlagen veröffentlicht hat. Als Narcia Kensing veröffentlicht sie ihre verlagsunabhängigen Projekte. Sie wurde 1983 Dinslaken am Niederrhein geboren, wo sie auch heute noch lebt und sich intensiv dem Schreiben widmet.

Mehr von Narcia Kensing lesen

Ähnlich wie Sadie

Ähnliche E-Books

Science-Fiction für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Sadie

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Sadie - Narcia Kensing

    Kapitel eins

    Hätte mich meine gute Erziehung nicht daran gehindert, wäre ich nur in Unterwäsche bekleidet in die Stadt gefahren. Nicht, dass es mich reizen würde, immer und überall Aufsehen zu erregen (obwohl ich es dennoch meistens tue), aber die Temperaturen sind derart unerträglich, dass ich mein Shirt als schiere Folter empfinde. Es klebt an Bauch und Rücken, meine Jeans fühlt sich drei Kleidergrößen zu eng an. Schweiß rinnt meine Schläfe hinab und meine Nikes quietschen bei jedem Tritt in die Pedale. Man sollte meinen, dass ich mich innerhalb meines achtzehnjährigen Lebens an die mörderischen Sommer im Landesinneren von Mississippi hätte gewöhnen müssen, aber ich habe es bis heute nicht geschafft, mit dem subtropischen Klima Frieden zu schließen. In der High School haben sie mich deshalb oft ausgelacht. Als Dunkelhäutige - und ich zitiere hier absichtlich nicht das Wort, das sie für mich verwendeten - sollte ich mit heißen Temperaturen doch umgehen können. Ich frage mich bis heute, was die Hautfarbe mit der Affinität zu mörderischer Hitze zu tun haben soll.

    Die Wärme ist jedoch nicht das Schlimmste. Als wesentlich unangenehmer empfinde ich die Luftfeuchtigkeit. Ich hatte gehofft, dass sich das Wetter nach dem Sturm beruhigen würde, aber da habe ich mich anscheinend getäuscht. Es ist immer noch drückend heiß und ebenso unerträglich wie vor zwei Tagen.

    Nur noch ein paar hundert Yards, dann habe ich den Heimweg endlich hinter mich gebracht. Meine Einkäufe klappern im Fahrradkorb: Batterien, Kerzen und eine nagelneue LED-Taschenlampe aus dem örtlichen Minimarkt. Meine Großmutter hat darauf bestanden, dass ich die Sachen noch heute Vormittag besorge, dabei ist der Strom seit gestern Abend schon wieder da. Aber wie könnte ich meiner Grandma einen Wunsch abschlagen! Sie ist noch sehr rüstig und hinter ihren dunklen Augen blitzt ein gescheiter Verstand, aber manchmal legt sie ein wenig schrullige Eigenschaften an den Tag.

    »Vorsichtshalber«, hat sie gesagt. »Man kann doch nie wissen, wann der Strom das nächste Mal ausfällt.«

    Anscheinend haben das noch eine ganze Menge anderer Leute so gesehen, denn der Minimarkt war wie leer gefegt. Ich kann von Glück reden, noch zwei Kerzen ergattert zu haben. Es ist ja nun nicht so, dass in den Spätsommermonaten nicht des Öfteren Stürme über diesen Staat hinwegfegen würden! Das erinnert mich an Weihnachten, das für einige Leute jedes Jahr ziemlich überraschend hereinbricht, sodass sie einen Tag vorher einkaufen, als würden die Geschäfte fortan nie wieder öffnen. Natürlich haben meine Grandma und ich vorgesorgt, in unserem Keller stapeln sich Kerzen und Batterien bis unter die Decke, aber mit einer alten sturen Dame zu diskutieren hat ebenso wenig Sinn wie einem Zweijährigen die Relativitätstheorie nahebringen zu wollen.

    Ich fahre weiter die Hauptstraße hinab, die zum Fluss hin stetig abfällt. Jetzt muss ich zumindest nicht mehr in die Pedale treten und der Fahrtwind kühlt meine klitschnass geschwitzten Klamotten ein wenig. Unser kleines Städtchen liegt auf einer Anhöhe direkt am Ufer des Mississippi, meine Grandma und ich wohnen am Stadtrand, nicht weit von den Schiffsanlegern entfernt, von wo aus jedes Jahr Touristen in Scharen mit Schaufelraddampfern in das ultimative Südstaatenabenteuer aufbrechen.

    Ich biege in die Bowman Street ein, von wo aus der schmale Weg hinauf zu unserem Haus abzweigt. Es ist nicht die teuerste Gegend der Stadt, aber bei weitem auch nicht die schlimmste. Hier leben überwiegend Afroamerikaner in bescheidenen kleinen Reihenhäusern, die meisten davon in Eigenregie selbst errichtet. Einige unserer Nachbarn haben sich im Laufe der Jahre wirklich schöne Domizile geschaffen, schnuckelige Häuschen mit Holzveranda und sorgsam gepflegten Vorgärten, Südstaatenflair pur. Leider sind viele dieser Häuser keine statischen Meisterwerke, was deren Bewohner jeden Spätsommer, wenn die Stürme mal mehr, mal weniger heftig wüten, zittern lässt. Der Sturm vor zwei Tagen zählte noch längst nicht zu einem der stärksten, dennoch liegen überall auf der Straße abgefallene Äste, Bretter und jede Menge anderer Plunder, der durch die Gegend gewirbelt wurde. In einigen Gärten stehen ganze Heerscharen von Menschen (die Leute in diesem Viertel pflegen in großen Familien zu leben), die Hände vor die Gesichter geschlagen und die Köpfe fassungslos schüttelnd. Manche Häuser hat es arg mitgenommen, einige verzeichnen lediglich Schäden an den Schuppen und Vorbauten.

    Schon von weitem sehe ich ein junges Paar auf der Veranda eines noch recht neu aussehenden Hauses stehen. Sie diskutieren wild gestikulierend. Im oberen Stockwerk haben sich die Fensterläden gelöst, vielleicht ist dies das Streitthema. Nur wenige Yards entfernt dreht ein kleiner Junge von vielleicht drei Jahren seine Runden mit dem Dreirad um einen der Bäume, um die der Gehsteig drum herum gepflastert wurde. Seine Eltern schenken ihm keine Aufmerksamkeit. Der Kleine macht einen glückseligen und unbeschwerten Eindruck. Er scheint völlig darin aufzugehen, mit seinen dürren kurzen Beinchen in die Pedale zu treten.

    Als ich mich mit dem Fahrrad nähere, hebt er den Kopf, hält inne und grinst mich an. Seine kleinen weißen Zähne blitzen hell in seinem dunklen Gesicht hervor.

    Genau das ist der Augenblick, als es wieder einmal passiert.

    Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, quietschend zu bremsen und vom Rad zu springen. Meine Gedanken ziehen sich zusammen, als hätte man mir einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf gegossen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen armdicken Ast, der sich aus der Krone der Eiche löst und gen Boden rast. Er erwischt den kleinen Jungen genau am Kopf und reißt ihn von seinem Dreirad. Das Kind schlägt hart auf den Pflastersteinen auf und bleibt reglos liegen. Mir bleibt die Luft weg und ich muss mich zusammenreißen, um die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich schüttele mich wie ein nasser Hund, ehe es mir endlich gelingt, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.

    Neben mir auf dem Gehsteig liegt mein Fahrrad, der kleine Junge grinst mich immer noch an, es ist kaum eine Sekunde vergangen. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe in die Baumkrone hinauf. Keine drei Atemzüge lang habe ich jetzt noch Zeit, das weiß ich aus Erfahrung. Schon höre ich es verdächtig über mir krachen. Ich mache einen Satz nach vorne und schiebe den Jungen samt Dreirad einen Yard an die Seite, sodass der Ast auf den Boden schlägt, ohne jemanden zu verletzen. Gerade noch geschafft! Nie war ich so froh über mein seltsames Talent, das sich nur in unzuverlässigen Intervallen meldet. Ich werfe einen Blick zu dem Pärchen auf der Veranda, doch die beiden haben das Drama überhaupt nicht bemerkt, das sich hinter ihrem Rücken abgespielt hat. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb man sein Kind nicht im Auge behält. Ich streiche dem Kleinen noch einmal über den Kopf, nehme mein Fahrrad vom Boden auf, sammle die aus dem Korb gefallenen Kerzen auf und schwinge mich wieder auf den Sattel.

    Keine zwei Minuten später erreiche ich die Auffahrt zu unserem Haus. Der Weg weist tiefe Schlaglöcher auf, sodass ich absteigen und schieben muss. Wir hätten ihn längst reparieren lassen müssen, aber dazu fehlte immer das Geld. Es gibt Wichtigeres als eine schöne Auffahrt.

    Ich lehne das Fahrrad an das hölzerne Geländer unserer Veranda und steige die drei Treppenstufen hinauf, die zu unserer Tür führen. Auch unser Haus wurde vor einigen Jahrzehnten selbst gezimmert, vom Vater meiner Großmutter. Es war stets der ganze Stolz der Familie gewesen und alles, was es zu vererben gab. Meine Ahnen blicken natürlich nicht auf eine ruhmreiche Geschichte zurück, seit gerade einmal einhundertfünfzig Jahren sind wir ja überhaupt erst freie Menschen. Es gab nie die Gelegenheit, Reichtümer anzuhäufen. Wenn man bedenkt, dass unser Staat die höchste Arbeitslosenquote der USA aufweist, können meine Großmutter und ich sogar noch froh sein, ein Dach über dem Kopf unser Eigen zu nennen. Manchmal frage ich mich, weshalb das Schicksal ausgerechnet mich dazu auserkoren hat, im erzkonservativen Mississippi aufzuwachsen, wo man als dunkelhäutiger Mensch ohnehin einen schweren Stand hat. Aber meine Großmutter liebt die Gegend, sie wäre niemals woanders hingegangen. Sie liebt den Geruch des Flusses, das warme Klima und den Blues, der abends in jeder Kneipe gespielt wird. Schön ist es hier in jedem Fall, aber eine Zukunft kann man sich kaum aufbauen. Ich wäre gerne an eines der großen Colleges des Landes gegangen, aber das bleibt ein Wunschtraum. Nach den Sommerferien werde ich das kleine College dieser Stadt besuchen, und das auch nur, weil der Staat mir wegen hervorragender sportlicher Leistungen während meiner Zeit auf der High School finanziell unter die Arme greift. Ich möchte mich nicht beklagen, immerhin ist das schon mehr, als die meisten anderen Jugendlichen der Nachbarschaft vorweisen können.

    Ich stoße die Tür auf und schalte das Licht ein, weil die Fensterläden geschlossen sind und es dunkel in der Stube ist. Mein Blick fällt auf meine Grandma, die am Esstisch sitzt und auf eine brennende Kerze starrt, die munter vor sich hin flackert.

    »Weshalb sitzt du denn hier im Dunkeln?«, frage ich. »Der Strom ist doch längst wieder da.«

    Grandma zuckt die Achseln und schiebt die Unterlippe hervor. »Ach, ich dachte nur, dass ich den anderen Leuten in der Straße den Strom nicht stehlen will. Manche hat es schlimmer erwischt als uns.«

    Ein amüsiertes Glucksen entweicht meiner Kehle, ich muss ein Lachen unterdrücken. »Du stiehlst doch niemandem den Strom, Granny! Das ist gar nicht möglich.«

    »Hast du denn die Kerzen und die Batterien besorgt?«

    »Ja, habe ich. Sind draußen im Fahrradkorb. War aber völlig unnötig, welche zu kaufen. Die Stadt hat es gar nicht so schlimm erwischt. Und Strom hat auch wieder jeder!«

    »Man kann aber nie genug Kerzen im Haus haben.« Grandma schiebt den Stuhl zurück und kommt auf mich zu. Sie umarmt mich so herzlich, dass mir die Luft wegbleibt. Manchmal verhält sie sich seltsam, aber liebenswürdig. Sie ist körperlich noch sehr fit, wenn auch etwas beleibt, aber ihre Eigenarten geben mir bisweilen zu denken. Andererseits kann ich mich nicht daran erinnern, sie schon einmal anders erlebt zu haben. Vielleicht liegt es nicht am Alter, dass sie sich skurril verhält.

    Ich lebe seit mehr als zehn Jahren bei meiner Großmutter. Meine Mutter hatte mich die ersten sieben Jahre meines Lebens allein großgezogen, doch dann ist sie an einem Schlaganfall gestorben, und das gerade mit Mitte dreißig. Seitdem lebe ich mit Granny allein in diesem Haus. Das meiste Geld habe ich mit Gelegenheitsjobs neben der Schule verdient, aber auch meine Großmutter hat jede Arbeit angenommen, die sie kriegen konnte, bis heute. Geld war seit jeher knapp im Hause Middlesworth.

    »Sadie, du bist ja klitschnass«, sagt Granny und löst sich von mir. »Nicht, dass du dich erkältest.«

    »Es sind über dreißig Grad draußen, ich werde mich ganz sicher nicht erkälten. Dennoch werde ich jetzt erst einmal duschen gehen.«

    »Spielen wir heute Abend Karten?« Grandma sieht mich fragend mit großen brauen Augen an - dieser typische Blick, der es mir immer so schwer macht, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Aber diesmal geht es leider nicht anders.

    »Heute nicht, Granny. Ich habe dir doch erzählt, dass ich mich mit Sean und Christie im Blue Moon verabredet habe.«

    »Trotz des Sturms? Kind, das sehe ich aber nicht so gerne.« Sie reckt mahnend den Zeigefinger in die Luft, ich lächle nur mild und lege eine Hand auf ihre Schulter.

    »Der Sturm ist doch vorbei, die Aufräumarbeiten sind so gut wie abgeschlossen.« Weil mich ein schlechtes Gewissen plagt, füge ich dennoch hinzu: »Ich werde nicht lange wegbleiben. Gegen elf bin ich wieder da. Versprochen.«

    Grandma hebt die Augenbrauen und nickt dann resigniert. »Du wirst aber deine Kontaktlinse tragen, oder?«

    Ich seufze. Ich verstehe nicht, weshalb sie mich ständig dazu nötigt. »Ja, das werde ich.« Ich sage es, meine es aber nicht so. Ich werde lediglich so tun, als würde ich ihrer Bitte nachkommen. Den Sinn hinter diesem Versteckspiel verstehe ich jedoch nicht. Natürlich werde ich dauernd angestarrt, wenn ich ohne Linse auf die Straße gehe. Mein silberfarbenes rechtes Auge sticht zwischen meiner dunklen Haut extrem hervor, aber ich habe mich daran gewöhnt, anders auszusehen als andere. Im konservativen Süden wird man nur allzu schnell als Hexe abgestempelt (hier glaubt man noch an Voodoo und diesen ganzen Mist), aber ich werde doch ohnehin dauernd diskriminiert. Es stört mich inzwischen nicht mehr.

    Ich gehe die Treppe hinauf ins obere Stockwerk, wo sich die beiden Schlafzimmer und das Bad befinden. Ich lege mir frische Kleidung zurecht, eine enge blaue Jeans und ein gelbes ärmelloses Top, ehe ich mich unter die Dusche stelle und mir kühles Wasser über den verschwitzten Körper laufen lasse.

    ***

    Das Blue Moon ist werktags weniger gut besucht als an den Wochenenden, weshalb wir uns zwei Mal pro Monat an einem Donnerstag hier verabreden. Gelegentlich bin ich auch samstags hierher gekommen, dann jedoch meist allein, um mir die Auftritte der Jazz- und Bluesbands der Region anzusehen, die regelmäßig in den Bars um Jackson herum auftreten. Das Blue Moon liegt etwas außerhalb unserer Hauptstadt, an der Interstate 20, sodass ich mit dem Bus knapp eine Stunde fahren muss. Meine Grandma versteht nicht, weshalb ich mein Geld dafür ausgebe, aber sie hat das Blue Moon auch noch nie von innen gesehen. Sie liebt Jazz ebenso wie ich, und würde sie einmal die köstlichen Baconburger probieren, würde sie verstehen, weshalb mir die Fahrt sechs Dollar wert ist. Natürlich gibt es auch in meiner Heimatstadt Vicksburg solche Bars, aber viele davon sind von Touristen überrannt und an deren Vorstellungen angepasst: kitschiges Interieur, das an die Zeit des Sezessionskriegs erinnert und hoffnungslos klischeebehaftete Dekorationsgegenstände wie alte Musikinstrumente und vergilbte Fotos von Baumwollplantagen an den Wänden. Im Blue Moon geht es weitaus gediegener zu, und die Livebands spiegeln das moderne Südstaatengefühl wesentlich besser wider als die »Klassiker«, wie man sie nennt, nur weil sie jedermann kennt und ein Saxophon die Hookline spielt.

    Heute ist das Blue Moon mäßig gut besucht, die Musik kommt vom Band und die meisten Besucher verbringen die Abende nach einem harten Arbeitstag lieber zuhause als auswärts. Zudem ist die Bar vom Stadtzentrum aus recht schlecht zu erreichen. Das Lokal lebt einzig von den Wochenenden. Sean, Christie und ich schätzen es jedoch, wenn wir uns in ruhiger Atmosphäre unterhalten können. Werktags muss man zumindest nicht darum bangen, überhaupt noch einen Sitzplatz zu ergattern. Wenn ich herkomme, um mir die Bands anzusehen, interessiert es mich hingegen nicht, ob ich sitze oder stehe. Dann zählt einzig die Musik.

    Als ich den Gastraum betrete, schlägt mir warme feuchte Luft entgegen, obwohl die Fenster geöffnet sind. Jeden Sommer wünsche ich, das Blue Moon würde sich eine Klimaanlage leisten, aber vermutlich gehört es einfach zum Flair der Südstaaten dazu, dass man schwitzt. Jedenfalls klebt mir mein frisches gelbes Top schon wieder am Rücken.

    Die Bar ist einfach eingerichtet, aber gemütlich. Dunkle ungepolsterte Holzstühle und verkratzte einfache Tische, dazu schwere rote Vorhänge an den Fenstern, Deckenventilatoren und ein Spielautomat in der Ecke. Der Tresen ist ebenfalls dunkel und verkratzt, aber der »used Look« ist modern und trendy, wobei ich glaube, dass die Einrichtungsgegenstände deshalb so aussehen, weil sie tatsächlich lange in Gebrauch waren und keinem Modetrend nacheifern. Gerade das macht das Blue Moon so authentisch. Das einzige, das eine Verbindung zum Namen des Lokals schafft, ist ein riesiges Gemälde hinter der kleinen Bühne am Ende des langgezogenen Gastraumes. Es zeigt eine Jazzband, die vor einem riesigen grinsenden Mond spielt. Kein Meisterwerk, aber das solide Ölgemälde eines mittelmäßigen Künstlers.

    Sean und Christie sitzen bereits an unserem Stammplatz, ein Tisch unter dem Fenster. Als sie mich sehen, winken sie mich heran.

    »Hi Sadie, ich dachte schon, du hättest uns vergessen«, sagt Sean und streckt mir seine Handfläche entgegen, damit ich abklatschen kann. Er steht dabei nicht auf. Keine Umarmungen, keine Küsschen. Christie grinst bloß und offenbart dabei ihre Zahnspange. Die beiden sind Außenseiter wie ich. Ich würde nicht einmal behaupten, dass wir sehr gut befreundet wären. Abseits unserer abendlichen Verabredungen alle zwei Wochen in dieser Bar treffen wir uns nie, auch telefonieren wir nicht. Ab und an schreiben wir uns eine Sms, aber das war's dann auch schon. Weshalb wir uns diese Begegnungen überhaupt antun? Manchmal frage ich mich das auch. Ich sehe es inzwischen als eine Art »Außenseiterversammlung«, wir haben sonst kaum Freunde und fühlen uns wohl im Kreis von Menschen, die uns nicht wie Freaks behandeln. Wir haben alle drei ein irgendwie geartetes Handicap, was vermutlich auch der Grund ist, weshalb wir keine wirklich engen Freunde werden. Wir haben es im Laufe unseres Lebens gelernt, andere auf Abstand zu halten, um nicht verletzt zu werden.

    Sean ist homosexuell, zwanzig Jahre alt und ein Durchschnittstyp, der gern mit dem Hintergrund verschmilzt, um bloß nicht aufzufallen. Es fällt ihm schwer, einen Partner zu finden, denn in dieser Gegend sind die Leute konservativ und steif. Seine eigene Mutter hat ihn nach seinem Outing vor zwei Jahren vor die Tür gesetzt. Unnötig zu erwähnen, dass ihn das nicht unbedingt darin bestärkt hat, der Welt offen entgegen zu treten. Sean träumt davon, eines Tages nach New York City umzuziehen, ein Schmelztiegel für Freaks aller Rassen und Klassen, doch sein schmales Gehalt als Tankwart lässt ihm kaum Spielraum zum Sparen.

    Christie ist... nun ja... Sie hat nicht direkt einen Makel, zumindest keinen, der mit der Angehörigkeit zu einer Minderheit in Zusammenhang steht. Sie ist einfach nicht die Hübscheste mit ihren dünnen Haaren und den Pferdezähnen. Sie hat wie ich dieses Jahr die High School abgeschlossen, wir kannten uns aus dem Sportkurs. Sean ist einer ihrer Bekannten aus Jackson, ich glaube, Christie hatte mal erwähnt, dass er vor ein paar Jahren ein Praktikum im Betrieb ihrer Mutter, die einen Ersatzteilversand für Haushaltsgeräte betreibt, absolviert hat.

    Und ich? Abgesehen davon, dass ich dunkelhäutig bin und mein rechtes Auge silberfarben wie der Vollmond ist? Ich gelte als vorlaut und unnahbar, wobei erstgenanntere Aspekte sicherlich mehr zu meinem Außenseiterdasein beitragen.

    Auch, wenn wir die Loser der Gesellschaft darstellen mögen, ich genieße unsere gemeinsamen Abende dennoch, sie sind mir eine willkommene Ablenkung.

    Eine Weile lang plaudern wir über die Dinge, die wir im Leben der anderen innerhalb der letzten zwei Wochen verpasst haben, nichts davon geht jedoch in die Tiefe. Wir erkundigen uns, wie wir den schweren Sturm überstanden haben, welche Schäden an Straßen und Gebäuden entstanden sind und inwiefern uns das persönlich betrifft. Dann erst wenden wir uns unseren Lieblingsthemen zu. Meistens sprechen wir über Musik oder Filme, ab und an auch über unsere Familien. Wir bestellen Cola und Burger, ein ganz normaler Abend, der mir nicht in Erinnerung geblieben wäre, hätte mich nicht ein gutaussehender Fremder am Nachbartisch die ganze Zeit über angestarrt. Ich habe ihn nie zuvor im Blue Moon gesehen, dabei dachte ich, jeden Gast, der innerhalb der letzten zwei Jahre über diese Schwelle getreten ist, zu kennen (wenn auch nur vom Sehen). Die Bar ist unbekannt bei Touristen, weil sie etwas außerhalb von Jackson liegt und schwer zu finden ist. Wer hierher kommt, kommt auf Empfehlung eines Einheimischen.

    Der Kerl sitzt relativ ungerührt ganz allein am Tisch, ein ziemlich düster drein blickender Typ mit Tätowierungen auf den Armen, die unter einem hautengen grauen Shirt hervor blitzen. Er hält den Kopf leicht gesenkt, aber seine Augen scheinen hellwach zu sein. Immer wieder zucken sie zu mir herüber, und ich kann mich einfach nicht dagegen wehren, ebenfalls ständig zu ihm hinzusehen. Ich nehme an, dass ihm mein silberfarbenes Auge aufgefallen ist. Ganz schön unverschämt, jemanden so anzuglotzen. Oder flirtet er etwa mit mir? Ach, so ein Blödsinn! Ein weißer, gut aussehender Mann mit Dreitagebart und Tätowierungen würde niemals freiwillig mit einem dunkelhäutigen Mädel flirten, die offensichtlich einige Jahre jünger ist als er, denn ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Seine Augen sind graugrün, die Haut im Gesicht und an den Armen sonnengebräunt. Entweder arbeitet er im Freien oder er ist einer jener Angeber, die sich stundenlang in der Sonne wälzen. Oder noch schlimmer - im Solarium.

    »Hey, Sadie, was sagst du denn nun dazu?«, reißt mich Sean aus meinen Gedanken.

    »Ich... Ähm... Wozu?«

    Er verdreht die Augen. »Hast du mir nicht zugehört? Ich habe dir gerade erzählt, dass mich eine Kassiererin aus dem Supermarkt gefragt hat, ob ich eine Freundin habe. Dabei ist sie rot angelaufen.« Er kichert.

    Meine Augen wandern abermals zur Seite. Wieder fange ich den Blick des Fremden auf. Ich muss mich zwingen, mich loszureißen und mit meinen Gedanken zum Gespräch zurückzukehren.

    »Und? Was hast du ihr geantwortet?«

    »Gar nichts.« Er zuckt die Achseln.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1