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Gebrochenes Eis: Ein Jørn Johnsen Krimi
Gebrochenes Eis: Ein Jørn Johnsen Krimi
Gebrochenes Eis: Ein Jørn Johnsen Krimi
eBook377 Seiten4 Stunden

Gebrochenes Eis: Ein Jørn Johnsen Krimi

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Über dieses E-Book

Das Leben eines Hauptkommissars im Hohen Norden Norwegens ist weder immer so ruhig, noch so friedlich wie er es gerne hätte. 

Gleich zwei Frauenleichen werden in den umliegenden Wäldern gefunden, die den arme Jørn Johnsen beschäftigen.
Sein ungeregeltes Privatleben hält ihn auf Dauertrab und auch auf dem Revier geht es nicht immer entspannt zu.

Die Lösung dieses Falles fällt ihm schwer - 
trotz unverhoffter Hilfe. Ein Versprechen, das es zu halten gibt, setzt ihn unter Druck und gerade, als er glaubt einer Lösung nahe zu sein, verschwindet sein Schützling. 
Es geht plötzlich um mehr, um viel mehr als um die beiden toten Frauen, zwischen deren Tode es irgendeinen Zusammenhang geben muss.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Sept. 2020
ISBN9783753103914
Gebrochenes Eis: Ein Jørn Johnsen Krimi

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    Buchvorschau

    Gebrochenes Eis - Julia Yovanna Susanne Brühl

    Julia Brühl

    Gebrochenes Eis

    Jørn Johnsens zweiter Fall

    K

    epubli-Logo-LesezeichenSW

    leiner Lesehinweis meinem Buch und mir

    D:\_User\Yovanna\Bilder\119. Norwegen\IMG_3252 (2).JPG

    Dies ist die Fortsetzung meines ersten Kriminalromans Blutige Nordlichter.

    Ich habe mich bemüht, die nötigen Informationen aus dem ersten Band in diese Geschichte einfließen zu lassen, sodass auch dieses Buch ein eigenständiger Kriminalroman ist. Es ist also nicht zwingend notwendig, den ersten Teil gelesen zu haben, um diesen zu verstehen.

    Mein Name ist Julia Yovanna Susanne Brühl. Ich kam am 16. Januar 1990 in Starnberg zur Welt und lebe und arbeite im schönen Berchtesgadener Land.

    In meinen Büchern bringe ich unter anderem meine Liebe zur nordischen Natur zum Ausdruck, die es mir ganz besonders angetan hat.

    Auch wenn ich die Belastbarkeit des armen Jørn Johnsen gern austeste, ist er mir doch bereits in meinem ersten Buch so sehr ans Herz gewachsen, dass ich mit diesem zweiten Fall weitermachen musste. Ich bin zuversichtlich, dass er das gut wegstecken und sich auch dieses Mal mit Leib und Seele dafür einsetzen wird, allen Widrigkeiten, die ich hinterlistiges Wesen ihm auferlege, zu trotzen.

    Nun wünsche ich viel Lesevergnügen mit einem besonderen Norwegenkrimi!

    Bootstrip

    Salz lag in der Luft. Es war intensiv und kribbelte auf den Schleimhäuten. Ein kräftiger Westwind zerfetzte am graublauen Himmel die Wolken und jagte sie in kleinen Wattebäuschen über den Horizont.

    Plötzlich zerriss ein gellender Angriffsschrei die bitterkalte Luft. Erschrocken zog sie den Kopf ein, wich zur Seite aus und konnte gerade noch ihr linkes Auge retten. Als sie sich wieder gefangen hatte, wollte sie wütend zurückschlagen, doch der Angreifer hatte ihre viel zu langsame Bewegung vorausgesehen und sich längst außer Reichweite gebracht. Ihr blieb keine Zeit nachzusetzen, denn schon kam die nächste Attacke, dieses Mal von der rechten Seite. Dann griff jemand von hinten an, ja sogar von oben glaubte sie eine Bewegung wahrzunehmen. Sie war jetzt von allen Seiten umzingelt. Schmerzhaft getroffen schrie sie auf und machte Anstalten, den ersten Angreifer mit einem Schlag ihrer Rechten abzuwehren, doch es blieb bei einem Versuch. Etwas Warmes lief ihr linkes Bein hinunter. Als sie sich nach hinten wandte, schnitt etwas in ihren Hals. Panisch kreischte sie auf. Gegen diese Übermacht war sie ohne Chance. In einem letzten, verzweifelten Versuch gab sie frei, was die Angreifer von ihr haben wollten, um mit dem Leben davonzukommen.

    Da lichtete sich die Umklammerung der vielen Leiber und mit einer letzten, geschwächten Bewegung tauchte sie nach unten ab. Die Angreifer ignorierten sie und zankten sich lautstark um die Beute.

    Als sie sah, wie der Leckerbissen in die Tiefe fiel, entfuhr ihr ein enttäuschter Laut.

    Mit einem leisen Klatschen landete der tote Fisch im Wasser. Langsam versank er im dunklen Meerwasser. Er kam nicht weit. Die größte der Möwen, diejenige, die zum ersten Schnabelhieb ausgeholt hatte, setzte ihrem Mittagessen im Sturzflug nach, packte es mit dem messerscharfen Schnabel, warf den Fisch in die Luft und verschlang ihn in Sekundenschnelle.

    Die beraubte Möwe verharrte für einen Moment flatternd in der Luft und sah sich verdrießlich um. Ihr Magen knurrte. Die Hiebe der Schnabelspitzen hatten sie einige Federn gekostet und ihr viele kleinere Wunden zugefügt. Sie blickte sich um und sah die anderen davonsegeln. Niemand legte sich freiwillig mit diesem Ungetüm an, das nun selbstzufrieden auf den Wellen wippte.

    Die hungrige Möwe zog einen weiten Kreis, gewann so an Höhe und hielt Ausschau nach einem Ersatz, mit dem sie ihren Hunger stillen konnte.

    Weit unter ihr erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie legte die Flügel an, verringerte ihre Flughöhe und begann, den Punkt zu umkreisen. Vergessen war die Wut über die verlorene Beute und sogar die schmerzhafteste der Wunden. Die weißen Federn zitterten, als sie ein kleines Manöver vollführte, um sich das Objekt von der anderen Seite anzusehen. Derartige Dinge waren ihr schon unzählige Male begegnet. Sie wusste, dass das Gebilde von den Menschen stammte, die sich aus Bäumen solche schwimmenden Untersätze bauten. Meistens waren diese seltsamen Zweibeiner, die sich auf Fischjagd begaben. Vielleicht würde hier etwas für sie abfallen?

    Ein heller Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Offenbar waren ihre verhassten Artgenossen zu demselben Schluss gelangt. Auch sie umkreisten neugierig das kleine Segelboot, das auf den wilden Wellen des Vefsnfjordes schaukelte. Ärgerlich zischte sie ihnen zu, sie sollten abhauen. Sie wollte nicht schon wieder den Kürzeren ziehen. Doch sie erntete nur höhnisches, mehrstimmiges Gelächter. Zumindest stellte sie mit Erleichterung fest, dass die kräftigste Artgenossin diesmal nicht dabei war.

    Unten machte sich eine dunkel gekleidete Gestalt an Bord des verbraucht wirkenden Decks zu schaffen. Trotz seines zerbrechlichen Äußeren spannte sich das Hauptsegel kräftig im Wind und trieb die Freja, so der Name des Bootes, in spielerischer Leichtigkeit vor sich her.

    Der Mann hatte sich dem Seil genähert, an dem das Segel befestigt war. Seine kräftigen Fäuste schlossen sich um das Takelwerk und brachten die Armmuskeln unter seinem hochgekrempelten Hemd zum Vorschein. Er zog kräftig am Aufholer. Das Seil straffte sich und der Klüver, das kleinere Segel am Bug des Bootes, glitt geschmeidig nach oben. Beherzt zog er daran, bis ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn traten. Als der Klüver gehisst war, verknotete Frejas Helfer das Seil wieder fachmännisch und kehrte an das Ruder zurück.

    Das Segelboot nahm weiter Fahrt auf. Das hinzugezogene Segel verlieh Freja den gewünschten zusätzlichen Antrieb und ließ sie noch schneller als zuvor über das Wasser sausen. Fröhlich platschten ihre Planken über das dunkelgrüne Nass.

    Der blonde Mann mit den meerblauen Augen teilte Frejas Freude. Das Ruder fest in den Händen, die Gischt im Gesicht, den Wind in den flatternden Haaren war auch er ganz in seinem Element.

    Er sah die kleinen gefiederten Gesellen, die ihn beobachtet hatten, kleiner werden und hörte ihre missmutigen Rufe verklingen. Die hatte er abgehängt.

    Jørn Johnsen stand breitbeinig mit beiden Händen am Ruder und sog gierig die frische Meeresluft in seine Lungen. Entgegen besseren Wissens wollte er die Rückfahrt noch hinauszögern und verharrte regungslos. Seine Augen glitzerten mit dem Wasser unter seinem Bug um die Wette, zeugten von der Leidenschaft, die ihn durchströmte. Das Gefühl grenzenloser Freiheit versetzte ihn in Höchststimmung und ließ ihn ein heiseres Lachen ausstoßen. Einfach so, auch wenn niemand es hören konnte. Weil er sich gerade seines Lebens freute und diesem Glücksgefühl irgendwie Raum verschaffen musste. Seine Stimme hallte über die Wasseroberfläche, bis sie irgendwo von einer Woge geschluckt wurde.

    Meine treue alte Freja und ich, dachte er, wir sind ein ausgezeichnetes Team. Sie ist zwar nur ein kleines Schiffchen und auch nicht mehr die Allerjüngste, doch sie hat bereits einige Male unter Beweis gestellt, was ihre geschmeidigen Planken auszuhalten vermögen.

    Endlich war es so weit. Die beiden Uferseiten, die bislang vom Fjord geteilt worden waren, verschmolzen miteinander. Er betrachtete die blasse durchgehende Linie. Als er sich wieder nach vorn wandte, seufzte er. Vor ihm erstreckte sich das offene Europäische Nordmeer.

    Je weiter er hinausfuhr, desto stärker wurde der Wind. Er zerrte an den Segeln und ließ die Seile ächzen. Die enttäuschten Möwen hatten es längst vorgezogen, eine kleine Insel anzusteuern. Sie war kaum mehr als ein mit Vogelkot überzogener und an den Seiten mit Muscheln besetzter Haufen Steine. Streitsüchtig wie immer, zankten sie sich dort lautstark um die besten Plätze.

    Jørn fixierte das Ruder und beschloss, dass ihm noch genügend Zeit blieb, sich kurz aufzuwärmen. Er ließ sich auf der Bank nieder, die protestierend knarrte und zog seinen Mantel enger um sich. Er griff nach seinem Rucksack, holte ihn unter der Bank hervor und fand nach kurzem Wühlen seine Thermoskanne. Den Blick unverwandt nach hinten Richtung Westen gerichtet, achtete er nicht auf seine Hände als er sich einschenkte und an seinem Tee nippte.

    Das war ein Fehler.

    „Aua! Scheiße, ist das heiß!" Die Tasse flog ihm aus der Hand, er hielt erschrocken den Atem an und lauschte auf ein verräterisches Platschen, doch zu seiner Erleichterung landete sie scheppernd innerhalb des Bootes. Doch die Kanne fiel natürlich ebenfalls um. Fluchend sprang er auf und brachte damit das ganze Boot zum Wanken. Mit glucksendem Geräusch ergoss sich der dampfende Inhalt der Kanne über seine Sachen. Hastig stellte er sie auf, wischte sie mit dem Ärmel ab und blickte in seinen Rucksack hinein. Wenigstens waren Handy und Geldbeutel nicht betroffen. Der nasse Pullover würde wieder trocknen und seine Kamera war in ihrer Schutzhülle sicher.

    Seine Lippen brannten immer noch. Er tastete mit der Zunge nach seinem Gaumen, der sich anfühlte als wäre er gekocht worden. ,Wer zu sehr seinen Liebeleien nachging, lief eben Gefahr, sich zu verbrennen‘, sinnierte er und hängte das triefende Kleidungsstück nachlässig über seine Sitzgelegenheit.

    Es wurde Zeit umzukehren. Leider.

    Ein verbotener, oft verdrängter Gedanke drängte sich wieder einmal in den Vordergrund. Zu gern würde er der Versuchung nachgeben und Freja einfach ihren Lauf lassen. Er könnte immer weiterfahren, weiter und weiter. Fort. Weg von der Heimat, von allen Verpflichtungen, weg von … seine Gedanken gerieten ins Stocken, als er sein Herz stolpern fühlte. Nein, er durfte das nicht.

    Er richtete seine Augen auf die kleine Norwegenflagge, die am Heck flatterte, und warf einen letzten Blick auf den lockenden Horizont.

    Das Ufer war nun nur noch zu erahnen. Jørn wusste, dass es allmählich gefährlich wurde. Während er noch immer in seiner Stellung verharrte, durchzuckte ihn die abstruse Idee, dass seine Freja ein Eigenleben haben könnte. Sie würde sich sehnsüchtig fragen, ob er es wagen würde, ihren größten Wunsch zu erfüllen. Ob er ihr erlauben würde, ungebremst weiter über das Wasser zu preschen und ihren Weg nach Westen fortzusetzen. So lange, bis sie schließlich erschöpft von ihrer weiten Reise, mit zerfetzten Segeln und verkratztem Rumpf, an Islands Küste brandete. Jedoch nur, falls es ihr gelänge, den starken Wellengang der hohen See zu überstehen und schlussendlich vor Islands Küste den hinterlistigen Untiefen mit ihren scharfkantigen Felsen auszuweichen.

    War sie dafür nicht ein wenig zu alt und marode? War er dafür nicht zu alt und marode?

    Eine starke Windböe klappte Jørn den Mantelkragen nach oben. Beharrlich schlug er immer wieder gegen seine Wange, bis Jørn das Spiel beendete, ihn wieder herunterklappte und festknöpfte. Die Bewegung holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Das vorherige Glücksgefühl flog mit einer Böe davon, segelte auf ihr gen Westen. Ein leiser Seufzer begleitete es. Es war nun wirklich an der Zeit, Frejas ungestüme Fahrt zu bremsen.

    Langsam zog er den Klüver wieder herunter und drehte in einer langgestreckten Kurve bei, um das Tempo zu drosseln. Sämtliche Handgriffe waren ihm im Laufe der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Er arbeitete mechanisch und bedächtig. Nach der geschmeidigen Wende steuerte er zurück. Sein Blick fiel auf das dunkle, tiefe Wasser, auf dem kleine weiße Schaumkronen tanzten. In seiner Fantasie teilten sich die Wellen und bildeten menschliche Konturen.

    Aus einem anmutigen Gesicht blickten ihn zwei von langen Wimpern umrahmte braune Augen von unten an.

    Er blinzelte verwundert und im nächsten Moment war die Vision wieder verschwunden.

    Johnsen fröstelte. Plötzlich fühlten sich seine Hände eiskalt an. Mit gerunzelter Stirn blickte er nach oben. Unbemerkt hatten Wolken sich verdichtet und ließen keinen einzigen Sonnenstrahl mehr durch. Besorgt beobachtete er, wie sie sich auftürmten und schätzte die Bedrohung ab, die von ihnen ausging.

    Mit fachmännischem Blick erklärte er sie schließlich für harmlos. Kalt, dunkel, aber vorerst noch ungefährlich.

    Er wandte sich ganz nach hinten und warf den Außenbordmotor an, um damit endgültig den Rückweg anzutreten. Er war nun wirklich lange genug unterwegs gewesen, zudem sagte ihm ein Blick auf die Uhr, dass die Fähre bald kommen würde. Er wollte es vermeiden, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, wusste er doch, dass der Kapitän nicht gut auf ihn zu sprechen war. Es war Segelbooten von Frejas Größe (sofern man hier überhaupt von Größe sprechen konnte) nicht gestattet, so weit aufs offene Meer hinauszufahren. Und gerade er sollte es vermeiden, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, denn als Erster Kriminalhauptkommissar hatte Jørn Johnsen schließlich Vorbildfunktion.

    Steinehüpfen

    Gudrun war überglücklich. Sie war von Natur aus ein fröhlicher Mensch, aber heute war sie besonders gut aufgelegt. Sie hatte es geschafft, die letzte Abschlussprüfung war geschrieben.

    Heute war Mittwoch, der Tag, vor dem sie sich gefürchtet hatte, denn an diesem letzten Prüfungstag hatte Mathematik auf dem Plan gestanden. Ihr schlechtestes Fach. Umso größer die Erleichterung, die ewige Lernerei endlich hinter sich gebracht zu haben. Ob und wie gut sie sie bestanden hatte, wussten die Götter, es war ihr im Moment auch völlig gleichgültig. Hauptsache, sie hatte es hinter sich!

    Der Ruf der Freiheit klang in ihren Ohren. Nun hieß es erst einmal: Freizeit en masse, tun wonach ihr zumute war, schultechnisch in genüsslichem, wohlverdientem Nichtstun verweilen zu können. Und natürlich auch, ausgelassen zu feiern! Aus den vielen Übungsunterlagen würde sie mit ihren Freunden am Wochenende ein herrliches Lagerfeuer machen.

    Die Neunzehnjährige mit den schönen langen Beinen war zwei Busstationen eher als üblich ausgestiegen, um noch eine Runde durch den Wald zu joggen. Sie zog die Gurte ihres kleinen Schulrucksackes enger und rannte vergnügt den ausgetretenen Pfad entlang, um zum Fluss zu gelangen. Jetzt im Mai war in tieferen, geschützteren Lagen der Frühling auf dem Vormarsch, in den schattigeren oder höher gelegenen Bereichen herrschte jedoch nach wie vor der Winter. So war auch der Weg, der am Fluss entlangführte, ein einziges Wechselspiel der Jahres-zeiten. Manchmal streckten gelb leuchtende Schlüsselblumen am Ufer ihre Köpfe heraus, während ein paar Schritte weiter noch die Eiszapfen ins Wasser hingen.

    Sie lief für ihr Leben gern und dieser Leidenschaft, der sie ihre schlanke Silhouette verdankte, gab sie sich nun voll und ganz hin. Bereits nach den ersten Metern bemerkte sie, wie sehr sie durch das viele Sitzen in letzter Zeit an Kondition eingebüßt hatte. Wenigstens hatte sie nicht den gleichen Fehler begangen, den so viele ihrer Klassenkameradinnen machten, und sich mit Energydrinks vollgeschüttet, die zum einen nur kurzfristig puschten und zum anderen schnell auf die Hüften wanderten. Sie nahm sich vor, ab heute wieder täglich eine Runde zu laufen. In ihrem Abschlusskleid wollte die ehrgeizige junge Frau eine gute, nein, die beste Figur machen. Sie war sich ihres hübschen Äußeren durchaus bewusst. Genauso wusste sie, dass sie ihren Teil dazu beitragen musste, um ihre Anziehungskraft zu erhalten. Ihr Aussehen war, gepaart mit ihrem ansteckenden Lachen, der Grund für einen Haufen glühender Verehrer, die ihrem kessen Hüftschwung mit schräggestellten Köpfen träumerisch nachblickten. Da konnte ihr Name noch so unglücklich sein. Sie hasste diesen furchtbaren, groben Klang von Gudrun und hörte grundsätzlich nur auf den Namen Nelly, den sie mit viel Phantasie von ihrem Nachnamen Nielson abgeleitet hatte.

    Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie sie am Abschlussball den Jungs die Köpfe verdrehen und die blöden Zicken aus ihrem Jahrgang vor Neid erblassen lassen würde. Doch das war nur Spaß, denn ihr Herz schlug einzig und allein für einen bestimmten Mann. Sie würde aufs Ganze gehen, ihn als Tanzpartner wählen und sich an ihn ranschmeißen, dass ihm Hören und Sehen verging! Er sollte endlich seine bescheuerte Ex vergessen und seine Aufmerksamkeit jemandem widmen, der sie verdiente.

    Nelly holte tief Luft und legte noch einen Zahn zu. Das Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Schnell wie der Wind sauste sie den schmalen Pfad entlang und wich spielerisch den auf dem Weg liegenden Steinen aus. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Vögel besangen voller Inbrunst diesen warmen Frühlingstag.

    Sie fragte sich, wie lange sie diesmal für ihre Route brauchen würde. Ihr Atem ging bereits nach dieser kurzen Strecke stoßweise. Sie spornte sich an.

    Sie wollte die angenehme Gelegenheit nutzen, einfach heimkommen zu können, wenn es ihr passte. Ohne ihre Eltern anrufen zu müssen, die trotz ihrer Volljährigkeit immer noch auf diese nervtötende Überwachung bestanden. Sie war ein Einzelkind und stets behütet worden wie ein Augapfel. Nun waren ihre Eltern für eine Woche verreist, um ihre Tante zu besuchen. Ein Besuch, der ihr – zu ihrer Erleichterung – erspart geblieben war. Sie hatte die beste Ausrede der Welt: Abschlussprüfungen. Das hatte ihr bei der Abreise der Eltern einen neidischen Blick ihres Vaters eingebracht. Er tat ihr leid. Mutter konnte gnadenlos sein. Nelly hatte ihm ins Ohr geflüstert, dass sie sich auf Sonntagabend freue und er hatte sie gequält angelächelt, als er daran erinnert wurde, wie weit er von seiner Erlösung entfernt war.

    Sie erreichte die Drevja und anstatt über die hölzerne Brücke zu laufen, entschied sie spontan, den natürlichen Weg zu nehmen. Es machte doch viel mehr Spaß, von Stein zu Stein zu hüpfen, um ans andere Ufer des Flusses zu gelangen! Sie rutschte die kurze Böschung hinunter und peilte den ersten großen Trittstein an. Die Entfernung abschätzend nahm sie Anlauf und sprang. Sie landete geschickt auf dem rauen Felsen und drehte sich um. So ein schöner Tag war das heute! Das Gurgeln des Baches und das leise Piepen der Meisen waren die einzigen Geräusche, die sie wahrnahm. Keine Menschenseele weit und breit, niemand war zu hören, niemand zu sehen.

    Der nächste Hüpfer gelang ebenfalls problemlos und elegant. Gerade, als sie sich hinunterbeugen und einen schönen Quarz aus dem Wasser fischen wollte, glaubte sie, doch etwas zu hören, das aus dem Rahmen der typischen Waldgeräusche fiel. War es ein Rascheln, ein Stöhnen oder etwas anderes gewesen? Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in ihrer Magengegend aus. Es war das Gefühl, beobachtet zu werden, das sie verleitete, sich aufzurichten und aufmerksam umzusehen.

    Sie suchte den Waldrand ab, konnte jedoch niemanden entdecken. Wahrscheinlich, dachte sie, bekam sie nun doch die Auswirkungen der großen Anspannung von heute Vormittag zu spüren. Also schob sie ihre Beklemmung achselzuckend auf den Prüfungsstress und duckte sich, um zum nächsten Felsen zu springen, als sie erneut ein Geräusch hinter sich hörte, das sie aus ihrer Konzentration riss. Sie ruderte hektisch mit den Armen, um ihre Balance wiederzuerlangen, als sie auf einer glitschigen Stelle ausrutschte und hinunterzufallen drohte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen und sie kämpfte heftig um ihr Gleichgewicht. Als sie endlich wieder stabil stand, atmete sie auf. Ihr Herz wollte aus ihrer Brust springen und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie verharrte noch einen Wimpernschlag, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigt hatte und wandte sich erneut um, sicher, dieses Mal etwas zu sehen, doch auch jetzt wirkte alles harmlos. Nicht einmal das Wackeln eines Zweiges verriet ihr, woher das Geräusch gekommen war.

    Sie schalt sich als hysterisch. Sie befand sich in einem Wald, und natürlich lebten hier Vögel und Säugetiere. Wahrscheinlich war es nur ein Eichhörnchen, dass ein paar Zapfen vom Baum geworfen hatte. Sie drehte sich wieder um und versuchte sich zu sammeln. Es war wichtig, beim nächsten Sprung zu vermeiden, auf den moosigen, nassen Flecken zu landen, wenn sie sich keine nasse Hose holen wollte.

    Das Kunststück gelang. Sie behielt ihre trockenen Füße und nach zwei weiteren Sätzen hatte sie etwa die Mitte des Flussbettes erreicht. In der starken Strömung zu ihren Füßen schwammen kleinere Äste, die wild auf den Wellen auf und ab hüpften. Nelly starrte wie gebannt auf das Wasser. Die Zweiglein wurden von kleinen Strudeln nach unten gezogen und tauchten manchmal erst einige Meter flussabwärts wieder auf. Sie entdeckte einen Käfer, der darum kämpfte, auf einen Stein zu klettern. Immer wieder verloren seine kleinen Füßchen den Halt. Er wirkte erschöpft, als wäre er bereits viele Male gescheitert. Als er es endlich schaffte, sich hochzuziehen, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht.

    Nelly musste ihren Blick von der hypnotisierenden Wasseroberfläche regelrecht losreißen, bevor sie den nächsten Trittstein anvisieren konnte. Sie breitete seitlich die Arme aus, um ihr Gleichgewicht besser halten zu können.

    Da krachte es hinter ihr.

    Sie erschrak, riss die Arme nach oben und wankte bedrohlich. Mit einem ausgestreckten Bein gelang ihr das Unglaubliche. Mit zitternden Gliedern und äußerster Vorsicht balancierte sie herum, hob erst, als sie ihre Endposition erreicht hatte, den Kopf und erstarrte.

    Sie öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus.

    Das andere Ufer der Drevja sollte die junge Frau niemals erreichen.

    Kräuterweiblein

    Oh, da war ja noch mehr Frauenmantel!

    Die alte Frau mit den unzähligen Falten im Gesicht hatte trotz ihrer schlechten Augen ein Büschel samtiger Blätter erspäht. Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn, dachte sie schmunzelnd, als sie darauf zusteuerte.

    Sie strich sich eine der silbrigweißen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatte und sie am Kinn kitzelte. Wenn sie ihre Haare offen trug, reichten sie bis zur Hüfte hinunter. Das immer noch kräftige Haar war ihr großer Stolz. Andere Frauen hatten mit Mitte sechzig bereits kahle Stellen, während bei ihr noch immer ein dichter Schopf wuchs. Anstatt die ersten grauen Kandidaten zu färben, hatte sie sie gelassen, wie sie waren, und den gelegentlichen Spott der eitlen Damen ignoriert, die jetzt mit Neid auf ihre weiße Mähne blickten.

    „Ich bin noch ziemlich fit für mein Alter!", sagte sie ohne Bescheidenheit zu dem Blätterbüschel in ihrer Hand, bevor sie es in ihren Leinenbeutel stopfte. Dass die Hälfte davon an der Öffnung vorbei zu Boden glitt, bemerkte sie ebenso wenig, wie die Tatsache, dass sich einige welke Blätter in ihre Kräutersammlung eingeschlichen hatten. Sie stützte sich mit ihrer kräftigen Hand am Stamm einer der vielen Birken dieses Waldes ab und kam mit knackenden Knien wieder in die Höhe. Dabei unterdrückte sie ein Stöhnen.

    „Au, blöde Knie!", schimpfte sie, während sie weiter durch das Unterholz tappte. Nach ein paar Schritten lag ein toter Baum quer über ihrem Weg. Als sie darüber hinwegstieg, knackte es schon wieder in ihren Gelenken.

    „Hey, Hüfte, zick du nicht auch noch rum!", maßregelte sie den nächsten und nicht mehr ganz so jugendlichen Teil ihres Körpers. Es tat gut, ungehört ihrem Ärger über die vielen kleinen Leiden Luft machen zu können. Nur über das Treppensteigen konnte sie sich im Wald schwerlich auslassen.

    Doch solange sie noch laufen konnte, würde nichts und niemand sie davon abhalten, sich jeden Tag, an dem es das Wetter auch nur annähernd zuließ, zu einem Waldausflug aufzumachen.

    Heute war sie allein unterwegs. Ihren Mann, mit dem sie seit bald vierzig Jahren zusammen war, hatte sie daheim gelassen. Der Alte wollte die Regenrinne reparieren, bevor der erneut angekündigte Regen in den nächsten Tagen dieses Vorhaben vereiteln konnte. Die Pfütze vor dem Haus war bereits groß genug. Noch zwei Tage Regen mit

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