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Der Fotograf - Tagebuch eines Killers
Der Fotograf - Tagebuch eines Killers
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eBook312 Seiten3 Stunden

Der Fotograf - Tagebuch eines Killers

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Über dieses E-Book

Jacob Walker ist nicht nur ein begnadeter Fotograf, sondern auch ein eiskalter Killer, der sich gleich mit mehreren Problemen herumschlagen muss. Seine pubertierende Tochter wird langsam flügge, während es ihre liebestolle Schulkameradin auf ihn abgesehen hat. Da ist es natürlich kein Wunder, dass er seiner nervenden Ex am liebsten ein Kugel in den Schädel jagen würde. Doch als scheinbar zufällig eine junge Frau in seinem Atelier auftaucht, um ihn zu einem Shooting zu überreden, geht der Ärger erst richtig los. Die mysteriöse Schönheit hat offensichtlich in ein Wespennest gestochen, um das sie besser einen großen Bogen gemacht hätte. Jetzt steht sie auf der Abschussliste und damit auch jeder, der mit ihr zusammen ist. Auf der Suche nach den Auftraggebern schlittern die beiden von einem haarsträubenden Abenteuer in das nächste, bis sie schließlich über einen längst abgeschlossenen Mordfall stolpern.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Juli 2021
ISBN9783753193892
Der Fotograf - Tagebuch eines Killers
Autor

J.S. Ranket

J.S. Ranket ist begeisterter Sporttaucher und kam eher zufällig zur Schriftstellerei. Was ursprünglich als spannende Geburtstagsüberraschung für seine Frau geplant war, entwickelte sich schnell zum nervenzerfetzenden Thriller. In seinen Romanen verbindet er äußerst geschickt bizarre Storys mit exotischen Schauplätzen, die er auf seinen zahlreichen Reisen selbst besucht hat.

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    Buchvorschau

    Der Fotograf - Tagebuch eines Killers - J.S. Ranket

    -1-

    Sorgfältig stopfte Bill Chandler die Plastikfolie in die äußerste Ecke des luxuriösen Fahrstuhls. Wenn die Malerfirma, die im dritten Stock gerade den Flur renovierte, mit ihren Farbkübeln auf dem dicken Teppich irgendwelche Spuren hinterlassen würde, dann wäre ihm ein kräftiger Anschiss sicher. Denn hier im noblen Kensington verstanden die Leute in dieser Hinsicht keinen Spaß. Und schon gar nicht mit dem Hausmeister. Wahrscheinlich würde sein Boss ihm die Reinigungskosten von seinem Gehalt abziehen. Und zwar ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken.

    Vorsichtshalber befestigte Chandler die Folie noch mit einem breiten Streifen Klebeband, bevor er die Lichtschranke der Tür wieder freigab. Sicher hatten schon einige Bewohner des Appartementhauses ungeduldig auf die Bedienknöpfe gehämmert und warteten mit scharrenden Füßen, dass die Kabine endlich nach oben fuhr. So wie dieser dämliche Musiklehrer, der mit mäßigem Erfolg versuchte, den Kindern überbezahlter Banker und Anwälten das Klavierspielen beizubringen.

    Das Geklimper, das trotz des schallisolierten Musikzimmers manchmal zu vernehmen war, verursachte bei längerem Zuhören bestimmt Ohrenkrebs. Denn anders konnte er sich die verkniffenen Gesichter der kleinen Mädchen und Jungen, die der seltsame Kerl fürsorglich bis in die Lobby brachte, nicht erklären. Wahrscheinlich wurden sie von ihren statussüchtigen Eltern mit der Aussicht auf das neueste iPhone dazu genötigt, ein Instrument zu erlernen.

    Dass der Blüthner-Flügel dabei meist überhaupt nicht angetastet wurde, konnte Chandler natürlich nicht wissen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass die angehenden Pianisten mit perfiden Drohungen eingeschüchtert wurden, über die Vorgänge im Musikzimmer den Mund zu halten.

    In dem Moment, in dem sich die Tür des Aufzugs schloss, entdeckte Chandler tatsächlich noch eine Stelle, die nicht von der Folie bedeckt wurde. Todesmutig sprang er in die Kabine, aber die Zeit bis zum erneuten Schließen reichte nicht aus. Hektisch versuchte er mit seinem Teppichmesser, den Kampf gegen das widerspenstige Klebeband zu gewinnen, denn die Mieter der teuren oberen Etagen wurden nur sehr ungern von der arbeitenden Bevölkerung belästigt. Doch zum Glück schaffte er es gerade noch rechtzeitig.

    Blöderweise stieg ausgerechnet jetzt dieser arrogante Schnösel von Musiklehrer zu. Aber offensichtlich hatte der einen guten Tag. Er übersah mit einem süffisanten Grinsen, dass sich Chandler mit seinem Ärmel erleichtert den Schweiß von der Stirn wischte. Nur als er die blitzende Klinge in seiner Hand entdeckte, hob er erstaunt die Augenbrauen.

    „Sie wollen mich doch nicht etwa umbringen, oder?", stieß er mit gespieltem Entsetzen hervor. Dann ließ er sich zu einer übertriebenen Geste hinreißen und klopfte dem Hausmeister freundschaftlich auf die Schulter.

    Doch da hatte sich schon etwas in seinen Oberschenkel gebohrt. Exakt an der Stelle, an der eine fingerdicke Ader verlief, die das Bein mit Blut versorgte. Nur hatte er absolut keine Ahnung, was das gewesen sein könnte. Denn dazu ging alles viel zu schnell. Mit schwindenden Kräften versuchte er, die sprudelnde Quelle zu stoppen, aber der warme Strom rann ihm einfach durch die Finger. Da hätte er genauso gut versuchen können, ein Schwimmbad mit einem Schnapsglas auszuschöpfen.

    Und was machte dieser blöde Hausmeister? Er stand einfach nur da und glotzte dämlich. Statt Hilfe zu rufen, war er lediglich darauf bedacht, dass er seine Schuhe nicht besudelte.

    Nur hieß er überhaupt nicht Chandler. Und er war auch kein Hausmeister.

    -2-

    Jacob Walker hatte es sehr eilig, an diesem eisigen Dezembertag nach Hause zu kommen. Bei einem Streifzug über den monatlichen Trödelmarkt in Bexley im Süden Londons hatte er vor knapp zwei Monaten eine Lomo erstanden und sofort das Potential der kleinen Kamera erkannt. Während seine Klassenkammeraden bereits eifrig digitale Bilder schossen, überredete er seine Eltern, ihm im Keller ihres kleinen Häuschens ein Fotolabor einzurichten. So war er nicht auf die immer kostspieligere Entwicklung angewiesen und konnte auch gleichzeitig ein bisschen herumexperimentieren. Das nötige Zeug dazu hatte er sich in einem Kurs, der an seiner Schule angeboten wurde, angeeignet und war von Anfang an von der Langsamkeit fasziniert, mit der ihm das Papier sein Geheimnis offenbarte. Mit Autofokus und automatischer Belichtung konnte schließlich jeder Idiot gute Bilder schießen.

    Zumindest wenn man einen Blick für das richtige Motiv hatte.

    Noch sehr genau erinnerte er sich an Erins große Augen, als er ihr einen seiner ersten Schnappschüsse präsentierte. Und an den Kuss, den sie ihm anschließend auf die Lippen hauchte. Sie hatte sich damals ein bisschen verschämt zur Seite gedreht, bevor er den Auslöser drücken konnte. Doch das Ergebnis ließ sie anschließend nur sprachlos staunen, denn aus dem Bild der stupsnasigen jungen Frau war ein künstlerisches Meisterwerk geworden. Dass die kleine Kamera bei vielen Fotoenthusiasten gerade wegen ihrer Unschärfe und der Schatten so beliebt war, verschwieg er vorsichtshalber. Schließlich wollte er noch öfter von ihr geküsst werden.

    Kurz nachdem Walker in seine Straße eingebogen war, entdeckte er Zach O’Brian. Der glatzköpfige Hooligan stand vor Mrs. Bradburys Haus und schien mit seinem punkigen Outfit irgendwo in den Achtzigern steckengeblieben zu sein. In Springerstiefeln und abgewetzter Lederjacke lief heutzutage ja wirklich niemand mehr herum. Außerdem sollte er sich einmal dringend um einen Zahnarzttermin kümmern. Dass man ausgeschlagene Zähne auch ersetzen konnte, hatte ihm offensichtlich noch niemand gesagt. Aber wenn man keinem Streit aus dem Weg ging, dann gehörte so etwas wahrscheinlich zum guten Ton.

    Ohne sich von O’Brians martialischem Aussehen beeindrucken zu lassen, steuerte Walker direkt auf ihn zu. Immer wieder hatte ihm sein Vater eingebläut, niemals Angst zu zeigen. Auch wenn man die Hosen voll hatte. Sonst wurde man sehr schnell zum Opfer, auf dem dann alle nur allzu gern herumhackten. Außerdem spielte O’Brian in einer ganz anderen Liga. Dass der Glatzkopf sich mit einem Oberschüler anlegte, war schon ziemlich unwahrscheinlich. Trotzdem versuchte er, ihm hin und wieder einen Arschtritt zu verpassen. Was von Walker wiederum mit einem trotzigen Stinkefinger beantwortet wurde.

    Erst als er ein wenig näher kam, bemerkte er die Leine in O’Brians Händen. Offensichtlich ließ er Churchill, seinen Bullterrier, einfach in Mrs. Bradburys Vorgarten pinkeln. Schon öfter war er deswegen mit der alten Dame aneinandergeraten und betrachtete es wahrscheinlich als Sport, von dort wegzukommen, bevor sie ihn mit dem Nudelholz verfolgen konnte. Zwar war der junge Walker auch nicht unbedingt ein Waisenknabe, doch wie man einer so netten Lady das Leben so schwer machen konnte, war ihm ein Rätsel. Zumal sie die leckersten Scones im ganzen Viertel backte und ihm, als er noch jünger war, auch ab und zu ein paar zugesteckt hatte.

    Aber leider war der Super-GAU bereits eingetreten. O’Brians hässlicher Köter hatte auf dem vereisten Rasen einen Haufen hinterlassen, der einem Bären alle Ehre gemacht hätte. Zu allem Überfluss flog gerade in diesem Moment die Tür auf. Mrs. Bradbury stapfte nudelholzbewaffnet auf den Unhold zu und wollte ihn schon zur Rede stellen, als der sich mit einem dämlichen Grinsen bückte. Völlig ungeniert griff O’Brian in den stinkenden Haufen und verschmierte eine Handvoll der tierischen Exkremente auf ihrer blütenweißen Schürze.

    Vor Schreck ließ Mrs. Bradbury ihre provisorische Waffe fallen. Dann taumelte sie nach hinten und stolperte über ein paar vertrocknete Blumenkübel. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr Gesicht aschfahl und sie blickte hilfesuchend auf Walker. Dabei rasselte ihr Atem wie eine alte Dampfmaschine, während sie mit unkontrollierten Bewegungen die Hundescheiße noch weiter auf ihrer Schürze verteilte.

    Leider war Walker so gelähmt, dass er nur mit offenem Mund zurückstarren konnte. Und selbst O’Brian schien das alles zu viel zu werden. Er zog seinen knurrenden Köter an der Leine von der alten Dame fort und machte sich dann einfach aus dem Staub.

    Zum Glück hatte eine Nachbarin den Vorfall beobachtet. Sie stürmte wild gestikulierend über die Straße und kreischte dabei irgendetwas in ihr Handy. Die nächste Viertelstunde lief dabei für Walker ab wie ein Film, den er als unbeteiligter Zuschauer beobachtete. Heulende Sirenen kamen näher, ein Rettungswagen stoppte mit quietschenden Reifen, eine Trage klapperte und ein Gerät piepte.

    Aber erst als die Sanitäter mit Mrs. Bradbury verschwunden waren, konnte sich Walker aus seiner Erstarrung lösen. Irgendjemand musste dem Arschloch endlich einmal eine Lektion erteilen.

    Und er wusste auch ganz genau, wer das sein würde.

    -3-

    Mit verquollenen Augen starrte O’Brian auf die Schneeflocken, die träge an seinem Fenster vorbeizogen. Wenn sein Hund nicht pinkeln müsste, dann würde er am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben. Vielleicht sollte er aber auch einfach beim nächsten Besäufnis nicht ständig abwechselnd Wodka und Scotch in sich hineinschütten. Oder Mickey, seinen Kumpel, ein bisschen eher hinauswerfen.

    Seinem brummenden Schädel würde das auf jeden Fall guttun.

    Mühsam stemmte er sich nach oben. Churchill, der das wohl als Zeichen auffasste, dass es gleich losging, wedelte aufgeregt mit seinem Stummelschwanz, während sein Herrchen zur Salzsäule erstarrte.

    Irgendjemand hatte doch tatsächlich über die niedrige Mauer, die seinen handtuchgroßen Garten von der Straße trennte, eine Arsenal-Flagge gehängt. Dabei wusste doch jeder im Viertel, dass O’Brian Anhänger der Tottenham Hotspurs, also den Erzrivalen, war. Der Blödmann, der das verbockt hatte, könnte sich auf jeden Fall schon einmal von seinen Schneidezähnen verabschieden.

    Das hieß, wenn er ihn erwischte.

    Aber vielleicht hing der Lebensmüde auch noch da draußen herum und wollte nur seine Reaktion beobachten. O’Brian schlüpfte in seine warme Sweatjacke, griff sich den Baseballschläger, den er für solche Zwecke im Flur deponiert hatte, und öffnete betont langsam die Tür. Natürlich hielt Churchill überhaupt nichts von dieser Taktik seines Herrchens. Er stürmte einfach nach draußen und verschwand mit lautem Gekläffe durch das unverschlossene Gartentor.

    Vorsichtig spähte O’Brian seinem Bullterrier hinterher, doch die Straße war praktisch leergefegt. Nur der Wind blies den Schnee zu kleinen Häufchen zusammen. Vielleicht würde die kalte Luft ja auch bei seinen Kopfschmerzen helfen.

    Doch kaum hatte er einen Fuß vor die Tür gesetzt, da wurde ihm buchstäblich der Boden weggerissen. Die kleine Treppe, die eigentlich durch das Vordach geschützt sein sollte, hatte sich auf wundersame Weise in eine Eisbahn verwandelt. O’Brian vollführte einen lautlosen Stepptanz, bevor er mit dem Hinterkopf auf die letzte Stufe knallte. Die wirbelnden Flocken über ihm verschmolzen zu einem weißen Strudel, der ihn langsam davontrug.

    Eigentlich müsste ihm eiskalt sein, doch O’Brian spürte nichts. Absolut nichts. Auf seinen Augenbrauen hatten sich in der Zwischenzeit kleine Schneewehen gebildet, die mit jeder Minute weiter und weiter wuchsen. Aber er schaffte es einfach nicht, sie wegzuwischen, denn irgendwie schienen ihm seine Arme nicht mehr zu gehorchen. Genauso wenig wie seine Beine. Spätestens jetzt musste selbst dem größten medizinischen Laien klar werden, dass er ein ernsthaftes Problem hatte. Doch der Adrenalinschub blieb aus. O’Brian konnte natürlich nicht wissen, dass durch den kleinen Unfall auch sein Rückenmark verletzt worden war. Und das brachte die sensible Regulation seines Hormonsystems ebenfalls völlig durcheinander.

    Aber offensichtlich hatte er Glück im Unglück, denn direkt vor ihm schälte sich plötzlich ein bekanntes Gesicht aus den wirbelnden Flocken.

    „Hey Jacob, du kleiner Pisser, keuchte er mit einem schiefen Grinsen. „Bitte ruf einen Krankenwagen! Du wirst doch deinen alten Kumpel Zach nicht einfach so hier liegenlassen.

    Nur schien der Junge ihn nicht wirklich zu verstehen. Er beugte sich nach vorn und brachte sein Ohr ganz nah an seinen Mund. Mit Sicherheit hatte der schlaksige Kerl in der Schule einen Erste-Hilfe-Lehrgang besucht und überlegte jetzt, ob er ihm auf der Brust herumhämmern oder in die stabile Seitenlage drehen sollte.

    Doch als Walker ihm stattdessen den Kiefer auseinanderdrückte, begann sein Kopf zu glühen wie eine Kanonenkugel, die in einem Schmelzofen lag. In Sekundenbruchteilen bildeten sich auf seiner Stirn riesige Schweißperlen, die ihm sofort in die Augen rannen. So konnte O’Brian auch nicht sehen, dass der junge Mann mit seiner anderen Hand einen großen Schneeball formte.

    Erst als er die Kälte in seinem Rachen spürte, wurde ihm klar, dass er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte. Seine Lunge kämpfte verzweifelt gegen den eisigen Pfropfen, der immer tiefer und tiefer in seinen Rachen gestopft wurde. Doch sie schaffte es einfach nicht, auch nur ein Quäntchen Luft einzusaugen. Dazu steckte der Schnee einfach schon viel zu tief in seinem Hals. Außerdem wurden die Flocken vor seinen Augen auch immer größer und größer. Bis sie so groß wie sein eigenes Bett waren.

    O’Brian musste sich einfach nur hineinfallen lassen.

    Fasziniert beobachtete Walker den sterbenden Körper. Auch wenn Mrs. Bradbury noch einmal mit dem Leben davongekommen war, würde sie wohl nie wieder ihre leckeren Scones backen. Die Ärzte hatten der alten Dame zwar erfolgreich einen Verschluss an einem Herzkranzgefäß entfernt, aber in ihrem Alter würde es wohl noch eine ganze Weile dauern, bis sie wieder auf die Beine kam.

    Eigenartigerweise empfand Walker für O’Brian gar nichts und er fragte sich schon, ob irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Doch wer Schwächere aus reiner Boshaftigkeit peinigte, der sollte nicht bloß ein paar Sozialstunden aufgebrummt bekommen. Und wer gebrechlichen Rentnern das letzte Ersparte aus der Tasche zog, dem durfte auch nicht nur mit dem Finger gedroht werden. In dieser Beziehung war er ganz bei den Rechtssätzen des Alten Testaments. In dem ging es nämlich vorrangig um Vergeltung und nicht um Schadensausgleich. Schließlich hatten die Geprellten nichts davon, wenn ihr Geld weg und bei dem Täter kein Penny mehr zu holen war.

    Noch sehr genau erinnerte sich Walker an die Illustrationen in der zerfledderten Bibel, die er vor Jahren auf dem Dachboden seiner Eltern gefunden hatte. Auf denen kämpfte das Gute mit Feuer und Schwert gegen das Böse und es sah nicht so aus, als ob die Erzengel dabei Gefangene machten.

    Aus diesem Grund kam ihm damals auch die alte Rattenfalle gerade recht. Mit jagendem Puls versteckte er sie in der Schultasche von Gus, dessen Lieblingsbeschäftigung es war, seinem Klassenkamaden Dylan ein Bein zu stellen. Der schmächtige Junge hatte irgendein Problem mit seinem Fuß und humpelte deshalb ein bisschen.

    Was Gus’ Gemeinheiten umso gemeiner machte.

    Blöderweise konnte Walker es körperlich nicht mit ihm aufnehmen, denn der pfannkuchengesichtige Sitzenbleiber war fast einen Kopf größer als er und boxte seine Widersacher ohne Vorwarnung einfach in den Magen. Doch nachdem ihm die Falle zwei Finger zerquetscht hatte, würde er das wohl für immer bleiben lassen.

    Leider manövrierte man sich mit solchen Aktionen heutzutage sehr schnell ins Abseits. Jedenfalls so lange, bis der nächsten Großmutter das Konto leergeräumt oder ein besonders sensibles Opfer in eine Depression gemobbt wurde.

    Natürlich plante Walker alles stets so, dass er damit durchkam. Wenn der Schnee durch O’Brians Körperwärme geschmolzen war, dann sah es wie ein ganz normaler Unfall aus. Schließlich war der perfekte Mord der, der nicht als solcher erkannt wurde.

    Das pflegte jedenfalls Sherlock Holmes zu seinem Freund Dr. Watson zu sagen.

    -4-

    Seit über einer Stunde hockte Walker nun schon in dem alten Fabrikgelände neben einem kleinen Tümpel und wartete auf das perfekte Licht. Im dichten Gras des Ufers tummelten sich kurz vor Sonnenuntergang immer Libellen und vollführten mit ihren regenbogenfarbenen Flügeln die tollsten Manöver. Er hatte sich inzwischen eine Spiegelreflexkamera zugelegt, mit der er den bunten Reigen festhalten wollte. Normalerweise hingen die meisten seiner Freunde um diese Zeit mit ein paar Bier vor dem Scottish Arms herum und versuchten mit ihren frisierten Mopeds, die Mädchen zu beeindrucken. Aber Walker war durch seine ruhige Art ein bisschen zum Außenseiter geworden. Zumal er auf der Suche nach einem ausgefallenen Motiv am liebsten durch marode Hinterhöfe kroch.

    Oder sich eben neben einem stinkenden Tümpel auf die Lauer legte.

    Allerdings machte ihn das für viele seiner Mitschülerinnen derart interessant, dass er schon wieder irgendwie cool war. Doch er hatte immer nur Augen für Erin. Noch sehr genau erinnerte er sich, wie sie ihm den ersten Blowjob seines Lebens beschert und mädchenhaft gekichert hatte, weil alles buchstäblich daneben ging. Dass sie anschließend seiner Zunge mit ihrem Finger den richtigen Weg weisen musste, fand sie auch überhaupt nicht schlimm.

    Nach einer halben Ewigkeit hatte Walker schließlich seine Bilder im Kasten. Im Gegensatz zu unbewegten Motiven, konnte er bei Tieren die Aufnahmen nicht komponieren, sondern musste auf den richtigen Moment warten. Und das dauerte eben. Doch jetzt konnte er sich endlich auf den Heimweg machen. Vielleicht schaute er auch noch einmal bei Erin vorbei. Wenn er an ihre weiche Lippen dachte, musste er sich schon mächtig zusammenreißen, um sich keinen herunterzuholen. So wie vorhin, an dem kleinen Teich.

    Gerade als Walker sich durch dichtes Gestrüpp zurück zu seinem Moped kämpfte, hörte er Stimmen. Eine klang wie die von einem Bär, der beim Winterschlaf gestört worden war, und die andere gehörte eindeutig einer Frau. Die beiden schienen ernsthafte Probleme zu haben, denn es wurde immer lauter.

    „Wenn du zu blöd zum Ficken bist, dann zeige ich dir nochmal wie es geht", röhrte der Bär.

    Walker war sofort klar, was hier vor sich ging. Hinter vorgehaltener Hand wurde nämlich gemunkelt, dass in den Wohnwagen, die in der alten Industriebrache abgestellt waren, ganz spezielle Dienstleistungen angeboten wurden.

    Die Frauenstimme kreischte in einer Sprache, die Walker nicht kannte, doch sie schien mit dem, was der Bär mit ihr vorhatte, nicht einverstanden zu sein. Und genau deshalb schlich er vorsichtig näher.

    Als Walker bessere Sicht hatte, entpuppte sich der Bär als ein muskelbepackter Schläger. Die andere Stimme gehörte einer zierlichen Asiatin, die von ihm vor sich her geschubst wurde. Direkt auf einen der Wohnwagen zu.

    Instinktiv wollte Walker ihr schon zu Hilfe eilen. Doch auch wenn er knapp fünfzig Liegestütze am Stück und fast doppelt so viele Sit-ups schaffte, konnte er es natürlich nicht mit dem aufgepumpten Typ aufnehmen. Mit Sicherheit hatte der mehr als nur einen gemeinen Trick auf Lager. Wenn er nicht sogar eine Waffe besaß.

    Und die Polizei zu rufen, würde auch nicht viel bringen. Bevor die hier waren, wäre ohnehin alles vorbei. Selbst wenn sie Schlimmeres verhindern könnten, wäre ihnen anschließend die junge Frau keine große Hilfe. Wer gegen solche Leute aussagte, der verschwand meist für immer von der Bildfläche oder wurde irgendwo am Ufer der Themse angeschwemmt.

    Ohnmächtig musste Walker mit ansehen, wie sie der Kerl die letzten Meter zu dem Wohnwagen schleifte und dann förmlich hineinprügelte. Erst als die beiden im Inneren verschwunden waren, traute er sich aus seiner Deckung und huschte im Schutz der einbrechenden Dunkelheit näher.

    Die Geräusche, die zu ihm nach außen drangen, klangen so, als ob eine Herde Rinder über eine Holzbrücke trampelte. Bis sie von einem rhythmischen Quietschen abgelöst wurden. Für Walker gehörte nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen, was der Kerl gerade mit ihr da trieb. Trotzdem spähte er vorsichtig durch das Fenster.

    Abgesehen von einem kleinen Kühlschrank mit aufgesetzten Herdplatten, gab es in dem Raum lediglich ein Bett, eine Couch und den obligatorischen Fernseher. Und natürlich eine Nische, in der sich ein Mini-Badezimmer befand. Der Einrichtung nach war das die Unterkunft des Wachhundes, oder vielleicht auch Zuhälters, der die junge Frau gerade brutal vergewaltigte.

    Er hatte mit seiner Pranke ihre Handgelenke gepackt und drückte sie in die Kissen, während er ihr mit der anderen den Mund zuhielt. Wie ihr zierlicher Unterleib seinen riesigen Schwanz aufnehmen konnte, war Walker ein Rätsel. Selbst einem anatomischen Laien mussten bei diesem Anblick die Haare zu Berge stehen.

    Aber das Schlimmste war, dass sie ihn durch die vergilbten Gardinen hindurch unentwegt anstarrte. Natürlich konnte sie ihn nicht sehen, aber ihm kam es so vor, als würde sie ihm direkt in die Augen blicken.

    Schweißgebadet rutschte Walker nach unten und presste sich seine Hand auf den Mund, um nicht kotzen zu müssen. Zum Glück hatte der Kerl schon nach wenigen Minuten genug, sodass wenigstens das dämliche Gequietsche aufhörte. Und nach ein paar weiteren Minuten stolperte die junge Frau heraus und verschwand schluchzend in der Dunkelheit.

    Wenn Walker gewusst hätte, was er heute mit ansehen müsste, dann hätte er lieber mit seinen Freunden ein paar Bierchen geleert. Aber vielleicht war es auch ein Wink des Schicksals, dass gerade er zu einem heimlichen Zuschauer geworden war. So konnte er nämlich verhindern, dass sich das Ganze wiederholte.

    Und zwar endgültig.

    Doch vorher musste er noch eine Comedy-Show über sich ergehen lassen. Der Muskelprotz hatte für die Stromversorgung wahrscheinlich irgendeine Leitung angezapft und ließ sich jetzt von gehirnerweichenden Sprüchen berieseln. Dass Walker bei seinen Foto-Touren nie sein Smartphone mitnahm, weil er nicht abgelenkt werden wollte, hielt er in diesem Moment für einen weiteren Fingerzeig von oben. Sollte irgendjemand auf die völlig abwegige Idee kommen, die Log-ins dieser Funkzelle zu überprüfen, dann wär er jedenfalls fein raus.

    Trotzdem hätte sich Walker am liebsten selbst geohrfeigt. Vermutlich hätte er die Vergewaltigung verhindern können, indem er einfach nur aufgetaucht wäre und gefragt hätte, was hier los sei. Vielleicht hätte er sich dadurch aber auch eine blutige Nase geholt. Oder

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