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Die Euro-Party ist vorbei: Wer bezahlt die Rechnung?
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eBook661 Seiten8 Stunden

Die Euro-Party ist vorbei: Wer bezahlt die Rechnung?

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Über dieses E-Book

Mehr Europa oder kein Europa?

In der Europäischen Union entscheidet sich das Schicksal von über 500 Millionen Menschen. Die politische und wirtschaftliche Stabilität eines ganzen Kontinents scheint mittlerweile vom Erfolg der Europäischen Währungsunion abzuhängen. Die Identität und das Selbstbewusstsein der Völker Europas sind zwar nicht vornehmlich in Geld auszudrücken. Der Wille zum weiteren friedlichen Aufbau Europas durch Solidarität und Solidität sowie die Sicherung des allgemeinen Wohlstands durch fairen Wettbewerb kann durch den Euro aber dann gestärkt und gefördert werden, wenn die Folgen politischer Fehlentscheidungen beseitigt sind. Der Autor beweist, dass es allerhöchste Zeit ist.
Europa kann und wird scheitern, wenn seine Völker zulassen, dass inkompetente Politiker, Teile von selbsternannten und selbstsüchtigen Eliten, asoziale Wirtschaftsführer und unregulierte Finanzmärkte eine Allianz gegen die vitalen Interessen der Menschen eines ganzen Kontinents bilden.
Wolfgang Hetzer zeigt, dass es höchste Zeit ist, die Folgen von politischen Fehlentscheidungen zu korrigieren. Er identifiziert die Verantwortlichen und beschreibt die Ursachen, die spätestens seit Mai 2010 Europa teilweise bis an den Abgrund geführt hat. Die Zukunft Europas hängt entscheidend davon ab, dass sich hinreichend qualifizierte Persönlichkeiten für die Steigerung des europäischen Gemeinwohls einsetzen. Andernfalls ist der Vertrauensverlust in den Sachverstand der Wirtschaft und die Führungsfähigkeit der Politik nicht mehr auszugleichen. Es wächst dann die Gefahr, dass sich in Europa wieder einmal die Frage der Vorherrschaft nationaler Interessen stellt. Dem darauf regelmäßig folgenden Spektakel der Unvernunft will der Autor mit diesem Buch entgegenwirken.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. März 2014
ISBN9783864895524
Die Euro-Party ist vorbei: Wer bezahlt die Rechnung?

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    Buchvorschau

    Die Euro-Party ist vorbei - Wolfgang Hetzer

    WOLFGANG HETZER

    Die Euro-Party

    ist vorbei

    WER BEZAHLT DIE RECHNUNG?

    WESTEND

    Mehr über unsere Autoren und Bücher:

    www.westendverlag.de

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Publisher

    ISBN 978-3-86489-552-4

    © Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014

    Satz: Publikations Atelier, Dreieich

    Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

    Printed in Germany

    Inhalt

    Vorwort

    1:   Einleitung

    2:   »Anschwellender Bocksgesang«

    Barbaren oder politische Denunzianten? • Schicksalsjahr 2011 • Deutsche Vorherrschaft? • Europäische Trümmerlandschaften • Abdankung des verfassungsmäßigen Gesetzgebers • Suche nach dem Sündenbock • Märkte und Monster • Mühsame Kompromisssuche

    3:   Wackelnde Wiege der Demokratie

    Brüder und Schwestern im Geiste • Volksbetrug und Statistikfälschung • Schluss mit lustig • Verdächtige Investmentbanken • Realität statt Politik • Levantinisches Schlawinertum • Kampfansage an das eigene Volk • Privatisierung des Staates? • Ökonomischer Suizid eines Piratenstaates?

    4:   Grüne Insel in schwarzen Farben

    Keltischer Tiger oder streunende Katze • Erleichterung durch Notpaket der EU

    5:   Europäischer Krisenmechanismus oder Beliebigkeit

    Zeitenwende durch Schuldenschnitt? • Sieger und Verlierer • Augenblick der Wahrheit

    6:   Drohnenflug

    Musterknabe oder Sonderling • Diesseits des Kanals • Noch eine Insel der Sehnsucht • Halbinsel oder Halbwelt • Bedrohung ganzer Generationen • Wo soll die Reise hingehen? • Bedrohliche Demokratie • Arme oder Reiche? • Alternative ohne Alternativen? • Italienische Ausnahmezustände

    7:   Währungsunion in der Existenzkrise

    Keine Neuauflage der bedingungslosen Kapitulation • Schuldengemeinschaft und Transferunion • Rettung verlangt Führung • Wachwechsel • Unbeantwortete Herausforderungen • Aushöhlung des Parlamentarismus

    8:   Mehr Europa oder kein Europa mehr

    Autoritätsverlust und Legitimationsmangel • Jämmerliche Eliten • Politische Impotenz durch Marktlogik

    9:   Voodoo statt Wissenschaft

    Jenseits des Rubikons • Schädliche Mathematik

    10: Vergnügungspark für Neureiche

    Demokratie als Opfer • Selbstzerstörung des Finanzkapitalismus • Vertrauensverlust und Identitätssuche • Zusammenbruch europäischer Werte • Rückkehr der deutschen Frage • Marktkonforme Demokratie • Spaltung in feindselige Lager

    11: Landesverrat oder europäischer Patriotismus

    Dynamit statt Dynamik • Experimenteller Vertragsbruch • Größenwahn und Inkompetenz • Existentielle Bewährungsprobe

    12: Bedingungen solidarischer Hilfe

    Erinnerung an den Ersten Weltkrieg • Kalter Hauch im europäischen Haus • Deutschland als Stabilitätsanker • Kühler Nationalismus • Psychiatrie und Ökonomie • Gelbe Ampel oder rote Karte • Geldwertstabilität durch Enteignung • Kreislauf des Unmuts • Durchwursteln statt kurzen Prozesses • Einzigartigkeit europäischer Kultur

    13: Dreißig Thesen zur Zukunft Europas

    Frieden • Geld • Souveränität

    Abkürzungen

    Anmerkungen

    Literatur

    Vorwort

    In Europa scheint »Krise« sich als Lebensgefühl zu verankern. Dabei geht es nicht nur um die Sicherheit von Sparguthaben und die Stabilität der gemeinschaftlichen Währung. Das Zutrauen in die Verlässlichkeit und Leistungsfähigkeit der Institutionen hat auf nationaler und auf europäischer Ebene drastisch abgenommen. Auf dem ganzen Kontinent wird 100 Jahre nach dem Beginn der europäischen Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs nationalistisch aufgerüstet. Auf den ersten Blick mag diese Referenz unangemessen erscheinen. Zwar kann sich kaum einer heute noch einen Krieg zwischen europäischen Mächten vorstellen. Mittlerweile gibt es aber auch andere Formen der Bedrohung des Friedens. Es käme womöglich einer Mobilmachung der Streitkräfte gleich, wenn man etwa einem Staat wie Griechenland drohte, ihn in die Pleite zu schicken, sollte dessen Regierung den Forderungen europäischer Finanzminister nicht nachkommen.

    Unter Historikern unterschiedlicher Orientierung ist Unbehagen darüber entstanden, dass die Verhältnisse von 1914 dem Europa dieser Tage nicht unähnlich sind. Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 waren Befürchtungen laut geworden, dass sich in dem neuen Parlament die Zahl der politischen Gegner des europäischen Einigungsprozesses erheblich vergrößern könnte.

    Beim Geld scheint nicht nur die Freundschaft aufzuhören. Offensichtlich setzt auch der Verstand aus. Kleinkrämerische Rechnungen und Vorhaltungen bedrohen die Solidarität, die unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) entstanden ist. Das ist gefährlich, weil sie die richtige Konsequenz ist, die aus den verheerenden Konflikten gezogen wurde, die zwischen den Nationalstaaten in Europa über Jahrhunderte stattfanden.

    Die EU ist eine Schicksalsgemeinschaft geworden. Der wechselseitige Verzicht auf Gewaltausübung hat auch deshalb höchste politische Priorität. Die Abwesenheit von Kriegen konventioneller Art garantiert allein aber noch nicht den sozialen Frieden in und zwischen den Staaten des Kontinents. Wirtschaftliche Gegebenheiten (Wettbewerbsfähigkeit, Handelsbilanzunterschiede et cetera) haben zur Verschärfung mancher Interessenunterschiede beigetragen und zu einer Wiederbelebung nationaler Vorurteile und Ressentiments geführt.

    Die Haushalts- und Schuldenpolitik in manchen Staaten hat im Zusammenwirken mit international tätigen Banken in Teilen der europäischen Gemeinschaft katastrophale Folgen nach sich gezogen. Krankhafte Raffgier bestimmter Akteure auf den Finanzmärkten, politische Nachlässigkeiten und hochriskante Geschäftsmodelle haben zu einem staatskapitalistischen Systemversagen beigetragen, das sich nun auch auf das wichtigste Projekt der Nachkriegszeit in Europa auszuwirken beginnt.

    Der Euro ist keineswegs die Wurzel allen Übels, auch wenn die Währungsunion unter politisch bedingten Geburtsfehlern leidet. Am Anfang der gefährlichsten Entwicklung der modernen Wirtschaftsgeschichte standen eine unverantwortliche Deregulierung der Kapitalmärkte sowie eine obszöne staatliche Verschuldungspolitik. Daraus folgte eine Krise der Staatsfinanzen, des Bankensystems, der Währungsunion und schließlich des gesamten europäischen Integrationsprojekts. Dadurch wird das individuelle Schicksal vieler Hunderter Millionen europäischer Bürger berührt, die mit ihren Talenten, ihrer Arbeit und ihrem Fleiß entscheidend dazu beigetragen haben, dass der allergrößte Teil des europäischen Kontinents jetzt endlich in Frieden und Wohlstand lebt und sogar zum Sehnsuchtsort vieler Menschen auf der ganzen Welt geworden ist. Diese Lebensleistung ist bedroht, wenn es nicht gelingt, den evident sozialschädlichen Auswüchsen der Deregulierung der Finanzmärkte, der Inkompetenz mancher politischer Machtcliquen und der kriminellen Energie von Bankmanagern ein Ende zu bereiten. Es ist höchste Zeit, Ross und Reiter zu nennen, also Verantwortliche zu identifizieren und die Ursachen zu beschreiben, die spätestens seit Mai 2010 eine Entwicklung in Gang setzten, die Europa an den Abgrund geführt hat. Dabei ist auch die Frage zu erörtern, was die wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen getan beziehungsweise nicht getan haben und was sie tun müssten, um noch rechtzeitig umzukehren und eine Richtung einzuschlagen, die zu einer solidarischen und soliden Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses führt. Es geht für alle europäischen Bevölkerungen insoweit um Heimatschutz im besten Sinne des Wortes.

    Seit vielen Jahrzehnten sind sich die meisten Staatenlenker, Wissenschaftler, Künstler und Gelehrten einig, dass nur eine engere Bindung aller Staaten in Europa zu einem übergeordneten Gebilde wirt schaftliche Schwierigkeiten lindern, die Kriegsmöglichkeiten und auch die Besorgnisse vor einem Krieg beseitigen kann, die ihrerseits wiederum zu den Ursachen der wirtschaftlichen Krise zählen. Daher hatte auch schon Stefan Zweig Mitte der 1930er Jahre über unsere eigentliche Aufgabe nachgedacht, unsere Gedanken aus der unfruchtbaren Sphäre der Diskussion in jene schöpferische der Tat umzustellen. Seinerzeit war der Gedanke der europäischen Einigung aber noch nicht wurzelhaft in das »Erdreich der Völker« eingedrungen. Auch in der Gegenwart drängt sich immer noch der Eindruck auf, dass der europäische Gedanke nicht wie das »vaterländische« Gefühl von primärer Bedeutung ist. Er ist nicht das urtümliche Produkt des Instinkts oder einer spontanen Leidenschaft, sondern einer Erkenntnis, gewissermaßen die langsam aufgeblühte Frucht eines überlegenen Denkens, wie Zweig es empfand.

    Dennoch (oder deshalb) dürfte dem »Durchschnittsmenschen« der leidenschaftliche Instinkt des Vaterlandsgefühls nach wie vor zugänglicher sein als das altruistisch-europäische Empfinden. Es ist immer leichter, das Eigene anzuerkennen, als mit Ehrfurcht und Hingabe das Nachbarliche zu verstehen. Daran wird sich weiterhin vieles nicht ändern, weil mit Büchern und Broschüren, mit Konferenzen und Diskussionen nur ein minimaler Teil der europäischen Gesamtheit erreicht wird, verhängnisvollerweise zumeist gerade jener der schon vorher Überzeugten. Zweig sprach sich daher schon vor vielen Jahren für die Nutzung neuer technischer und visueller Formen der »Agitation« aus, um den europäischen Gedanken aus der esoterischen Sphäre der geistigen Diskussion herauszuführen und ihm »wirkliche Wirkung« zu verleihen. Dies verlangt die »optische« Verdeutlichung entsprechender Inhalte für die »Massen«. Zweig war der Überzeugung, dass die Masse ihre Gemeinsamkeit am glückhaftesten empfindet, wo sie sich als Masse sichtbar und anschaulich spürt. Gelingt es nicht, von unten her in den »Bluttiefen« der Völker eine solche Leidenschaft für den europäischen Gedanken hervorzurufen, so wäre nach dem Urteil von Zweig jede Formulierung vergeblich, da Wandel in der Geschichte niemals aus der bloßen Überlegung geschaffen worden sei. Die europäische Idee müsste also aus dem Zustand der Ideologie in jenen der Organisation und Agitation überführt werden und statt des bloß logischen einen demonstrativen Charakter erhalten.

    Für Zweig lag die Tragik des europäischen Gedankens darin, dass er »naturgemäß« kein in sich gegründetes und stabiles Zentrum hat. Heute könnte man darüber diskutieren, ob Brüssel daran etwas geändert hat. Zweig hielt zu seinen Lebzeiten die »neue Manie«, als Missionar des Geistes durch Europa zu reisen, für eine ansteckende Krankheit, bei der das Publikum überall mit der gleichen stumpfsinnigen und ungetreuen Neugier zuschaut. Offensichtlich galt die Aufmerksamkeit Zweigs nicht den realpolitischen Strategien von staatlichen Repräsentanten, den national gelenkten Strukturen und politischen Organisationen. Er konzentrierte sich auf die geistigen und künstlerischen Hervorbringungen der europäischen Länder in ihrer jeweiligen Geschichte, ein Erbe, das er als Vermittlungsenergie für eine neue übernationale Friedensordnung in Europa ins Spiel zu bringen versuchte. Dabei blieb er trotz seiner großen publizistischen Erfolge immer Einzelgänger. Ihm war allerdings schon 1923 klar, dass es in den folgenden 50 bis 100 Jahren die Einigung Europas (»Vereinigte Staaten von Europa«) nur mit Hilfe einer Europa-Begeisterung der Massen geben könnte. Sein Eintreten für das europäische Kulturerbe war auf das Trauma des Ersten Weltkriegs zurückzuführen, der auch als tragisches Leitmotiv über seinem Spätwerk steht. In Überlegungen zur »moralischen Entgiftung Europas« machte sich Zweig im Jahre 1932 Gedanken darüber, wie man eine neue Generation von Europäern erziehen könnte, die nicht nur eine emotionale Bindung an das eigene Vaterland (natürlich auch Mutterland) und an das Nationale haben, sondern auch Europa als Heimat empfinden und sich dessen Werten verpflichtet fühlen.

    Chancen sah Zweig in der gleichzeitigen und richtigen »Belehrung« der neuen Jugend Europas. Geschichte sollte nicht mehr als Nationalgeschichte, als Historie von Selbstbehauptung, Krieg und Eroberung, von der Rivalität der Völker und von Schuldzuweisungen und als Abfolge militärischer Leistungen erzählt werden. Zweig plädierte für eine europäische Kulturgeschichte. Nur so könnten alle Völker gleichberechtigt betrachtet werden. Auch manche heutigen Zeitgenossen und -genossinnen beklagen den Mangel an Bearbeitung europäischer Kriegstraumata. Sie erwähnen griechische, talmudische und christliche Denkschulen als geistige Basis Europas. Zumindest für eine Beobachterin ist es an der Zeit, ein kraftvolleres und stolzeres europäisches Bewusstsein entstehen zu lassen.¹

    Dieses Buch dürfte zwar keine massenhafte Begeisterung für die Sache Europas in den von Stefan Zweig imaginierten Dimensionen auslösen. Es enthält aber das bislang fehlende Angebot einer Aufklärung eigener Art, indem es einen kritischen Rückblick mit einer strategischen Vorschau jenseits der Formeln politischer Korrektheit verknüpft. Damit sind Chancen und Risiken verbunden, die sich im Laufe der Geschichte mehr oder weniger ähnelten. Hält man Machthabern den Spiegel vor und gefällt ihnen nicht, was sie sehen, so ist die Zertrümmerung des Spiegels eine traditionsreiche Reaktion. Heutzutage können und müssen sich die europäischen Völker auch immer wieder im Nachbarn gespiegelt sehen. Manche reagieren darauf aggressiv, andere lernen daraus und suchen nach Veränderungen, bis sie sich selbst gefallen, ohne selbstgefällig zu sein.

    In den hier vorgelegten Analysen spiegelt sich natürlich nicht das Gesicht eines ganzen Kontinents. Sie zeigen und begründen aber, warum man das Schicksal Europas nicht Politikern und Bürokratien allein überlassen darf. Europa ist keine »Cosa Nostra« im Sinne einer Mafia-Organisation. Es ist unsere Sache, weil alle Angehörigen der europäischen Bevölkerungen mit all ihren individuellen Vorstellungen von Glück und all ihren Plänen für ein gutes Leben davon abhängen, dass der europäische Einigungsprozess fortgesetzt wird. Dafür lohnen auch die Arbeit an einem Buch und die Teilnahme an Konferenzen und Diskussionen, auch wenn dies von feigen Mitbürgern, inkompetenten Politikern, asozialen Bankmanagern und missgünstigen Vorgesetzten bekämpft wird.

    Mit dem trotz alledem vorgelegten Werk, für das ursprünglich der Titel »Finanzkollaps« vorgesehen war, ist eine Trilogie abgeschlossen, deren erste Teile die Bücher Finanzmafia (2011) und Finanzkrieg (2013) sind. In Rechtsstaaten ist die Veröffentlichung von Buchmanuskripten als Grundrechtsbetätigung (Meinungsäußerungsfreiheit) zwar zulässig. In der Europäischen Kommission steht die Ausübung von Grundfreiheiten für Bedienstete aber unter Vorbehalten. Das Erscheinen des Buches »Finanzkrieg«, das sich mit den durch die Finanzkrise ausgelösten Angriffen auf den sozialen Frieden in Europa beschäftigt, hat eine Untersuchung der Europäischen Kommission ausgelöst. Sie soll klären, ob die Publikation des entsprechenden Manuskripts ein disziplinarrechtlich zu bestrafender Vorgang ist. Bei der Erörterung der dadurch aufgezwungenen Rechtsfragen haben Justizrat Rechtsanwalt Professor Dr. Egon Müller, Saarbrücken, und Professor Dr. Dr. h. c. mult. Hans-Heiner Kühne, Universität Trier, wertvolle sachverständige Unterstützung geleistet. Das jetzt vorliegende Buch ist ihnen gewidmet.

    Die Veröffentlichung der in dem Werk enthaltenen Gedanken und Hinweise, die alle öffentlichen Quellen entnommen sind, war schließlich doch nicht mehr zu verhindern. Es gibt in der europäischen Wertegemeinschaft auch kein rechtswirksames Leseverbot. Diese Umstände werden es hoffentlich ermöglichen, dass die dringend notwendige kritische und konstruktive Debatte über die Zukunft der Heimat von 500 Millionen Menschen mit mehr Sachlichkeit und Leidenschaft geführt wird. Die Europäische Kommission wird durch die in dem Werk geäußerten ausschließlich persönlichen Auffassungen in keiner Weise verpflichtet. Persönlich motivierte Widerstände aus dem ehemaligen beruflichen Umfeld führten dennoch immer wieder zu schwierigen Situationen. Das Buch hätte deshalb nicht ohne die beständigen Hilfeleistungen meiner geduldigen Frau Susanne, meiner unerschütterlichen Lektorin Beate Koglin und des fürsorglichen Markus Karsten vom Westend Verlag entstehen können. Ich bedanke mich für die Solidarität, die mir von ihnen entgegengebracht wurde.

    Wolfgang Hetzer

    Februar 2014

    1: Einleitung

    »Kommt die D-Mark, bleiben wir,

    kommt sie nicht, gehen wir zu ihr!«

    Dieser Satz enthält zwar nicht das Leitmotiv für den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Im Vorfeld der »Wiedervereinigung« wurde er aber auf zahllosen Demonstrationen vor einem Vierteljahrhundert immer wieder lautstark gerufen. Das »Objekt der Begierde« gibt es inzwischen nicht mehr. Nach etwa einem Jahrzehnt in der Europäischen Währungsunion fordert eine Partei, die sich als »Alternative für Deutschland« (AfD) versteht, deren »geordnete Auflösung«. Die Rückkehr zur D-Mark darf aus ihrer Sicht kein Tabu sein. Es soll zunächst offenbleiben, ob es sich dabei um pure Nostalgie handelt. Im Dickicht einer »Rettungspolitik«, die immer weniger verständlich zu sein scheint, wird die Erinnerung an die »guten alten Zeiten« bei immer mehr Menschen stärker und stärker. Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass Deutschland im schlimmsten (?) Fall mit (mindestens?) 310 Milliarden Euro haftet, auch wenn es sich dabei gegenwärtig (noch) in erster Linie um Bürgschaften und nicht um konkrete Zahlungsverpflichtungen handelt.¹

    Dennoch führen diejenigen, die für ein Ende des Euro plädieren, vor allem ökonomische Gründe an. Sie verdrängen aber, dass es bei der Währungsunion um mehr als um »schnöden Mammon« geht. Die Lage ist knapp zu beschreiben: »Die Euro-Krise ist nicht nur eine Krise der Staatsfinanzen einzelner Mitgliedsländer, sondern auch ein Krise der Währungsunion und des gesamten europäischen Integrationsprojekts.«²

    Der Euro galt von Anfang an auch als »Friedensprojekt«, als wichtiger Baustein für den Bau des »Hauses Europa«, dessen Entfernung den Zusammenbruch der ganzen Konstruktion bewirken könnte. Am Ende könnten politische Verwerfungen und nationale Ressentiments stehen. Sie könnten noch schlimmer werden, als die Verunglimpfungen der deutschen Bundeskanzlerin mit Hakenkreuz und Hitlerbärtchen auf den Straßen von Athen ohnehin schon nahelegen. Ein deutscher »Sonderweg« scheint allerdings nicht mehr für alle eine Schreckensvision zu sein: Deutschland könnte den Euro-Raum verlassen oder auf der Auflösung der Währungsunion bestehen.

    Und dann?

    Es ist sehr fraglich, ob es den Deutschen dann besser gehen würde. Der Euro ist ungeachtet der lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zwar immer noch eine »Hartwährung«. Insgesamt vergaben die Notenbanken seit Beginn der »Euro-Krise« billige Kredite in Billionenhöhe an die Finanzmärkte, um Banken und Staaten zu retten. Es wird aber kaum darüber debattiert, wie dieses Geld entsteht und wem es am Ende wirklich nützt.³ Immerhin wird behauptet, dass letztlich die EZB selbst an der Euro-Krise schuld sei. Sie hätte den Krisenländern nur rechtzeitig den Kredithahn zudrehen müssen – was sie jederzeit hätte tun können! –, und die Schuldenkrise wäre nie entstanden.⁴

    Eines steht immerhin fest: Zu den angeblich so glorreichen D-Mark-Zeiten gab es wesentlich stärkere Ausschläge der Inflationsraten. Die einschlägigen Statistiken können das gegenteilige dumpfe Gefühl trotzdem nicht beseitigen. Im Hinblick auf den Außenwert einer (zukünftigen?) D-Mark gibt es aber auch mulmig stimmende Einschätzungen. Eine eigenständige »neu-alte« deutsche Währung müsste gegenüber den meisten anderen Währungen massiv aufwerten, nach verbreiteten Schätzungen zwischen 10 bis 30 oder gar bis zu 50 Prozent. Deutschland würde als »sicherer Hafen« viel Geld aus dem Ausland anziehen. Investitionen auf dem Immobilienmarkt würden vor allem in großen Städten zu drastischen Preiserhöhungen führen. Die Preise für die Güter der deutschen Exportindustrie würden stark anziehen. Das Wachstum würde sich dementsprechend verringern. Der Wohlstandsverlust könnte sich innerhalb der folgenden zwölf Jahre auf 1,2 Billionen Euro summieren.

    Der historisch notwendige Prozess fortgesetzter europäischer Integration darf indessen nicht durch (klein-)krämerische Folgenabschätzungen behindert werden. Gleichwohl sollte man nicht vergessen, dass zum Zeitpunkt der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) eine »Supranationalität« nicht zur Debatte stand. Seinerzeit entstand vielmehr eine Vertragsgemeinschaft souveräner Staaten. Ihr Ziel war nicht die Überwindung der beteiligten Nationalstaaten.⁶ Es ging um deren Überlebensfähigkeit. Das hat die Bannerträger der europäischen Integration nie daran gehindert, die Karte des funktionalen und »subversiven« Föderalismus zu spielen, um das Ziel einer gesamteuropäischen Souveränität zu erreichen. Im Rahmen einer entsprechenden »Salamitaktik« strebten sie nach wirtschaftlicher Modernisierung auf dem Weg zu einem politischen Einheitsstaat. Dabei geriet das Vertrauen in die Zwangsläufigkeit wirtschaftlichtechnokratischer Integrationsprozesse zur »politischen Lebenslüge« der Gemeinschaft. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Vorstellungswelt der europäischen Politik. Dies gilt in hohem Maße auch für die Europäische Währungsunion (EWU).⁷

    Der Stoßseufzer, welch ein glücklicher Umstand doch die Existenz des Euro sei und dass insbesondere Deutschland von der Einführung der gemeinsamen Währung profitiere, ist gleichwohl nicht mehr so oft und so laut zu hören. Die Mehrheit aller Deutschen hat inzwischen andere Empfindungen. Das Misstrauen nimmt zu. Nationale Ressentiments greifen um sich. Man entdeckt (wieder einmal ganz überraschend), dass Europa ein sehr heterogenes Gebilde ist. Gleichwohl ist Deutschland Mitglied der Währungsunion geworden. Seinen Bürgern wurde ein simples Versprechen gegeben. Schon zuvor hatte man ihnen versichert, dass es ihnen gemeinsam mit anderen europäischen Völkern besser gehen werde. Jenseits der politischen Gebetsgesänge über Wertegemeinschaften ist es nach wie vor die Aussicht auf Wohlstand, die Europa zusammenbindet. Die meisten Europäer sind in dem Maße europäisch, in dem sie über gemeinsames Geld verfügen und auf mehr davon hoffen können.

    Dennoch: Man sieht Europa »im Aufruhr«. Überall stellt sich die Frage, ob der Euro – und vor allem die Europäische Union (EU) – die Krise überleben wird. Inzwischen sind viele davon überzeugt, dass der gesamte europäische Vereinigungsprozess ein Fehler war oder dass er mit der Währungsunion zu weit gegangen ist.⁸ Eines kommt hinzu: Die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, dass der unregulierte Kapitalismus sich selbst der schlimmste Feind ist.⁹ Früher oder später wird er Opfer seiner Exzesse werden und den Staat (weiter) um Hilfe bitten. Sollten wir nach dieser Krise zum Alltag zurückkehren und so weitermachen wie bisher, werden wir uns auf größere Katastrophen gefasst machen müssen.¹⁰ Anders als die deutsche Bundeskanzlerin behauptet, gibt es immer eine Alternative. Die Suche nach ihr gehört zum Wesen demokratischer Politik. Die These von der »Alternativlosigkeit« ist entweder ein Angstreflex oder ein Versagen des analytischen Verstandes, vielleicht beides.¹¹

    Es gibt sogar eine grundsätzliche Alternative zur derzeitigen politischen Praxis: »Selbstermächtigung der Bürger«.¹²

    Wie dem auch sei: Deutschland hatte immer ein ambivalentes Verhältnis zur »Geldgemeinschaft Europa«. Das ist angesichts bestimmter Einstellungen im Kreis der »Währungsfreunde« auch nicht verwunderlich. Die damalige französische Finanzministerin, Christine Lagarde, identifizierte im ersten Quartal 2010 die »Export-Supermacht Deutschland« als Grund für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten vieler Länder. Die Euro-Skeptiker des Vereinigten Königreichs sahen den Euro sogar schon vor mehr als zehn Jahren als Teil einer deutschen »Unterjochungsstrategie«. Das liegt möglicherweise daran, dass sie die Perspektive von Dünkirchen bis heute nicht vergessen haben. Auch die antideutschen Ressentiments des griechischen Frühlings 2010 reflektieren ein in Europa weitverbreitetes Unwohlsein. Nicht nur deshalb wird plötzlich klar, wie sehr das Ideal einer politischen Einheit mit einer Wohlstandsgarantie verknüpft ist. Europa scheint sich als »Union für gute Zeiten« zu entpuppen. Für schlechte Zeiten scheint der Kitt zu fehlen, den nur die gemeinsame Politik solidarischer Nationen liefern könnte. Eine Währungspolitik kann ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, ohne Konsens bei Steuern¹³, Renten und Sozialausgaben nicht funktionieren. Genau dieser Selbstbetrug ist jetzt aufgeflogen, da die Spekulanten und Devisenhändler die Schwächen der europäischen Ordnung erkannt und angegriffen haben.

    Das Euro-System ist offensichtlich ein lohnendes Angriffsziel. Es vereint zu viele unterschiedliche Volkswirtschaften und zu viel nationalen Eigensinn. Die damit einhergehenden Probleme sind nicht zu lösen, indem man die Geldhändler aus den heiligen Hallen des Tempels Europa hinausjagt. Diese Spezies spielt nur eine Nebenrolle. Die Hauptrolle kommt der deutschen Politik zu. Entweder die Deutschen verstehen, dass sie als stärkstes Mitglied der EU auch ökonomisch die Hauptlast einer sehr viel weitergehenden politischen Annäherung werden tragen müssen, oder die europäische Gemeinschaft wird zusammenbrechen.¹⁴

    Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Spätestens zu Beginn des Jahres 2010 kehrte der irrationale Überschwang zurück. Mit spekula tiver Manie wurde ein Schuldenberg angehäuft, dessen Höhe mittlerweile in babylonische Dimensionen angewachsen ist. Mit der zunehmenden Vergesellschaftung von Schulden, der Fluktuation des Kapitals und der konsequenten Deregulierung ist ein System entstanden, das Schulden verlagert und in die Höhe treibt, statt sie zu tilgen. Die als hochriskant bewerteten Anleihen stellen eine subtile Form von Versklavung dar und drohen, wenn sie angehäuft werden, überschuldete Wirtschaftsakteure zu ersticken. Der Finanzkapitalismus hat eine schändliche Verschuldung erzeugt. Sie ist zu einem Instrument von sozialer Kontrolle und zu einer Quelle unverschämter Ungleichheiten und Herrschaftsformen geworden, die die alten Demokratien der Europäischen Gemeinschaften (EG) und der USA in die Knie zwingen.¹⁵

    In den westlichen Industrieländern wird mittlerweile behauptet, dass Staaten wegen der Macht des Finanzkapitals, der Finanzmärkte oder der Banken die Einkommen der Reichen nicht mehr beschränken, die Einkommen der Armen nicht mehr stützen und keine Umverteilung mehr durchsetzen könnten. Wegen der Mobilität des Kapitals gebe es keine Möglichkeiten mehr für eine eigene Geldpolitik, mit der durch eine Erhöhung der Geldmenge die Wirtschaft über niedrige Zinsen angeregt werden könnte. Bei niedrigen Zinsen wandere das Kapital ins Ausland ab und trage nicht zur billigen Finanzierung von Investitionen bei. National begrenzte Gesellschaften müssten sich dem Diktat der hohen Profitraten beugen, weil auf den Finanzmärkten durch spekulative Wertsteigerungen mehr zu verdienen sei. Eine solche Sichtweise gilt manchen jedoch als »vorkapitalistisch«, weil hier Geld nicht als Forderungsrecht begriffen werde, sondern wie Warengeld (Gold) einen Wert unabhängig von den gesellschaftlichen und ökonomischen Beziehungen habe.¹⁶

    Wie auch immer: Die Akkumulation von Kapital steht in keinem Zusammenhang mehr mit Güterproduktion. »Leistung« und »Verdienst« sind funktionslos geworden. Der Urgrund, die Quelle des Reichtums, ist fast ausschließlich Spekulation. Die Zukunft eines ganzen Kontinents ist zum Gegenstand von Wetten geworden. Viele Regierungen haben nach wie vor aus der Einsicht, dass die Finanzindustrie in den vergangenen 40 Jahren Kredite aus dem Nichts geschaffen und so Spekulationen ermöglicht, aber nichts Substantielles finanziert hat, nicht alle notwendigen Konsequenzen gezogen. Man scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass der verbreitete (Schein-)Wohlstand nur eine eitle und (selbst-)betrügerische Illusion ist. An einer Senkung des allgemeinen Lebensstandards führt kein Weg vorbei. Die Offenbarung des Unvermeidlichen ist für Politiker aber der absolute Horror. Sie glauben, den Wählern derartige Zumutungen ersparen zu müssen, und opfern die Wahrheit auf den Altären der Wahllokale. Tatsächlich verlängern sie auf diese Weise bestehende Allianzen mit Teilen der Wirtschaft und des Finanzsektors, welche teilweise die Traditionen der organisierten Kriminalität pflegen, allerdings wesentlich effizienter und lukrativer.¹⁷

    Sollte diese Entwicklung weitergehen, wird man sich auf halbem Wege treffen. Nicht zuletzt deshalb wird es Zeit, sich daran zu erinnern, dass sich Demokratie nicht auf offizielle Wahlen reduzieren lässt. Sie ist eine permanente Aufforderung zum Engagement in vielfältigen Formen. Deshalb ist nicht nur wegen der anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament des Jahres 2014 daran zu erinnern, in welcher Weise sich das wichtigste Friedensprojekt der neueren Geschichte in der jüngeren Vergangenheit insbesondere auf dem Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik entwickelte und welche Zukunftschancen Europa als Kontinent und politische Gemeinschaft hat.¹⁸ Dabei geht es auch um die Glaubwürdigkeit einer Politik, von der das Schicksal von 500 Millionen Menschen abhängt.

    In Europa war Mitte des Jahres 2013 eine Klarheit entstanden, die auch schon zuvor für jedermann zugänglich war. Der Präsident des Europäischen Parlaments (EP), Martin Schulz, erklärte wahrheitsgemäß, dass er nicht der europäische Willy Brandt sei. Nach der Auffassung von Ulrich Beck, einem der bekanntesten deutschen Soziologen, brauchen wir jedoch solch eine Figur. Er ist davon überzeugt, dass Brandt eine neue Form der Politik erfunden hatte, die wir in der heutigen Krise wiederbeleben müssten. Die damalige »Ostpolitik« steht für ihn offensichtlich in einem Gegensatz zu dem heutigen »Merkiavelli-Modell«¹⁹ deutscher Politik, das sich nicht am europäischen Gemeinwohl, sondern an der Maxime innenpolitischer Wählbarkeit orientiert. Brandt hingegen habe das nationale Interesse kosmopolitisch geöffnet und umdefiniert, während Merkels Europapolitik Deutschland in die Isolation getrieben und das Gespenst eines deutschen Europa geweckt habe.²⁰ Schulz sieht eine Parallele zum Jahr 1972, als die Brandt’sche Ostpolitik entgegen der veröffentlichten Meinung enorme Zustimmung erhielt. Heute sind nach seinem Eindruck die Gegner des europäischen Integrationsgedankens so hoch mobilisiert, dass sie in den Regierungszentralen zentrifugale Kräfte auslösen.

    Ein anderer Zeitgenosse ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es für das Versagen der Regierung Merkel und für die Dringlichkeit eines Politikwechsels kein besseres Beispiel gibt als die Krise des Euro.²¹ Allerdings gilt manchen die Euro-Krise als »faktisch unheilbar«, weil sich die verschiedenen Akteure wechselseitig blockieren.²² Vielen dürfte mittlerweile klargeworden sein, dass die Euro-Zone mit Schönheitsoperationen nicht gesunden kann, sondern in einer strukturellen und existentiellen Krise steckt.²³ Sie ist vielleicht auch die unvermeidliche Folge der Entstehung einer Währung, die als »Geburt mit Kaiserschnitt« beschrieben wird. In deren Verlauf hatte der damalige sozialdemokratische Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel, im Frühjahr 2000 so aufs Tempo gedrückt, als würde er dafür von Griechenland bezahlt. Mit dem Beitritt dieses Landes zur Europäischen Währungsunion begann womöglich eine der für Deutschland teuersten Wirtschaftskatastrophen der Nachkriegszeit.²⁴ Manch ein Kritiker will beobachtet haben, dass immer mehr Bürger die Lügen der Politiker jetzt schlicht satt haben.²⁵ Politiker und Wirtschaftsführer gelten angeblich nur noch als »Lumpen und Gesindel«. Diese »Stammtisch-Sichtweise« wird sich verstärken, wenn immer mehr Arbeitnehmer im Zuge der Euro-Krise von gut verdienenden Managern entlassen werden sollten.²⁶

    Im Vorfeld der Bundestagswahlen 2013 erklärte Ulrich Beck, dass diese Wahlen über die Zukunft Europas entscheiden würden. Nach seinem Empfinden erleben wir die »Sterblichkeit Europas«. Das habe paradoxerweise den Traum von einem »neuen Europa« geweckt. Beck sieht innerhalb der Euro-Zone eine neue Dynamik transnationaler sozialer Ungleichheit, die eine Spaltung zwischen Kreditgeberländern und Kreditnehmerländern ausgelöst und die die Lebenslage innerhalb und zwischen ganzen Ländern durcheinandergewirbelt habe. In der Folge dieser »Machtverschiebungen« sei Deutschland zu einem »Imperium aus Versehen« geworden. Der zentrale Machthebel Merkels liege in der Bindung der deutschen Bereitschaft zur Kreditvergabe an die Bereitschaft der Schuldenländer zur Erfüllung der Konditionen deutscher Stabilitätspolitik. Auch Martin Schulz bezeichnete seinerzeit die Bundestagswahl 2013 als entscheidend für Europa. Er fand sich in einem »Frankenstein-Europa« wieder. Dort sei der auf nationalstaatlicher Ebene seit Jahrzehnten geübte Souveränitätsverzicht nicht mit einer Transnationalisierung des Gewaltenteilungsprinzips einhergegangen.²⁷ Sollte es den europäischen Gemeinschaftsinstitutionen, in denen alle auf Augenhöhe einen fairen Kompromiss schließen, nicht erlaubt sein, ihre Arbeit zu machen, würden wir Europa in eine gefährliche Lage führen.

    Ulrich Beck plädierte unterdessen dafür, dass »Merkiavelli« wieder einmal eine »ballettreife« Wende aus der Sparpolitik hinlegen möge, um eine »Kernschmelze« in der Europapolitik zu vermeiden, zumal die Krise noch lange nicht vorbei sei. Sie spitze sich nicht nur ökonomisch, sondern vor allem politisch zu. Auch Martin Schulz nahm ein »Unbehagen« gegenüber Deutschland wahr, das es in den letzten Jahrzehnten so nicht gegeben habe. Für viele Leute sei die deutsche Stärke beängstigend. Man sehe sich mit einer »deutschen Großmachtpolitik« konfrontiert. Schulz selbst gab sich »zutiefst empört«, dass Deutschland den Krisenländern auf europäischer Ebene das verweigerte, was die Deutschen in der Krise selbst getan hätten, nämlich Krisenbewältigung durch Ausweitung öffentlicher Investitionen. Merkel betreibe zwar keine Großmachtpolitik. Ihre Inhalte führten aber zu einer »deutschen Suprematie ökonomischer Art«, die eben als »Großmachtpolitik« wahrgenommen werde.

    Auf die Frage nach einer »Leerstelle für europäisches Charisma« fällt Schulz ein, dass es ein »breites Bedürfnis« dafür gibt. Deshalb sei bei der nächsten Europawahl 2014 auch eine weitere wichtige Frage klärungsbedürftig. In der Wahrnehmung von Schulz, der bereits 2013 – nicht ohne eigenes Zutun – in der Öffentlichkeit als möglicher Nachfolger des Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso gehandelt wurde, geht es dabei um die »Konfrontation« mit denjenigen, die Europa zurückdrängen wollen, also den Euroskeptikern oder Antieuropäern, von denen man im Wahlkampf noch hören werde. Er hält es für einen »qualitativen politischen Sprung«, wenn es gelingen sollte, die unterschiedlichen Modelle für Europa zur Wahl zu stellen, indem mehrere Kandidaten für die höchste europäische Exekutivfunktion, das Amt des Kommissionspräsidenten, antreten und für ihr Modell werben. Dabei sei vielleicht eine »Emotionalisierung« erforderlich, um zu verhindern, dass eine Zerlegung in europäische Kleinstaaten stattfindet. Schulz behauptet, dass die »Renaissance Europas« nicht aus den Nationalstaaten kommen werde.²⁸ Er hält das sogar für »unlogisch«. Im 21. Jahrhundert werde der globale ökonomische Wettbewerb auch eine Transnationalisierung der Strukturen nach sich ziehen. Deshalb müsse Europa »additiv« zur nationalen Identität hinzukommen. Die Alternative lautet für ihn: wertegeleitete Gemein schaft von Staaten oder rein ökonomisch geleitete Staatengemeinschaft?

    Beck setzt diesem Politpathos die nüchterne Feststellung entgegen, dass wir in einem »Europa ohne Europäer« leben. Die Zimmer des abstrakten Hauses der europäischen Institutionen seien menschenleer. Setzt man die Defizite der europäischen Demokratie mit der Frage gleich, wie die nationalen Parlamente sich zum Europäischen Parlament verhalten oder wie sich das Bundesverfassungsgericht zum Europäischen Gerichtshof verhält, wird nach der Auffassung von Beck die »Schlüsselfrage« ausgeklammert: »Wie werden nationale Bürger handlungssouveräne Europäer?«

    Martin Schulz erklärt demgegenüber, die Abwendung von der Idee Europas sei nicht so dramatisch, wie von Beck dargestellt. Für andere ist diese Frage vielleicht nicht so interessant, wenn man davon ausginge, dass Europa keine gemeinsame Idee hat, sie auch nicht haben kann und sie auch nicht notwendig ist.²⁹ Die Abwendung von der EU empfand Schulz jedenfalls als »sehr dramatisch«. Die Menschen wendeten sich von ihr ab, weil deren Politik soziale Ungleichheiten vertiefe. Bei der Europawahl 2014 entscheide sich, ob eine Renaissance eines glaubwürdig gemeinschaftsorientierten Europas gelingt. Bleibt neuer Schub aus, könnte es ein Auseinanderdriften geben. Die Wahl eines Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament könnte zwar ein »europäisches Momentum« freisetzen.³⁰ Solch ein Projekt bedarf aber der Vorbereitung.

    Zum Beginn des Jahres 2013 bescheinigte Schulz³¹ den Briten angesichts ihrer Europapolitik ein »geradezu selbstsüchtiges« Verhalten. Das Vereinigte Königreich profitiere zwar stark vom Binnenmarkt, sei aber nicht bereit, den politischen Preis dafür zu bezahlen. Es halte sich schon jetzt aus vielen Bereichen in der EU heraus, dem Euro, Schengen und Teilen der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit. Gleichwohl habe Großbritannien ein schwaches Wachstum und eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Briten würden nach der Einschätzung von Schulz ohne die EU eine deutlich schwächere Rolle spielen. Deutschland ist für ihn dagegen der »stabile Anker«, an dem die EU hänge. Seine Mitwirkung an der Bewältigung der Schuldenkrise diene dem nationalen Interesse, weil es am meisten von einer stabilen Euro-Zone profitiere. Das hielt Schulz nicht davon ab, die im Februar 2013 erreichte Einigung der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten als ein »unglaubliches Täuschungsmanöver« zu bezeichnen. Dabei ging es um den EU-Finanzrahmen 2014 bis 2020, der auf 960 Milliarden Euro begrenzt werden sollte. Bei Berücksichtigung von Schattenhaushalten liegt danach die Obergrenze für die Ausgaben bei einer Billion Euro.

    Schulz behauptete seinerzeit, dass die Obergrenze nicht voll ausgeschöpft werde und tatsächlich weniger Ausgaben vorgesehen seien. Er sah die EU noch am Anfang des Jahres 2013 in einer »Depression, in einer Teilnahmslosigkeit, einer Egal-Stimmung«. Das sei gefährlich. Ein Wiederaufschnüren der europäischen Verträge hält Schulz dennoch für falsch. Angeblich hat die EU die Instrumente zur Krisenbekämpfung. Mittelfristig sei aber eine klare Kompetenzordnung erforderlich, in der eine vom Europaparlament gewählte europäische Regierung für den vergemeinschafteten Bereich zuständig ist. Neue Vertragsideen der Bundesregierung sind für Schulz »Eskapismus«. Vorrangig sei die Bewältigung der Krise. Schulz träumt unterdessen weiter von einer politischen Union, einem »Bundesstaat Europa«.

    In diesem Buch soll der Versuch unternommen werden, herauszufinden, ob es sich dabei um einen Wunschtraum oder einen Alptraum handelt. Im ersten Fall wird man darüber diskutieren müssen, wer letztlich dafür bezahlen soll. Traditionell haben die Briten in der EU übrigens mit Abstand den größten Rabatt, ein Erfolg, den eine Amtsvorgängerin des derzeitigen Premierministers David Cameron (Margaret Thatcher) unter lautstarkem Einsatz ihrer Handtasche erzielt hatte. Er macht 66 Prozent des Nettobeitrags aus (zuletzt 3,5 Milliarden Euro im Jahr 2011). Nach neueren Berechnungen war Deutschland zwischen 1991 bis 2011 sowohl absolut als auch relativ mit Abstand der größte Zahler.³² Im genannten Zeitraum beliefen sich die angepassten Beiträge (nach Rabatten) Deutschlands auf 383,6 Milliarden Euro. Rund 213 Milliarden Euro flossen aus verschiedenen europäischen Töpfen nach Deutschland zurück.

    Die größten Empfänger der EU-Gelder waren und sind die Peripherie- und heutigen Krisenländer. Inzwischen ist Polen mit seinem großen Agrarsektor der Hauptempfänger von EU-Geldern. Deutschlands Nettozahlungen belaufen sich seit Beginn der 1990er Jahre auf 170,6 Milliarden Euro – rund 45 Prozent der gesamten Nettobeiträge der zehn Nettozahler in diesem Zeitraum, ein Anteil, der deutlich überproportional zur deutschen Wirtschaftsleistung ist, die im betrachteten Zeitraum zwischen einem Viertel und einem Fünftel des aggregierten Bruttoinlandsprodukts (BIP) der EU-Mitglieder lag. Zählt man weitere Zahlungen hinzu (Zolleinnahmen und andere Abgaben), lag die Nettobelastung Deutschlands seit der Wiedervereinigung noch deutlich höher: bei über 200 Milliarden Euro.³³ Nach Hochrechnungen unter Berücksichtigung der Inflation belaufen sich die deutschen Nettobelastungen in den Preisen von Anfang 2013 seit 1991 auf fast 250 Milliarden Euro. Daher ist die EU nicht erst seit dem Beginn der »Euro-Rettung« in erheblichem Umfang eine Transfer- und Umverteilungsunion. In den kommenden Jahren wird der deutsche Nettobetrag zum EU-Haushalt steigen, weil die Förderung für viele Regionen in den ostdeutschen Bundesländern gekürzt wird und mehr Geld nach Ost- und Südeuropa fließt.

    Dennoch: Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft ist und bleibt der Binnenmarkt ein Vorteil. Es ist auch nichts gegen den Grundsatz der Solidarität zwischen starken und schwachen Ländern einzuwenden, solange die Belastung der Nettozahler proportional gleich ist. Das wäre dann gerecht und wahrhaft solidarisch. Den Nettoempfängern würde nichts genommen. Hätten alle Nettozahler den gleichen prozentualen Anteil ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) zur Finanzierung der EU-Ausgaben geleistet, so hätte Deutschland seit den 1990er Jahren 60 Milliarden Euro weniger zahlen müssen, die Differenz zwischen den geleisteten und den »angemessenen« Beiträgen.

    Vor diesem Hintergrund erscheint Deutschland einer immer größer werdenden Zahl von Bürgern nicht nur als »Zahlmeister«, sondern als »Melkkuh« der EU. Irgendwann könnte sich deshalb die Frage stellen, ob nicht nur das folgende Diktum aus dem Jahre 1949 zutraf: »Europa entsteht über Geld, oder es entsteht nicht.«³⁴

    Man wird sich jetzt wohl ebenso ein paar Gedanken darüber machen müssen, ob Europa über Geld auch untergehen könnte.

    2: »Anschwellender Bocksgesang«

    Die Überschrift dieses Kapitels ist mit dem Titel eines Essays identisch, den der Schriftsteller Botho Strauß am 8. Februar 1993 veröffentlich hatte.¹ Wenige Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands war dieser Essay in einem anderen historischen Kontext angesiedelt. Heute stellen sich in der Einigung Europas neue und eigene Probleme. Eine genauere Erinnerung könnte aber zeigen, dass zwischen dem damals aufbrechenden und gewalttätigen Fremdenhass und der gegenwärtig zunehmenden Europaskepsis eigenartige Verbindungslinien bestehen. Mancherorts scheint sich sogar »Feindlichkeit« gegenüber der EU und/oder einzelnen Mitgliedstaaten zu verbreiten.

    Seinerzeit erkannte Strauß im Hinblick auf »das Unsere« keine Transformierbarkeit mehr, da wir in die »Beständigkeit des sich selbst korrigierenden Systems« eingelaufen seien. Schon 1993 hat es manchem gedämmert, dass Gesellschaften, bei denen der Ökonomismus nicht im Zentrum aller Antriebe steht, aufgrund ihrer geregelten, glaubensgestützten Bedürfnisbeschränkung im Konfliktfall eine beachtliche Stärke oder gar Überlegenheit zeigen werden. Strauß sagte nicht nur innenpolitische Folgen in unserem reizbaren, nervösen Gefüge voraus, sondern vor allem abrupte Folgen der politischen Innerlichkeit, also den impulsiven Ausbruch von Unduldsamkeit und Aggression, wenn »wir Reichen« nur minimale Prozente an Reichtum verlieren. Aus seiner Sicht hat man schon vor 20 Jahren etwas zu selbstgefällig vor den nationalistischen Strömungen in den osteuropäischen und mittelasiatischen Neu-Staaten gewarnt. Wir hätten bereits damals nicht verstanden, dass jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer.

    Strauß sah Konflikte heraufziehen, die sich nicht mehr ökonomisch befriedigen lassen. In ihnen könnte es sich nachteilig auswirken, dass der reiche Westeuropäer auch »sittlich« über seine Verhältnisse gelebt hat, da hier das »Machbare« am wenigsten an seine Grenze gestoßen sei. Strauß hält »die alten Dinge« nicht einfach für überlebt und tot. Der Mensch, der einzelne wie der Volkszugehörige, sei nicht einfach nur von heute: »Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.«²

    Der »Kampf um das Unsere« findet nach seinem Empfinden nur nach innen statt. Es seien nicht feindliche Eroberer, die uns zum Kampf herausforderten. Wir seien herausgefordert, uns Heerscharen von Vertriebenen und heimatlos Gewordenen gegenüber mitleidvoll und hilfsbereit zu verhalten. Das Gesetz verpflichte uns zur Güte. Die Geschichte treffe weiterhin ihre tragischen Dispositionen. Deswegen könne niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt.

    Strauß schloss den längst fälligen Leitbildwechsel aus. Zum Sturz des faulen Befreiungszaubers, des subversiven Gemütskitsches werde es nicht kommen. Alles gehe in eine endlose Prolongation durch technische Wiederaufbereitung über. Das Einzige, was man brauche, sei der »Mut zur Sezession«, zur Abkehr vom Mainstream. Strauß hält ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems für unerlässlich. Aus seiner Sicht ist das Regime der telekratischen Öffentlichkeit zugleich zur unblutigsten Gewaltherrschaft und zum umfassendsten Totalitarismus geworden. Es brauche keine Köpfe rollen zu lassen, es mache sie überflüssig, kenne keine Untertanen und keine Feinde, nur Mitwirkende, Systemkonforme. Deshalb merke niemand mehr, dass die »Macht des Einverständnisses« missbraucht, ausbeutet, bis zur Menschenunkenntlichkeit verstümmelt.

    BARBAREN ODER POLITISCHE DENUNZIANTEN?

    Es wäre eine reizvolle Herausforderung, die vor rund 20 Jahren veröffentlichten und hier nur fragmentarisch zitierten Gedanken von Strauß insgesamt auf ihre mögliche Bedeutung im jetzigen Stadium der europäischen Integration zu prüfen und zu diskutieren. Sie hatten nach ihrer damaligen Veröffentlichung eine monatelange und in Teilen hysterische Debatte ausgelöst, die sich im üblichen Klamauk über »links« und »rechts« irgendwann in Anmaßung und Absurdität erschöpfte. Strauß musste lernen, dass es unmöglich ist, Anmerkungen zur Psychopathologie deutscher politischer Befangenheiten zu machen, ohne selbst in sie verstrickt zu werden. Denjenigen, die ihn in eine auch nur entfernte Verbindung zu Antisemitismus und neonazistischen Schandtaten brachten, bescheinigte er, dass sie keine Differenz mehr ertrügen. Folglich seien sie entweder Barbaren oder politische Denunzianten.³

    Nicht nur die Bedingungen einer aggressiv-dümmlichen Katalogisierungs- und Verdammungskultur haben sich zwischenzeitlich eher noch verschärft. Hinzu kommen mehr oder weniger subtile zensurähnliche Einschränkungen für Autoren, die aufgrund ihrer professionellen Erfahrungen zwischen ideologischen Wünschen und Machtansprüchen konkreter und präziser unterscheiden können als jeder Künstler. Deshalb sind im Folgenden zunächst nur die Mühen der allseits bekannten Ebenen Gegenstände bloßer Berichterstattung.

    SCHICKSALSJAHR 2011

    Im Übergang des Jahres 2010 auf das Jahr 2011 ging es um die großen Ängste: »Euro« und »Islam«.⁴ Hinter den Zweifeln an der EU-Währung und der Furcht vor einem kulturellen Identitätsverlust erkannte man schwindendes Vertrauen in die Gestaltungskraft konventioneller Politik. Der Euro sollte Frieden und Wohlstand über Europa bringen.⁵ Im Rückblick auf Geschehnisse zwischen dem 7. Mai 2010 und dem 16. Mai 2011 entstand jedoch der Eindruck, dass er den Kontinent erst einmal gespalten hatte.⁶ Wie sparsam der einzelne auch sein mochte, wenn im Zuge der großen Staatsschuldenkrise das EU-Währungssystem zusammenbräche, musste er damit rechnen, dass auch sein Vermögen in Mitleidenschaft gezogen würde, am wahrscheinlichsten durch eine auf die damalige Geldschwemme folgende Hyperinflation.⁷ Verschärft wurde die gefühlte Lage dadurch, dass ihm signalisiert wurde, er sei – wenn er solche Befürchtungen habe – ahnungslos oder borniert. Zweifel am Euro und an der EU insgesamt wurden als Ausweis »nationalistischer« Gesinnung denunziert. Das Jahr 2011 galt als das »Schicksalsjahr« des Euro. Der deutsche Finanzminister hatte in einem Interview behauptet, dass die Überschrift »2011 Entscheidungsjahr für die Unabhängigkeit des Euro« einem nachdenklichen Gespräch nicht angemessen sei.⁸ Innerhalb weniger Monate werde deutlich, ob sich der Wunsch der Euro-Länder nach einem permanenten Schutzschirm und die ökonomische Realität der »PIIGS-Staaten« (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) tatsächlich unter einen Schirm bringen ließen.

    Die in diesem Zusammenhang aufgekommenen Befürchtungen sah man zum Ende des Jahres 2010 nicht nur als politische Krisenphänomene an, sondern empfand sie als Anzeichen für die schwerste Legitimationskrise demokratischer Politik seit dem Zweiten Weltkrieg. Vor diesem Hintergrund klang seinerzeit der Wunsch »Alles Gute im neuen Jahr« nicht sehr hoffnungsfroh.⁹ Für Hoffnung hat es seit dem 17. September 2008, dem Tag, an dem die amerikanische Bank »Lehman Brothers« unterging, bislang auch wenig Anlass gegeben.¹⁰ Damit schien das Modell einer Bank ohne Einlagen, die allein davon lebt, bei Kapitalmarktgeschäften zu beraten und selbst zu spekulieren, erledigt zu sein.¹¹

    Die damals einsetzende Krise ist bis heute nicht überwunden. Tatsächlich hatten schon Mitte Juli 2011 immerhin 86 Prozent der Deutschen Angst um die europäische Währung. Ein vernichtenderes Urteil über die Rettungsbemühungen der »Euro-Politiker« war kaum denkbar. Ihre hilflosen Beschwichtigungsversuche, die sich mit lauten Attacken auf die Rating-Agenturen abwechselten, wurden in dieser Zeit als Hauptquelle der Verunsicherung empfunden.¹²

    Aus der Finanzkrise war eine Wirtschaftskrise geworden, die sich schließlich zur Euro-Krise entwickelte, insgesamt eine der größten Herausforderungen, die die Menschheit bislang zu meistern hatte.¹³ Dabei leben wir nicht in einer kleinen Krise des Kapitals, die auf dem Weg zu den blühenden Landschaften der Vollbeschäftigung und der sozialen Gerechtigkeit bald überwunden sein wird. Wir stünden vor einem sich verschärfenden strukturimmanenten Problem.¹⁴ Daher ist die Behauptung, dass die Auswirkungen der Weltfinanz- und Bankenkrise ein »Quell des Unmuts« bleiben würden, eine Beschönigung besonderer Art. Die Versuche der irischen Politiker im Krisenmanagement sollen die Wähler dort gar in einer Mischung aus gleichgültigem Achselzucken, angewidertem Ekel und verdrießlichem Zynismus verfolgt haben.¹⁵

    Aus Analytikerkreisen waren Stimmen zu hören, die in ihrer pessimistischen Eindeutigkeit nichts Gutes für die Zukunft hoffen ließen, auch wenn zu Beginn des Jahres 2011 verkündet wurde, dass sich die EU

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