Brandt aktuell: Treibjagd auf einen Hoffnungsträger
Von Albrecht Müller
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Über dieses E-Book
Kanzler Adenauer lästerte öffentlich über Brandts uneheliche Geburt, Helmut Schmidt nannte ihn einen Scheißkerl, Herbert Wehner diktierte in Moskau den Journalisten in den Block, Brandt bade lau. Dieser üblen Treibjagd ist Willy Brandt erlegen. Viel zu früh. Was wir von diesem Hoffnungsträger für heute lernen könnten, zeigt einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen.
Gegen Willy Brandt lief Zeit seines Lebens eine Kampagne seiner politischen Gegner - mit üblen Methoden. Er wurde trotzdem Bundeskanzler. Als sich einige seiner Parteifreunde dieser Hatz anschlossen, war er erledigt. Der Autor Albrecht Müller war 1972 verantwortlich für den Wahlkampf Willy Brandts und dann Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt. Er hat die Treibjagd auf Brandt hautnah miterlebt.
Für Albrecht Müller ist klar: Trotz seiner nur viereinhalbjährigen Amtszeit als Bundeskanzler, hat Willy Brandt uns viel Gutes hinterlassen. Er war der Hoffnungsträger, dessen politische Botschaften und Methoden uns heute noch fehlen.
Albrecht Müller
Albrecht Müller, 1938 in Heidelberg geboren, ist Diplom-Volkswirt, Bestsellerautor und Publizist. Er ist Herausgeber der NachDenkSeiten. Müller leitete Willy Brandts Wahlkampf 1972 und die Planungsabteilung unter Brandt und Schmidt. Von 1987 bis 1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages. Zu seinen veröffentlichten Büchern zählen "Mut zur Wende!", "Die Reformlüge" sowie "Machtwahn". Im Westend Verlag erschienen zuletzt die "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst" (2019) und "Die Revolution ist fällig" (2020).
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Buchvorschau
Brandt aktuell - Albrecht Müller
Albrecht Müller
BRANDT AKTUELL
Treibjagd auf einen Hoffnungsträger
WESTEND
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
PublisherISBN 978-3-86489-064-2
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Umschlagabbildung: Harry Walter
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Inhalt
Warum dieses Buch?
Ein Jahrhundertpolitiker
Von der Kurpfalz über München nach Bonn
Parteifreunde und andere Feinde
Schicksalsjahr 72 – Triumph und Niedergang
»Die wollen gar nicht gewinnen«
Ein harter Kampf – für Brandt und die SPD
Ein totgeschwiegener Putschversuch
Der eine sät, die anderen ernten
Der ungeliebte Konkurrent
Wehner, der illoyale Machtmensch
Schmidt, die Führungspersönlichkeit
Üble Nachrede
Totschlagargument Depression
Brandt, der Teilkanzler?
Erfolglos im Inneren?
Mythos Linksruck
Das wahre Erbe Willy Brandts
Politisierung
Mehr Demokratie wagen
Brandt, der gute Deutsche
»Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge«
Gegen den Herrschaftsanspruch der finanzstarken Oberschicht
Solidarität statt Egoismus
Der Integrator
Die prägende Kraft des guten Vorbildes
Anmerkungen
Literatur
Dokumentation
1. Die Planung des Wahlkampfes 1972
2. Der Putschversuch des Großen Geldes mit unzähligen anonymen Anzeigen
Danke vielmals
Zum Umschlagfoto und zum Fotografen
Warum dieses Buch?
Es war Rut Brandt, die den letzten Anstoß dazu gegeben hat, dieses Buch zu schreiben. Nils Johannisson, früher einmal Artdirektor der Werbeagentur ARE, hatte sie und ihren Lebensgefährten Niels Norlund im Juni 1998 in Norwegen besucht. Als Gastgeschenk brachte er mein Buch Willy wählen 72 mit. Er selbst war 1972 mit mir zusammen am Wahlkampf der SPD beteiligt gewesen und hatte auch das Buch gestaltet. Am nächsten Morgen berichtete Rut Brandt, sie habe die halbe Nacht mit der Lektüre zugebracht. An den abgedruckten Dokumenten könne man sehen, wie sehr Willy einer regelrechten »Treibjagd« ausgesetzt gewesen sei.
Die Treibjagd hatten seine politischen Gegner zu verantworten: die »Offenen« der Union, aber auch die mit ihnen sympathisierenden rechtsnationalen Kräfte aus Industrie und Wirtschaft, die viel Geld in die Hand nahmen, um den amtierenden Kanzler Brandt zu diskreditieren. Was bis heute vielen an Geschichte und Gegenwart Interessierten nicht bewusst ist: Auch innerhalb der SPD wurde gegen Brandt agitiert – wesentlich verdeckter zwar, aber deshalb nicht folgenlos.
Am 18. Dezember 2013 wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Eine Reihe weiterer Bücher, Filme und Hörfunksendungen über Brandt erscheinen. Dabei wird immer wieder auch über das Verhältnis von Brandt, Schmidt und Wehner spekuliert, der damaligen »Troika«. Doch die Demontage Brandts in seiner eigenen Partei und in der veröffentlichten Meinung wird nirgends so gewertet, wie man sie meiner Meinung nach werten müsste: als eine von Interessen geleitete Attacke mit – vornehm ausgedrückt – sehr fragwürdigen Methoden.
Die meisten Sozialdemokraten haben das nicht bemerkt. Es liegt jenseits ihrer Vorstellungswelt, dass sich die Führungsriege der Partei, also der Vorsitzende und seine Stellvertreter, nicht gegenseitig stützen und Erfolg wünschen, sondern Misserfolge geradezu planen. Auch ich gehörte zu den »naiven« Sozialdemokraten, die dachten, die Konkurrenz des Spitzenpersonals sollte Grenzen kennen.
Wenn sich politische Gegner außerhalb der eigenen Partei mit Gegnern in der eigenen Partei verbünden und dieser Verbund auch noch von einflussreichen Medien und Wirtschaftsinteressen gestützt wird, dann hat der betroffene Politiker keine Chance. Das gilt immer noch. Die Analyse der Treibjagd auf Willy Brandt ist in Variation anwendbar auf den Umgang mit anderen Personen: auf den Umgang mit Andrea Ypsilanti, Norbert Blüm, Oskar Lafontaine, sogar Kurt Beck.
Bis heute erfahre ich, dass Autoren und Historiker diese von mir so erlebte und empfundene Treibjagd gegen den ersten SPD-Bundeskanzler nicht als solche erkennen wollen, vielleicht auch nur nicht erkennen können. Im Gegenteil: Selbst Willy Brandt wohlgesonnene Biographen tragen die Vor- und Fehlurteile, die damals gegen ihn lanciert wurden, weiter und verstellen damit den Blick auf sein politisches Vermächtnis. Man merkt an der Geschichtsschreibung zu Willy Brandt, dass er schon lange tot ist und man ihm deshalb leichter Unrecht tun kann. Auch manche Freunde des ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzlers sind müde geworden, immer wieder gegen die gängig gewordenen Klischees und Vorurteile anzurennen: zum Beispiel den konstruierten Gegensatz zwischen dem »Träumer« Willy Brandt und dem »Macher« Helmut Schmidt.
Das ist schade, denn aus der Kanzlerschaft Brandts ließe sich für uns Heutige viel lernen. Sie fiel zusammen mit politischem Aufbruch und Protest, und zugleich mit einer großen Zufriedenheit mit dem politischen Leben, und im Übrigen auch mit den wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven für Menschen, die bis dahin nicht auf der Sonnenseite lebten. Sehr viele Menschen interessierten sich für das politische Geschehen und beteiligten sich. Es war eine Zeit der Veränderungen und der Reformen im guten Sinne des Wortes – zu Gunsten der Mehrheit der Menschen.
Willy Brandt war ein Glücksfall für unser Land und für seinen Politikbetrieb.
Sein Umgang mit den Menschen, seine Toleranz und Liberalität, sein Engagement für Versöhnung und Frieden im Innern und nach außen könnten wichtige Markierungen des Weges sein, den wir heute sinnvollerweise gehen könnten und sollten. Schon ein paar wenige seiner Slogans sagen viel aus: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.« »Mehr Demokratie wagen.« »Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.«
Aber auch von Brandts strategischen Fähigkeiten und seiner praktischen Politik könnten wir viel lernen, wenn wir wollten.
Zum Beispiel könnten wir lernen, dass auf Egoismus und Spaltung und rigoroser Wahrnehmung der Interessen der Oberschicht eine gute und friedliche Gesellschaft nicht aufgebaut werden kann. Solidarität ist ungemein wichtig. Willy Brandt wusste das und warb dafür, diesen Grundwert ernst zu nehmen. Er wusste auch, dass man Menschen diese Solidarität zumuten kann. Wirtschaft nahm er ernst. Aber er erkannte, dass wirtschaftliche Kompetenz und Wohlstand nicht das Einzige sind, auf das Menschen Wert legen.
Zum Beispiel könnten wir lernen, dass man in der Politik strategisch denken muss. Die Entspannungspolitik gründete auf einem langfristig angelegten Politikentwurf. Wo ist das heute? Strategisch denken und planen können heute offenbar nur noch die neoliberalen Ideologen.
Selbst eingefleischte Brandt-Gegner haben in den sechziger und siebziger Jahren gespürt, welch ein grandioser Vorteil und eine Ehre es für einen Deutschen war, von einem Politiker repräsentiert zu werden, der quasi überall respektiert und sogar gemocht wurde. Und wie sieht das heute aus? Bei Angela Merkel?
Mir war vergönnt, einige Zeit eng mit ihm zusammen und für ihn zu arbeiten. Ich war schon aus professionellen Gründen gezwungen zu beobachten, mit welchen Methoden und welchen Parolen gegen ihn gearbeitet wurde. Ich musste damals aus beruflichen Gründen – ich war zunächst verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und den Wahlkampf Willy Brandts und dann Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt – die Vorwürfe analysieren und widerlegen, mit denen er immer wieder konfrontiert war.
Über Willy Brandt und seine Arbeit werden viele Märchen erzählt: Er sei ein Träumer gewesen und kein Macher. Intensive Schreibtischarbeit habe er vermieden. Die Träger und Macher der üblen Nachrede kannten keine Schamgrenze. Er sei psychisch labil gewesen, depressiv, ja vielleicht sogar Alkoholiker. Er sei allein ein »Außen«-Kanzler gewesen und habe von Wirtschaft und von Innenpolitik wenig verstanden. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Natürlich war Brandt auch Projektionsfläche für Hoffnungen, die er vielleicht nicht bedienen konnte. Aber auch diesen Status muss man sich erst einmal erwerben.
Ein Jahrhundertpolitiker
Willy Brandt wurde am 18. Dezember 1913 in Lübeck geboren. Er hieß damals Herbert Frahm und war ein uneheliches Kind seiner Mutter Martha. Den Namen Willy Brandt nutzte er in den dreißiger Jahren im norwegischen Asyl und nahm ihn dann nach dem Krieg in Berlin als offiziellen Namen an. Dies alles ist hier nur erwähnenswert, weil seine uneheliche Geburt in der politischen Auseinandersetzung von rechten konservativen Kreisen und der CDU/CSU immer wieder für persönliche Angriffe genutzt wurde.
Der junge Frahm erlebte in seiner Kindheit und Jugend die Deklassierung der Arbeiterschaft in der deutschen Gesellschaft. Er wurde früh politisch aktiv, in der SPD und in einer Linksabspaltung, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). 1933 emigrierte er nach Norwegen und weiter nach Schweden. Auch dies ist erwähnenswert, weil die Emigration vor den Nazis in rechtskonservativen und nationalen Kreisen auch in den späteren Auseinandersetzungen nicht als Ehrenzeichen, sondern als Makel gewertet wurde. So waren die Zeiten nach 1945.
Dreizehn Jahre lebte er in der Emigration, zeitweise mit fremder Identität in Berlin und dann auch im Bürgerkriegsspanien. In dieser Zeit stand er lebensgefährliche Situationen durch. Bei Kriegsende musste der dann 32-jährige Willy Brandt feststellen, dass viele seiner Freunde die nationalsozialistische Schreckensherrschaft und den Krieg nicht überlebt hatten. Da wird man auch später keine rheinische Frohnatur, selbst wenn man wie Willy Brandt ein großes Stück Lebensfreude in sich trägt. Und es ist verständlich, dass ein Mensch mit diesen harten Erfahrungen auch einmal den Kabinettstisch verlässt, wenn dort – wie von mir erlebt – ausgewachsene Minister wie eitle Gockel aufeinander losgehen.
Brandt kam im Mai 1945 als Korrespondent der skandinavischen Arbeiterpresse nach Deutschland zurück, um über den Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg zu berichten. Er wurde dann 1948 Beauftragter