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Nachdenken über Deutschland: Das kritische Jahrbuch 2015 / 2016
Nachdenken über Deutschland: Das kritische Jahrbuch 2015 / 2016
Nachdenken über Deutschland: Das kritische Jahrbuch 2015 / 2016
eBook267 Seiten3 Stunden

Nachdenken über Deutschland: Das kritische Jahrbuch 2015 / 2016

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Über dieses E-Book

Wie funktioniert Meinungsmache?
Wolfgang Lieb und Albrecht Müller fassen die politisch wichtigsten Themen des Jahres 2015 zusammen und liefern Nachrichten, Analysen und Hintergrundinformationen, die im Medienmainstream sonst nicht zu hören oder zu sehen sind. Und sie regen zum Nachdenken an mit dem Ziel, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger immer weniger bereit sind, sich von skrupelloser Manipulation und willfähriger Meinungsmache bevormunden zu lassen.Mit einem Vorwort von Sarah Wagenknecht
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Okt. 2015
ISBN9783864895937
Nachdenken über Deutschland: Das kritische Jahrbuch 2015 / 2016
Autor

Albrecht Müller

Albrecht Müller, 1938 in Heidelberg geboren, ist Diplom-Volkswirt, Bestsellerautor und Publizist. Er ist Herausgeber der NachDenkSeiten. Müller leitete Willy Brandts Wahlkampf 1972 und die Planungsabteilung unter Brandt und Schmidt. Von 1987 bis 1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages. Zu seinen veröffentlichten Büchern zählen "Mut zur Wende!", "Die Reformlüge" sowie "Machtwahn". Im Westend Verlag erschienen zuletzt die "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst" (2019) und "Die Revolution ist fällig" (2020).

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    Buchvorschau

    Nachdenken über Deutschland - Albrecht Müller

    Nachdenken über Deutschland – für alle, die es besser wissen wollen!

    Alle Jahre wieder stellen wir Ihnen eine gedruckte Fassung interessanter Beiträge aus dem Internetportal NachDenkSeiten vor und zur Verfügung. Wir haben einige der wichtigsten Beiträge ausgewählt. Ein Blick auf die Gliederung zeigt Ihnen, was Sie dieses Jahr unter anderem erwartet: Texte zum Nachdenken über die Verhandlungen mit Griechenland, die neue (alte) Angst vor Fremden, die Gewerkschaften, die Bildungspolitik und die SPD, den NSA-Skandal und die deutsche Medienwelt.

    In diesem Jahr hat Sahra Wagenknecht einen interessanten Einführungstext geschrieben.

    Seit acht Jahren bringen wir wichtige Artikel der NachDenkSeiten in gedruckter Fassung für jene heraus, die einmal in Ruhe das zurückliegende Jahr Revue passieren lassen möchten und sich dafür nicht an den Computer setzen wollen oder können. Als Nachschlagwerk nutzen wir das Jahrbuch auch selbst.

    Wir wollen mit dem jährlichen »Nachdenken über Deutschland« zugleich den Freundinnen und Freunden der NachDenkSeiten die Möglichkeit geben, mit einer gedruckten Fassung in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis über die kritische Website NachDenkSeiten zu informieren. Natürlich würden wir uns freuen, wenn auf diese Weise noch mehr Menschen auf die NachDenkSeiten aufmerksam würden. Im Jahr 2015 haben mehr Menschen als je zuvor die NachDenkSeiten besucht und sich Denkanstöße geholt, inzwischen weit mehr als 100 000 Besucher pro Tag.

    Das ist aber noch durchaus ausbaufähig und es wäre im Interesse einer vielfältigeren Meinungsbildung und damit einer lebendigen Demokratie. Je mehr Menschen die NachDenkSeiten lesen, umso größer ist die Chance, auf Menschen zu treffen, mit denen man sich mit Gewinn austauschen und sich politisch einmischen kann. Das ist unser Ziel – so viele Menschen zu erreichen, dass man von einer NachDenkSeiten-Informations- und Austauschgemeinschaft sprechen kann. Wiederum nicht um der NachDenkSeiten willen, sondern um wenigstens teilweise die Lücke auszufüllen, die die Parteien und die Leitmedien hinterlassen haben, weil es in ihren Reihen viel zu selten kritische und an Sachfragen orientierte Diskussionen gibt.

    Viel Spaß bei der Lektüre, jedenfalls einen geistigen Gewinn wünschen Ihnen die Herausgeber der NachDenkSeiten

    Albrecht Müller und Wolfgang Lieb

    Für alle, die es besser wissen wollen!

    Demokratie im Würgegriff

    Ein Beitrag von Sahra Wagenknecht

    »Wahlen können nichts ändern«, bekam der frisch gewählte Finanzminister Griechenlands, Yanis Varoufakis, bei seinem ersten Treffen im Kreis der Eurogruppe von seinem deutschen Amtskollegen Wolfgang Schäuble zu hören. Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem stieß ins gleiche Horn: Die griechische Regierung müsse sämtliche Forderungen der Gläubiger akzeptieren und die eigene Forderung nach einer Restrukturierung der Schuldenlast aufgeben – andernfalls werde man die Kreditvereinbarung platzen und das griechische Bankensystem hochgehen lassen, so die unverhohlene Drohung. Statt ein offensichtlich gescheitertes Anpassungsprogramm endlich zu beenden, weigerte man sich, mit der neuen griechischen Regierung auch nur Argumente auszutauschen. An einer vernünftigen Einigung, die sowohl europäische Steuerzahler geschont als auch Griechenland eine Perspektive gegeben hätte, hatte die Mehrzahl der Gläubiger von Anfang an kein Interesse.

    Zwar zeigte sich zuletzt ein Riss in der Eurogruppe bezüglich der Frage, ob man Griechenland gegen seinen Willen und trotz weitreichender Zugeständnisse der griechischen Regierung aus der Eurozone werfen solle. Doch in zentralen Punkten bestand Einigkeit zwischen Kanzlerin Merkel, Finanzminister Schäuble und Wirtschaftsminister Gabriel auf der einen und EZB-Chef Draghi, EU-Kommissionspräsident Juncker und EU-Parlamentspräsident Schulz auf der anderen Seite: Zur neoliberalen Kürzungsdiktatur darf es keine Alternative geben. Wer eine solche Alternative wählt, muss dafür bestraft werden. Gemeinsames Ziel war und ist die Kapitulation oder der Sturz einer linken Regierung, an der ein warnendes Exempel statuiert werden soll. Finanzminister Schäuble hat außerdem die Drohung mit einem Grexit als wohlfeiles Instrument erkannt, um die Eurozone auf Kosten der Demokratie in seinem Sinne »vertiefen« zu können.

    Unter diesem Druck stimmte der griechische Präsident Alexis Tsipras auf dem EU-Gipfel vom 12. Juli 2015 am Ende einer demütigenden Vereinbarung zu, die das soziale Elend in Griechenland weiter verschärfen und die untragbare Schuldenlast noch weiter erhöhen wird. Wie schon vor zehn Jahren nach dem französischen und niederländischen NEIN zum europäischen Verfassungsvertrag wurde der Wille des Volkes mit Füßen getreten. Über 61 Prozent der griechischen Bevölkerung sprechen sich allen Drohungen zum Trotz gegen ein weiteres Kürzungsdiktat aus? Dann wird die Demokratie in Griechenland eben abgeschafft und ein Protektorat errichtet. »Die Regierung muss die Institutionen zu sämtlichen Gesetzesentwürfen in relevanten Bereichen mit angemessenem Vorlauf konsultieren und sich mit ihnen abstimmen, ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt oder das Parlament befasst wird.« Dies wurde auf dem EU-Gipfel neben vielen anderen konkreten Kürzungs- und Steuererhöhungsvorgaben als eine der »Mindestanforderungen für die Aufnahme der Verhandlungen mit der griechischen Regierung« formuliert. Aus diesem Staatsstreich gilt es zu lernen, wenn wir Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, wenn wir Vernunft und fairem Umgang miteinander in Europa wieder Geltung verschaffen wollen.

    Erfolgreiche Troika oder ökonomische Folter?

    Griechenland ist das Opfer eines gnadenlosen Finanzkriegs. Und wie in jedem Krieg starb auch in diesem Krieg zuerst die Wahrheit. Zwar muss man blind und taub sein um zu leugnen, dass die Politik der Troika in Griechenland unermessliche Schäden verursacht hat. Doch da eine Änderung des Programms aus politischen Gründen nicht in Frage kam, musste für die Öffentlichkeit eine Lüge gestrickt werden. Von Kanzlerin Merkel über Sigmar Gabriel bis Martin Schulz, von Mario Draghi über Christine Lagarde bis zu Jean-Claude Juncker: Alle erzählen das Märchen von den erfolgreichen »Reformprogrammen« in den anderen Krisenländern, Programmen, die auch in Griechenland gerade anfingen, erste Früchte zu tragen, bis ein störrisches Volk eine linke Regierung wählte, die sich den nötigen Reformen verweigerte und so das Land an den Rand des Abgrunds führte.

    Sieht man von einigen Oligarchen ab, die Teile der »Rettungskredite« in die eigene Tasche abzweigen oder sich öffentliches Eigentum zu Spottpreisen aneignen konnten, kann von einem Erfolg der Troika-Programme in Ländern wie Irland, Portugal, Spanien oder Zypern keine Rede sein. In all diesen Ländern ist die Staatsschuldenquote durch die Bankenrettungs- und Kürzungspolitik nach oben geschnellt, hat die Armut zugenommen, wurden die Perspektiven einer ganzen Generation zerstört und das Wohlstandsniveau dauerhaft abgesenkt. Zwar zieht das Wirtschaftswachstum in einigen Ländern wieder an, doch über die Verteilung sagen derartige Ziffern nichts aus. Kern der Troika-Programme aber ist die Umverteilung von unten nach oben. Während etwa in Griechenland die Durchschnittseinkommen um über 30 Prozent, die der einkommensschwächsten 10 Prozent der Haushalte sogar um 86 Prozent geschrumpft sind (vgl. Giannitsis Zografakis in einer Studie im Auftrag des IMK in der Hans-Böckler-Stiftung, März 2015), ist das Vermögen der rund 500 griechischen Multimillionäre allein 2013 um ein Fünftel auf 60 Milliarden Dollar gewachsen (vgl. Billionaire Census der Beratungsfirma Wealth X und der Schweizer Großbank UBS). Ferner haben die Troika-Programme zu extremer Arbeitslosigkeit beigetragen, wobei die Dramatik aus den Statistiken nicht immer direkt ersichtlich ist. So stieg die Arbeitslosigkeit in Portugal zwischen 2010 und 2014 beispielsweise »nur« von 12 auf 14 Prozent, was in erster Linie daran liegt, dass jährlich über 100 000 Menschen das Land verlassen – die größte Auswanderungswelle, die Portugal jemals erlebt hat (vgl. Viktoria Morasch in der Zeit vom 5. Januar 2015). Auch Spanien ist kein Beispiel für erfolgreiche Troika-Politik, im Gegenteil. Dass die Wirtschaft dort wieder wächst, hat allein damit zu tun, dass der Kürzungskurs 2013 beendet wurde und seitdem wieder kräftig Kredite aufgenommen werden, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die damit verbundene Verletzung der Maastricht-Kriterien interessiert kaum jemanden, schließlich werden die Regeln in diesem Fall von einer konservativen Regierung verletzt, die man an der Macht halten will. Auch Irlands Wirtschaft profitiert von einer Regelverletzung: Während Griechenland ein Schuldenschnitt verweigert wird mit dem Argument, dass es der EZB verboten sei, Staaten zu finanzieren, hat man von diesem Verbot in Irland abgesehen und über 30 Milliarden an EZB-Krediten in langfristige Anleihen umgewandelt, die erst ab 2038 getilgt werden müssen (vgl. Harald Schumann im Tagesspiegel vom 27. Juli 2015).

    Ohnehin kann man die Entwicklung in Griechenland nur schwer mit jener in anderen Krisenländern vergleichen. Griechenland erhielt die größten »Rettungskredite« der Geschichte und musste sich dafür dem brutalsten und umfangreichsten Kürzungsprogramm unterwerfen. So wurden die Gehälter im öffentlichen Dienst in Griechenland zwischen 2008 und 2015 um 24 Prozent gekürzt, in Portugal und Spanien »nur« um 15 beziehungsweise 3 Prozent (vgl. Stephan Schulmeister in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Nr.8/2015). Von 2009 bis 2014 wurden die Staatsausgaben in Griechenland trotz explodierender Arbeitslosigkeit um mehr als 30 Prozent gekürzt, in Irland »nur« um 9, in Spanien und Portugal »nur« um 7 Prozent (vgl. Harald Schumann im Tagesspiegel vom 27. Juli 2015). Die Troika und die Bundesregierung haben Griechenland zu einem neoliberalen Versuchslabor gemacht, wo sie austesten, wie weit man bei der Zerstörung von Löhnen, Renten, Sozialleistungen und öffentlicher Infrastruktur gehen kann, ohne dass es zu gewalttätigen Aufständen kommt. Das ökonomische Waterboarding der Troika hat die griechische Wirtschaft zerstört und große Teile der Bevölkerung in Armut gestoßen. Ausgangspunkt der griechischen Tragödie war die Entscheidung vom Mai 2010, einem insolventen Land einen gewaltigen Kredit aufzudrücken, um vor allem deutsche und französische Banken vor Verlusten zu bewahren. Dies wurde der Öffentlichkeit als Hilfe und Rettung für Griechenland verkauft, obwohl die griechische Bevölkerung dafür bluten muss. Für den unbezahlbaren Kredit haften nun die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Europas, was von den Herrschenden und leider auch von Sozialdemokraten wie Gabriel dazu benutzt wird, um die Bevölkerung der Länder gegeneinander aufzuhetzen.

    Gnadenloser Finanzkrieg gegen eine linke Regierung

    Die griechische Regierung mache ihre Hausaufgaben nicht und lege keine Reformlisten vor. Eine Bande von »Halbstarken« provoziere und beleidige uns und fordere dann auch noch unser Geld! Dieses Zerrbild wurde nicht nur in deutschen Boulevardblättern von der griechischen Linksregierung gezeichnet. Nur selten wurde erwähnt, dass Syriza im Jahr 2010 gegen das angebliche Hilfspaket gestimmt hat und damit auch für die gigantische Veruntreuung europäischer Steuergelder keinerlei Verantwortung trägt. Nur selten wurde erwähnt, dass die griechische Regierung den Teufelskreis aus immer neuen Rettungskrediten, die ohnehin nur in den Schuldendienst fließen, durchbrechen wollte. Kaum wurde erwähnt, dass die neue griechische Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängern mit dem Steuerbetrug und den Privilegien reicher Oligarchen sowie der verbreiteten Korruption aufräumen wollte. Glaubt man dem ehemaligen Finanzminister Varoufakis, so wurden sämtliche Vorschläge der griechischen Regierung, mit denen Reiche und Großkonzerne stärker zur Kasse gebeten werden sollten, von der Troika abgeschmettert. Eine Sonderabgabe von 12 Prozent für Unternehmen, die 2014 mehr als 500 000 Euro Gewinn erzielt haben? Von der Troika gestrichen. Eine Sondersteuer in Höhe von 8 Prozent für Topverdiener mit einem Jahreseinkommen über 500 000 Euro? Wurde von den Gläubigern abgelehnt. Gleichzeitig wurde ein bescheidenes Sozialprogramm in Höhe von 200 Millionen Euro, mit dem Essen, Strom und Wohngeld für die Ärmsten finanziert werden sollte, von der Gläubiger-Troika als Verstoß gegen angebliche Verpflichtungen gewertet und scharf verurteilt.

    In geradezu absurder Verkennung der Verhältnisse wurde der griechischen Regierung auch noch vorgeworfen, Europa und Deutschland zu erpressen, obwohl Griechenland im Unterschied zur Situation 2010 kaum über Druckmittel verfügte. Schließlich hatte die Europäische Zentralbank für den Fall eines linken Wahlsiegs vorgesorgt und die Ansteckungsgefahr für andere Eurostaaten verringert: mit der Erklärung von EZB-Chef Mario Draghi, den Euro um jeden Preis zu retten sowie mit dem gigantischen Ankaufprogramm für Staatsanleihen, das für starke Höhenflüge an den Börsen und verbesserte Finanzierungsbedingungen für die meisten Eurostaaten sorgte – allerdings nicht in Griechenland und Zypern, denn ausgerechnet jene beiden Länder sind von dem billionenschweren Ankaufprogramm ausgeschlossen, obwohl sie eine Stabilisierung ihres Finanzsystems am dringendsten benötigen würden.

    Damit nicht genug: In der Hoffnung, dass sich immer mehr Griechen gegen die eigene Regierung wenden würden, wenn sich ihre Lage verschlechtert, führten die Gläubiger einen regelrechten Finanzkrieg, der die Kapitalflucht anheizen, Investoren abschrecken und die griechische Wirtschaft vollends unter Wasser drücken sollte. Schon im Vorfeld der Wahlen im Januar schürte die Bundesregierung Ängste, dass ein Wahlsieg von Syriza einen Grexit zur Folge haben würde. Um die griechische Linksregierung unter zusätzlichen Druck zu setzen, zog die Europäische Zentralbank dann Mitte Februar die Daumenschrauben an: Ab dem 11. Februar wurden griechische Staatsanleihen von der EZB nicht mehr als Sicherheit akzeptiert, was die Refinanzierung der griechischen Banken erheblich erschwerte, die fortan auf die teureren Notfallkredite der EZB angewiesen waren. In der entscheidenden Phase der Verhandlungen schnitt die EZB die griechischen Banken dann komplett von der Geldversorgung ab, indem sie die Notfallkredite einfror, was eine Schließung der Banken sowie Kapitalverkehrskontrollen erzwang. Mit diesem Schritt sollten die griechische Bevölkerung in Panik versetzt und der Ausgang des Referendums beeinflusst werden. Die widerliche Erpressungspolitik erreichte einen weiteren traurigen Gipfel, als »Vorzeige-Europäer« wie Jean-Claude Juncker und Martin Schulz Griechenland sogar mit dem Rauswurf aus der Europäischen Union drohten für den Fall, dass die Bevölkerung bei dem Referendum mit Nein stimmen, Griechenland aus dem Euro austreten oder seinen Zahlungspflichten nicht mehr nachkommen sollte. Dabei hat die Mitgliedschaft in der Eurozone mit der EU-Mitgliedschaft nun wirklich nichts zu tun. Schließlich sind viele Staaten Mitglied der EU, ohne den Euro als Währung übernommen zu haben.

    Doch während sich die griechische Bevölkerung von diesen Drohszenarien nicht beeindrucken ließ und die Demokratie in Europa mit ihrem NEIN verteidigte, machte die griechische Regierung am 12. Juli eine Kehrtwende, nachdem Finanzminister Schäuble ihr die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Nun werden weitere Steuermilliarden für die Fortsetzung einer absurden und gescheiterten Politik verschleudert. Das Gesamtrisiko für den deutschen Haushalt wird dadurch schon bald die 100-Milliarden-Grenze überschreiten. Gleichzeitig sorgen die Kürzungs- und Privatisierungsdiktate dafür, dass die Chancen, auch nur einen Teil unseres Geldes jemals wiederzusehen, sich weiter verschlechtern. Laut Albert Einstein ist es eine Definition von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. Griechenland wird durch weitere Sozialkürzungen, Mehrwertsteuererhöhungen und den Ausverkauf öffentlichen Eigentums auch diesmal nicht auf die Beine kommen, sondern noch ärmer und abhängiger werden. Und da sich vor allem die Bundesregierung einem Schuldenschnitt hartnäckig verweigert, wird auch das Thema der griechischen Zahlungsunfähigkeit inklusive Grexit spätestens nach Ablauf des nächsten »Rettungsprogramms« wieder auf den Tisch kommen.

    Ein autoritärer Plan für Europa

    Ein Nein zu den Kürzungsdiktaten der Troika bedeute ein Nein zu Europa – diese Aussage von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Vorfeld des griechischen Referendums ist so ungeheuerlich wie bezeichnend. Die europäische Idee, die einmal auf Werten wie Demokratie, Frieden und Wohlstand für alle basierte, ist tot. Die Realität ist ein Europa der Austerität, in dem eine unsoziale Kürzungs- und Privatisierungspolitik durch die Wettbewerbsregeln und Maastricht-Kriterien, durch das europäische Semester, den Euro-Plus-Pakt, den Six-Pack, den Fiskalpakt und die Bankenunion immer weiter verrechtlicht und damit der politischen Entscheidung entzogen wird. Dieser Prozess der marktkonformen Zurichtung Europas ist noch lange nicht abgeschlossen, sondern hat durch die Krise in Griechenland sogar neue Schubkraft erhalten. Von der Öffentlichkeit relativ unbemerkt stellten die »fünf Präsidenten«, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem, EZB-Präsident Mario Draghi und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz am 22. Juni 2015 ihre ehrgeizigen Pläne zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion bis zum Jahr 2025 vor. Nachdem die Geldpolitik bereits mit Gründung einer angeblich »unabhängigen« Zentralbank der demokratischen Einflussnahme entzogen wurde, nachdem die Finanzpolitik durch unzählige Regeln und Institutionen in ein neoliberales Korsett gepresst wurde, geht es nun darum, auch noch die Lohn- und Sozialpolitik technokratischer Kontrolle zu unterwerfen. So sollen europaweit Wettbewerbsfähigkeitsräte etabliert werden, in denen Beamte frei von parlamentarischer Kontrolle die Leitlinien für Löhne und Gehälter festlegen und entsprechenden Druck ausüben, wenn Gewerkschaften den Wünschen der Arbeitgeber und Eurokraten nach niedrigen Löhnen nicht weit genug entgegenkommen. Darüber hinaus soll das Kernrecht jedes Parlaments weiter ausgehöhlt werden, indem ein europäischer Finanzminister oder spezieller Kommissar das Recht erhält, in die Haushaltspolitik hineinzuregieren und Kürzungen zu erzwingen.

    In absichtsvoller Verdrehung von Ursache und Wirkung lenkt der Bericht vom Versagen der Finanzmärkte und Banken ab und macht stattdessen die zu laxe Haushaltspolitik der Staaten sowie zu hohe Lohnforderungen der Gewerkschaften für die Krise verantwortlich. Nachdem die Troika in den Krisenstaaten bereits zahlreiche soziale und gewerkschaftliche Rechte geschleift, Löhne gedrückt, die Tarifbindung drastisch vermindert und ein System des »hire and fire« etabliert hat, geht es den Eurokraten nun darum, den Einfluss der Gewerkschaften in den wirtschaftlich schwächeren Ländern Europas dauerhaft zu brechen. Gleichzeitig soll überall die Entmachtung der nationalen Parlamente vorangetrieben werden – wohl auch, weil sich dort immer mehr Widerspruch regt gegen eine unsinnige »Rettungspolitik«, die den Steuerzahlern immer höhere Milliardenrisiken auf die Schultern lädt.

    »Die Eurozone ist ein verrücktes Haus: inkohärent, inkompetent und grausam«, kommentierte der Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs den Verlauf des EU-Gipfels vom 12. Juli 2015 auf Twitter. Wie der griechische Finanzminister Varoufakis erfahren musste, als er vergeblich gegen seinen Ausschluss aus der Eurogruppe protestierte, wird die Politik der Eurozone von einer rein informellen Gruppe gesteuert, die »kein Protokoll führt, keinen schriftlich niedergelegten Regeln folgt und exakt niemandem verantwortlich ist. (…) Zur Seite steht ihr eine Zentralbank, die darum ringt, sich an vage Regeln zu halten, die sie im Lauf der Zeit selbst aufstellt. Ihr fehlt jede politische Gemeinschaft, die das nötige Fundament politischer Legitimität zur Verfügung stellt, auf dem fiskalische und monetäre Entscheidungen beruhen können« (vgl. Yanis Varoufakis in der Zeit vom 19. Juli 2015). Dies soll sich auch nach den Plänen

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