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Krieg vor der Haustür: Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können
Krieg vor der Haustür: Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können
Krieg vor der Haustür: Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können
eBook284 Seiten3 Stunden

Krieg vor der Haustür: Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können

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Über dieses E-Book

Gewalt und Bürgerkriege nehmen kein Ende. Weltweit sind 66 Millionen Menschen auf der Flucht. Einige von ihnen stellt dieses Buch vor: Zum Beispiel Nadia Murad, die aus der Sklaverei des "Islamischen Staats" im Irak fliehen konnte und 2018 für ihre politische Arbeit gegen den Völkermord an den Jesiden den Friedensnobelpreis erhielt. Aber auch einen brasilianischen Außenminister, einen kongolesischen Warlord, einen ghanaischen Diplomaten und andere mehr – Menschen, die Frieden suchen, und Menschen, die Krieg führen. Ihnen stellen die Autoren eine eindrucksvolle Schilderung der politischen Entscheidungsprozesse gegenüber, die einer haarsträubenden Eigenlogik folgen. Sie machen die Blockaden verständlich, die den Anspruch der "deutschen Verantwortung" und der "Fluchtursachenbekämpfung" hohl klingen lassen.
Was passiert, wenn nichts passiert? Und was muss passieren, damit etwas passiert? Dieses Buch plädiert für eine Außenpolitik, die Gewalt und Krieg nicht nur mit Zelten und Decken, Geld und Waffenexporten begegnet – sondern mit politischen Strategien, die so vielen Menschen wie möglich das Leben retten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Feb. 2019
ISBN9783801270162
Krieg vor der Haustür: Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können
Autor

Sarah Brockmeier

Sarah Brockmeier, geb. 1987, Politikwissenschaftlerin, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Global Public Policy Institute (GPPi), einem unabhängigen, gemeinnützigen Thinktank in Berlin, zur deutschen und europäischen Außenpolitik. Zuvor war sie für die Vereinten Nationen in New York tätig.

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    Buchvorschau

    Krieg vor der Haustür - Sarah Brockmeier

    SARAH BROCKMEIER • PHILIPP ROTMANN

    KRIEG VOR DER HAUSTÜR

    Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    ISBN 978-3-8012-7016-2 (E-Book)

    ISBN 978-3-8012-0548-5 (Printausgabe)

    Copyright © 2019

    by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

    Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

    Cover: Hermann Brandner, Köln

    Satz: TypoGraphik Anette Bernbeck, Gelnhausen

    E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2019

    Alle Rechte vorbehalten

    Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Einleitung: Krieg vor der Haustür

    Kapitel 1: Nadia Murads Geschichte und Deutschlands Blockade

    Kapitel 2: Aussenpolitik auf Autopilot

    Kapitel 3: Vom Autopiloten zur Strategie

    Kapitel 4: Brandschutz statt Feuerlöschen

    Kapitel 5: Neue Welt vor der Haustür

    Kapitel 6: Gerechtigkeit fängt zuhause an

    Ausblick: Weniger Krieg vor der Haustür

    Danksagung

    Anmerkungen

    Über die Autorin / Über den Autor

    Einleitung:

    Krieg vor der Haustür

    N

    adia Murad ist 21 Jahre alt, als sie versklavt, vergewaltigt und von einem Mann zum nächsten verkauft wird, weil sie Jesidin ist und die Fanatiker* des »Islamischen Staates« (IS) ihr Volk als Abtrünnige vom wahren Glauben betrachten. Als ihr Leidensweg beginnt, am 5. August 2014, ist der Vormarsch der brutalen Männer mit den schwarzen Kopftüchern schon lange keine Überraschung mehr. Anfang Januar 2014 haben sie die Stadt Falludscha im Südirak überrannt, im Juni fällt die Stadt Mossul im Norden, nur 120 Kilometer von Nadia Murads Heimatdorf Kocho entfernt.

    Deutschland entdeckt in diesen Monaten noch einmal die Welt. Am 31. Januar, bei der jährlichen Münchner Sicherheitskonferenz, fragt der damalige Bundespräsident Joachim Gauck: »Engagieren wir uns schon ausreichend dort, wo die Bundesrepublik eigens Kompetenz entwickelt hat – nämlich bei der Prävention von Konflikten?« Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen äußern sich ähnlich. In abgesprochenen Grundsatzreden fordern sie, Deutschland müsse »mehr Verantwortung übernehmen« und sich »früher, entschiedener und substantieller« als bisher für Sicherheit und Frieden einsetzen, sowohl im eigenen Interesse als auch als Ausdruck unserer Werte und Überzeugungen.

    Doch auf den Vormarsch der IS-Mörderbanden reagiert die Bundesregierung zunächst mit der Routine der alten Zeiten, in denen man sich auf die Amerikaner verlassen und ihre Fehler bequem von der Seitenlinie aus kritisieren konnte. Die deutschen Medien berichten von Anfang an, ab den ersten Januartagen 2014, fast täglich von »Kämpfen« im Irak. Doch Deutschland bleibt Beobachter, im März können IS-Anhängerinnen ungehindert in Berlin demonstrieren. Erst Ende Juni fragt ein Journalist Außenminister Steinmeier, was zu tun sei. »Ein Eingreifen von außen« werde »den Irak nicht befrieden«, antwortet der, die Lösung liege »in einer Verständigung auf eine inklusive neue Regierung, die alle religiösen und ethnischen Gruppen repräsentiert«. Gute Ratschläge aus Deutschland, die mitten im Bürgerkrieg, vorsichtig ausgedrückt, zumindest nicht kurzfristig umsetzbar sind.

    Anfang August fällt Nadia Murad in die Hände des IS, ihre Brüder und ihr Vater werden hingerichtet. Erst als kein Zweifel mehr besteht, dass da gerade ein Völkermord an der Minderheit der Jesiden im Gang ist, beteiligt sich die Bundesregierung an Waffenlieferungen für die letzten, die in diesem Moment noch gegen den IS kämpfen: die kurdischen Peschmerga-Milizen. Es wird Wochen dauern, bis die erste Lieferung vor Ort ankommt.

    Später sind es vor allem die iranischen Revolutionsgarden und die US-amerikanischen Bomben, die den IS wieder aus den meisten irakischen Städten vertreiben und in den Untergrund zwingen. Waffen und Training für die Peschmerga spielen dabei nur eine Nebenrolle, doch es sind auch die deutsche Militärhilfe und millionenschwere zivile Stabilisierungs- und Wiederaufbauprogramme der Bundesregierung, die dem irakischen Staat die Chance geben zur »Verständigung auf eine inklusive Regierung, die alle religiösen und ethnischen Gruppen repräsentiert« – denn Steinmeier hatte natürlich recht: Ohne politische Verständigung wird es keinen dauerhaften Frieden geben.¹

    Der Terror des IS im Irak und in Syrien hat Millionen von Menschen in die angrenzenden Länder Türkei, Libanon und Jordanien getrieben, von wo aus wiederum sich viele von ihnen 2015 nach dem Beinahe-Zusammenbruch der humanitären Versorgung auf den riskanten Weg nach Europa gemacht haben. Friedliche Flüchtlinge, die nach Europa, nach Deutschland kommen, sind bei weitem nicht die einzige Weise, wie die Gewalt da draußen uns direkt betrifft, direkt vor unserer Haustür. In Brüssel, Paris, Nizza, im mittelfränkischen Städtchen Ansbach wurde dies auf blutige Weise deutlich – und in Berlin, wo der junge Tunesier Anis Amri im Dezember 2016 einen gestohlenen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz steuerte und dabei elf Menschen tötete.

    Die »Flüchtlingskrise« von 2015/16 scheint vorbei, in deutschen Turnhallen wird wieder geturnt, doch es sind immer noch 66 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Die Welt wird nicht mehr friedlicher, sondern wieder tödlicher: 2017 war weltweit das Jahr mit den blutigsten Konflikten seit 1999. Ob Flüchtlinge, Terror oder einfach die ständige Gewalt im Fernsehen: Die Welt »da draußen« betrifft uns ganz direkt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies einmal in ihrer typischen Trockenheit so ausgedrückt: »Es herrscht in vielen Regionen Krieg und Terror. Staaten zerfallen. Viele Jahre haben wir es gelesen. Wir haben es gehört. Wir haben es im Fernsehen gesehen. Aber wir haben damals noch nicht ausreichend verstanden, dass das, was in Aleppo und Mossul passiert, für Essen oder Stuttgart relevant sein kann. Damit müssen wir umgehen, und das wird Veränderungen in unserer Politik mit sich bringen.«²

    Die Bereitschaft, das Interesse ist da. Zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise, zwischen Herbst 2015 und Frühjahr 2016, haben sich rund 11 Prozent der Menschen in Deutschland in der Flüchtlingshilfe engagiert. Das Interesse an Außenpolitik ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen und liegt inzwischen stabil bei über zwei Dritteln der Befragten.³

    Das Gefühl des Kontrollverlusts, die Anschläge und die endlosen Bilder von Krieg und Gewalt bringen aber auch Angst und Verunsicherung. Wie können wir uns schützen? Können wir überhaupt irgendwas tun? Viele Menschen fühlen sich hilflos angesichts des Leids, das über die Fernsehbildschirme flackert.

    Klar wäre es am besten, wenn die Flüchtlinge gar keinen Grund hätten zu fliehen; wenn der nächste Krieg gar nicht erst ausbräche – doch wie soll das gelingen? Zweifel sind angesichts der vielen Misserfolge der Vergangenheit durchaus angebracht: Wie soll das nun plötzlich funktionieren? Können wir von außen, als Deutsche und Europäer, überhaupt etwas an der Gewalt im Nahen Osten oder in Afrika ändern, ist das nicht völlig vermessen? Was steht hinter den vagen Formeln wie »Verantwortung« und »Fluchtursachenbekämpfung«, die Politiker gebetsmühlenartig wiederholen? Was könnten das für »Veränderungen in unserer Politik« sein, von denen die Bundeskanzlerin spricht?

    Diesen Fragen widmet sich dieses Buch. Wir zeigen: Wir sind nicht so machtlos, wie wir uns fühlen, wenn wir die Bilder aus Mossul oder Idlib sehen. Zwar ist unser Einfluss auf Präsidenten, Warlords und Kriegsverbrecher begrenzt. Aber es gibt auch Chancen, die Deutschland und Europa besser nutzen können, um Konflikte zu lösen und Gewalt einzudämmen. Manchmal stehen verkrustete Strukturen im Weg, manchmal fehlen neue Ideen oder auch nur etwas Geld. Und manchmal fehlt ein Signal von uns allen, dass uns die Welt da draußen nicht egal ist. Aus all diesen Gründen bleiben die deutsche und die europäische Außenpolitik noch unter ihren Möglichkeiten.

    Dabei geht es nicht um einen größenwahnsinnigen Anspruch, demnächst alle Fluchtursachen beseitigt zu haben. Es geht uns auch nicht darum, jahrzehntelange gesellschaftliche Debatten zu lösen – ob wir keine Waffen mehr exportieren dürfen, ob wir unseren Konsum massiv einschränken müssen zugunsten fairer Handelsbedingungen oder zur Anpassung an den Klimawandel. Das sind wichtige und dringende gesellschaftliche Debatten, die aber weit über unsere persönliche Expertise hinausgehen und von denen wir vermuten, dass sie noch viele Jahre ungelöst bleiben werden – und darum auch leider nichts beitragen können, um in diesem oder im nächsten Jahr die Zahl der Kriegstoten und Vertriebenen zu reduzieren. Doch wir sind der Gewalt nicht machtlos ausgeliefert. Deshalb wollen wir hier in diesem Buch beschreiben und erklären, was wir bereits jetzt, mit bestehenden gesellschaftlichen Mehrheiten und dem pragmatischen Ehrgeiz des Machbaren, erreichen können.

    In diesem Sinne möchte dieses Buch auch ein bisschen Hoffnung machen in einer Weltlage, in der viele Menschen verunsichert sind. Ob als Politikerinnen, Diplomatinnen oder Entwicklungshelfer; als Polizeibeamte, Soldatinnen oder Wissenschaftler; als interessierte Bürger: Wir können etwas bewegen, und es kommt auch auf uns an.

    Welt im Chaos

    Nach bald 75 Jahren Frieden und knapp 30 Jahren Einheit haben wir in Deutschland einen gewissen Nachholbedarf, Gewalt und Krieg irgendwo anders ernst zu nehmen und ebenso pragmatisch wie ehrlich zu diskutieren. Als Reaktion auf die historische Schuld Deutschlands haben wir die Probleme der Welt nur zu gern der Hoffnung auf das Völkerrecht, auf die Vereinten Nationen oder auf die Vereinigten Staaten von Amerika überlassen – und dann von der Seitenlinie aus kritisiert, wenn das Ergebnis unseren Ansprüchen nicht gerecht wurde.

    Dass diese Haltung angesichts der wirtschaftlichen und politischen Stärke Deutschlands und der Größe der Herausforderungen nicht mehr ausreicht, hat damals, als die meisten noch das Gefühl hatten, alles wäre gut, Joachim Gauck als Bundespräsident immer wieder deutlich gemacht. Mit einer aktiveren, anspruchsvolleren Rolle müsse Deutschland, so Gauck 2014, von einem »Nutznießer zu einem Garanten internationaler Sicherheit und Ordnung« werden.

    24 Jahre nach der Wiedervereinigung wurde Gauck ungeduldig: »Es ist eine mühsame Wanderung auf gewundenem Pfad. Wer aber die kleinsten Schritte für die besten hält, wird kaum mithalten können mit dem rasanten Wandel der Bedrohungen«, mahnte er bei der Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz Ende Januar 2014. »Tun wir, was wir könnten, um unsere Nachbarschaft zu stabilisieren, im Osten wie in Afrika? Tun wir, was wir müssten, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen?«, fragte der damalige Bundespräsident. »Tun wir, was wir sollten, um neue und wiedererstarkte Großmächte für die gerechte Fortentwicklung der internationalen Ordnung zu gewinnen? Ja, interessieren wir uns überhaupt für manche Weltgegenden, wie es die Bedeutung dieser Länder verlangt?«

    Gerade diese Risse und Veränderungen in dem großen Ganzen, das wir abstrakt als »Weltordnung« zusammenfassen, schlagen sich in diesen ungeordneten Zeiten in Krisen, Konflikten und Gewalt nieder. Da reicht es nicht mehr, nur in einzelnen Bereichen, wie in der Klima- oder Handelspolitik, Führung zu übernehmen. Gauck forderte nicht weniger als eine Wiederentdeckung der Sicherheitspolitik in einer neuen Form – als Politik, die vorbeugend gestaltet, statt nur zu reagieren: »Engagieren wir uns schon ausreichend dort, wo die Bundesrepublik eigens Kompetenz entwickelt hat – nämlich bei der Prävention von Konflikten? Ich meine: Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen.«

    Gauck wollte eine Debatte anstoßen, auch provozieren, um Deutschland aus seiner wohligen außenpolitischen Selbstzufriedenheit zu reißen. Als er am 31. Januar 2014 seine Münchner Rede hielt, konnte er nicht wissen, wie schnell sich die Ereignisse überschlagen würden. Der Vormarsch des IS im Irak war schon im Gange. Nur vier Wochen später begann Russland mit der Destabilisierung der Krim, die es später völkerrechtswidrig annektieren sollte. In der Ostukraine begannen prorussische Kämpfer einen Krieg in der direkten europäischen Nachbarschaft, der weiterhin andauert. Im Sommer 2014 überfielen die Schergen der Terrormiliz Islamischer Staat das Siedlungsgebiet der Jesiden im Nordirak. Plötzlich standen die IS-Truppen kurz vor Bagdad und hatten weite Teile des Irak und Syriens unter ihrer Terrorherrschaft. In Syrien tobte ohnehin schon seit 2011 ein blutiger Bürgerkrieg, in dem weder das Regime noch einige seiner Gegner vor schweren Kriegsverbrechen zurückschreckten. Mit mehr als einer Million Flüchtlingen kamen im Sommer und Herbst 2015 die Folgen der Kriege im Nahen Osten auch in Deutschland an. Und Terroranschläge in Paris, Brüssel, Nizza, Ansbach und Berlin 2015 und 2016 zeigten die Reichweite des Terrornetzwerks Islamischer Staat auch im Herzen Europas. Während der IS 2017 im Irak weitestgehend zurückgeschlagen werden konnte, ging das Morden in Syrien weiter. Bilder von zerstörten Städten und zahllosen Opfern in Aleppo oder Ghouta, von Chemiewaffenangriffen und zerbombten Krankenhäusern flackerten über die deutschen Fernsehbildschirme.

    Weit weg von den europäischen Hauptstädten und meist unter ihrem Radar passierte noch viel mehr: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Südsudan, in der Zentralafrikanischen Republik oder Nigeria, systematische ethnische Säuberungen in Myanmar seit 2017 – all dies tauchte jedoch nur sehr vereinzelt in unseren Fernsehnachrichten auf. Massaker und Vertreibungen im Kongo schafften nicht mal das. Und wo waren die Vereinten Nationen und all die anderen internationalen Institutionen, die dafür da sind, Kriege und Gräueltaten möglichst zu verhindern oder zumindest zu beenden? Auch das wurde in den letzten Jahren deutlich: Sie sind kaum mehr handlungsfähig, wenn es auf sie ankommt. Zum Beispiel in Syrien: Assad und Putin pfeifen auf das Völkerrecht, die Kämpfer und Terrorzellen des IS sowieso. Nach mehr als acht Jahren Krieg und einer halben Million Toten findet der UN-Sicherheitsrat immer noch keinen gemeinsamen Ansatzpunkt für eine Lösung.

    Das liegt auch daran, dass die globale Ordnung immer komplizierter wird. Nicht nur Russland, auch China, Brasilien, Südafrika oder Indien wollen nicht mehr nur nach den Regeln des Westens spielen – Regeln, die der Westen oft genug selbst verletzt hat. Sie fordern mehr Mitbestimmung bei der Gestaltung der globalen Regeln, und zwar genauso selbstbewusst, wie es bisher nur die USA und Europa getan haben. Immer mehr Regierungen, auch im Westen, wollen unbequeme Freiheits- und Menschenrechte umgehen oder über Bord werfen. Die gemeinsame Basis der Grundregeln, die nicht nur auf dem Papier stehen, sondern für die mächtige Staaten praktisch einstehen, wird dadurch immer dünner. Das merken auch die Kriegsfürsten und Gewaltprofiteure, deren Respekt vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und seinen Friedensmissionen, vor Haftbefehlen, Reise- und Kontensperren deutlich abgenommen hat.

    Mehr Zäune und Mauern und alles wird gut?

    Als wäre all das noch nicht genug Chaos, kommt 2016 der Doppel-Schock zuhause im Westen dazu. 23. Juni: Die Briten wollen raus aus der Europäischen Union. 8. November: Die Amerikaner wählen einen Präsidenten, der in vielerlei Hinsicht die Grundwerte des Westens verhöhnt und vom Pariser Klimaabkommen bis zum Iran-Deal einen wichtigen internationalen Vertrag nach dem anderen aufkündigt. In Deutschland schafft die AfD den Einzug in ein Parlament nach dem anderen. Seit dem Herbst 2018 ist sie in allen 16 Landtagen und im Bundestag vertreten.

    Plötzlich steht alles auf dem Spiel. Wird die EU zerbrechen? Bleiben die USA ein verlässlicher Partner? Und wenn jetzt alle Mauern bauen, bleibt uns was anderes übrig, als uns auch hinter Zäunen zu verschanzen? Alle Selbstverständlichkeiten brechen weg, nirgends gibt es absolute Sicherheit. Die EU hat seitdem alle Hände voll damit zu tun, nicht auseinanderzufallen. In Ungarn und Polen stellen die Regierungen zentrale Prinzipien wie die Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit von Justiz und Medien in Frage.

    Die Brexit-Entscheidung, die Wahl Donald Trumps in den USA und das Wachstum rechtspopulistischer Bewegungen in Europa haben gemeinsam, dass sie von der Angst leben: Angst vor Unsicherheit, vor Vielfalt, vor Veränderung, vor dem Verlust von Gewissheiten. Das sind Folgen der Globalisierung, durch die unsere Welt von heute wirtschaftlich, sozial und technologisch viel dichter vernetzt ist als die der achtziger oder neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

    Nicht nur Waren, auch Menschen sind mobiler geworden, Nachrichten und Bilder sowieso. Vor allem Deutschland, aber auch Europa ist dabei immer reicher geworden: Viele Menschen bei uns können sich nur deshalb ihren relativen Wohlstand leisten, weil andere Menschen, Firmen und Regierungen, vor allem in Asien, sehr viel Geld ausgeben, um unsere teuren Produkte zu kaufen. Aber nicht alle haben etwas davon. Und schließlich ist die Zukunft wirklich ungewiss: Auch wer heute noch von maximaler Absicherung profitiert, hat oft Kinder, die angesichts globaler Konkurrenz für mehr Arbeit weniger Geld, weniger Sicherheit und weniger Rente zu erwarten haben.

    »Take back control«, die Kontrolle zurückgewinnen: Der Slogan der Brexit-Bewegung bringt die politische Scheinlösung auf den Punkt, mit der Rechtspopulisten von Donald Trump bis zur AfD aus diesen Sorgen Kapital schlagen. Ob »America First« (Trump) oder »Deutschland zuerst« (AfD) – wie wär’s, »wir wahre Deutsche/Amerikaner/Briten/etc.« würden uns einfach mal auf die Probleme zuhause konzentrieren, die Grenzen dicht machen und die Krisen in der Welt sich selbst überlassen? Das klingt für viele Menschen plausibel, wie die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in Deutschland und in noch größerem Umfang in anderen europäischen Staaten zeigen.

    Nur ist es eben eine Scheinlösung, die einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Denn den relativen Wohlstand, die relative Sicherheit, die Freiheit, die wir genießen, gibt es nur wegen der vernetzten Welt, wegen gegenseitiger Sicherheitsgarantien und einer regelbasierten Weltordnung – nicht trotz dieser Rahmenbedingungen. Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von Globalisierung und Vernetzung, vor allem mit den Ländern der Europäischen Union. Europäer kaufen 60 Prozent unserer Exporte und liefern 58 Prozent unserer Importe. Aber auch Europa als Ganzes ist keine Insel: Wir leben alle zusammen von Vernetzung und Globalisierung. Ohne weltweite Lieferketten wäre unser komfortables Leben vom Auto bis zum Smartphone nicht denkbar.

    Wenn Europa aber keine Insel ist, dann können wir uns den Folgen der politischen, militärischen, ökologischen, wirtschaftlichen Konflikte der Welt allen Zäunen, Mauern und Marshallplänen für Afrika zum Trotz nicht vollkommen entziehen. Wenn Menschen vor Krieg und Vertreibung zu uns fliehen, weil ihnen zuhause der Tod droht, und wenn die Gewalt irgendwo anders auf der Welt Einzelne in Europa dazu motiviert, Lastwägen in Weihnachtsmärkte zu fahren oder Clubs in die Luft zu sprengen, dann stehen die Auswirkungen der Konflikte bei uns vor der Haustür. Wir sind im doppelten Sinn betroffen: Terrorangriffe in Europa betreffen natürlich unsere Sicherheitsinteressen, aber auch Gewalt und Krieg tausende Kilometer entfernt schlägt sich über höhere Kosten in den Bilanzen unserer global verflochtenen Unternehmen nieder. Gleichzeitig sind wir persönlich, emotional betroffen: Im Fernsehen oder auf Facebook erschüttert uns das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, der am 2. September 2015 auf der Flucht aus Syrien vor der türkischen Mittelmeerküste ertrunken ist. Oder die Bilder von Menschen, die mit Chlor oder Sarin auf offener Straße vergast wurden. Was sind die Menschenrechte, europäische, westliche oder universelle Werte wirklich wert, wenn sie letztlich doch nur für uns gelten? Gerade wenn wir an vielen Konflikten nicht ganz unschuldig sind – wenn unsere Agrar-, Handels- oder Rüstungspolitik den Kampf um Ressourcen in anderen Teilen der Welt mit anheizt und mit Waffen versorgt. Was sind uns unsere Werte dann wirklich wert, wenn wir nicht einmal versuchen, über ein paar Decken und Flüchtlingscamps hinaus das Realistische, das Mögliche zu tun, um das Schlimmste zu verhindern und das Leiden der Anderen zu mildern?

    Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte haben wir auch eine besondere Verantwortung, uns zu engagieren – nicht nur zuhause gegen Rechts. »Nie wieder Auschwitz« kann nicht nur in Deutschland

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