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Glasglockenleben
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eBook699 Seiten9 Stunden

Glasglockenleben

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Über dieses E-Book

Anja Raab fühlt sich nicht als Manager-Tussi, ist aber sehr stolz auf ihr turbulentes, erfolgreiches Arbeitsleben mit all seinen abstrusen Auswüchsen. Sie glaubt, sie habe mit ihrer familiären Vergangenheit abge-schlossen, doch dann kommt alles ganz anders …

Wieder zurückkatapultiert versucht sie, es ihren Eltern rechtzumachen, und muss doch sehen, dass das Leben ihrer Eltern in einer immer digitaleren Welt unter ihren Händen zerbröselt. Zwischen Arbeitsstress, Geschwisterneid und skurrilen Begebenheiten mit ihrer Umgebung nach einschneidenden Erlebnissen gerät auch sie an die Grenzen des Machbaren.

Die Autorin beschreibt aus ihrer Ich-Perspektive in einem scharfzüngigen Stil ein sehr wichtiges Thema, mit dem sich niemand freiwillig beschäftigen möchte: Sterben müssen wir alle einmal. Das Buch vereint in spannender Weise den Tod und die Nachlassregelung, gepaart mit Familienzwist und Arbeitsleben.
SpracheDeutsch
Herausgebernet-Verlag
Erscheinungsdatum9. Dez. 2021
ISBN9783957203298
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    Buchvorschau

    Glasglockenleben - Anja Raab

    Glasglockenleben

    Anja Raab

    Alle Rechte, insbesondere auf

    digitale Vervielfältigung, vorbehalten.

    Keine Übernahme des Buchblocks in digitale

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    ohne Zustimmung des Verlages.

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    geschützt und dürfen nur mit Zustimmung

    der Künstler verwendet werden.

    Alle im Buch vorkommenden Personen, Schauplätze, Ereignisse

    und Handlungen sind frei erfunden.

    Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen

    sind rein zufällig.

    www.net-verlag.de

    Erste Auflage 2021

    © Text: Anja Raab

    © Coverbild: Mohamed Hassan von Pixabay &

    Andrei Kuzmik von 123RF

    Covergestaltung: net-Verlag

    © net-Verlag, 09117 Chemnitz

    printed in the EU

    ISBN 978-3-95720-328-1

    eISBN 978-3-95720-329-8

    Für alle, die auch immer erst manche Fragen stellen,

    wenn es schon längst zu spät ist.

    Für alle, die auch denken,

    dass das Leben unendlich endlich ist.

    Für alle, die die Kombination von Alltagsstress

    und zersplitterndem Glasglockenleben

    nicht für einen Smoothie halten.

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Mein ganz normales Leben

    Irgendwann hat alles einen Anfang

    Zurück nach Deutschland

    Hinter den Kulissen

    Zwischen Job und Rosi

    Der Treppenlift ist im Weg

    Am Ende fängt etwas Neues an

    Rosis und Friedrichs Weg

    Zwischen Amtsschimmel & Shopping-Wahn

    Wohnsitz Hauptfriedhof, 3. Gang links

    Da stimmt etwas nicht

    Das Gleiche so anders

    Das ist ja irre

    Ereignisse der dritten Art

    Das Haus muss leer werden

    Der Hausverkauf und seine Tücken

    Der harte Countdown

    Und was kommt jetzt?

    Nachwort

    Danksagung

    Über die Autorin

    Hauptpersonen

    •Anja und Michael Raab

    •Dagmar Hartmann-Birro und Wilfried Birro

    •Dagmars Kinder: Claudius, Juliane und Bastian

    •Rosi (Rosalind), geborene Thalin, und Friedrich Hartmann

    •Dietmar und Regina Walther, die liebsten Nachbarn der Welt

    •Arthur und Susanne, Friedrichs Bruder und seine Frau

    •Wilhelmina Seyfried, Immobilienmaklerin

    •Daniel Bremer und Elsa, die zweitliebsten Nachbarn der Welt

    •Evelyn und Kristof S., Käufer

    •Barbara, Freundin

    •Dora, Rosis Zwillingsschwester

    •Hermann, Doras Mann

    •Dr. Peters »Psücho«, Psychotherapeut

    Prolog

    Es ist alles immer so weit weg. »Das passiert anderen, aber doch nicht mir!« Irgendwann habe ich diese Haltung Glasglockenleben getauft und bin jetzt nachdenklicher geworden, denn es nutzt nichts, das Älterwerden wegzuschieben. Das geht sozusagen jeden etwas an; nicht nur wegen der Zipperlein, die unweigerlich immer mehr werden. »Ich habe Rücken«, ist so der süddeutsche Klassiker, der bedeutet: »Ich habe Rückenschmerzen.« Es geht natürlich auch um unsere Finanzen. Als wir selbst jung waren, war das Thema private Altersvorsorge noch nicht so im Fokus, wie es das heute ist. Es war sogar eher gar kein Thema. Die Wirtschaft wuchs, und niemand beschwerte sich darüber, während des arbeitsreichen Lebens in eine Rentenkasse einzuzahlen. Dank des Generationenvertrags zahlen wir Jungen für die Alten, und wenn wir einmal alt sind, dann zahlen wieder die Jungen für uns Alten.

    Nun sind ein paar Jahrzehnte vergangen, ich habe fleißig in die Rentenkasse eingezahlt – und tue es noch – aber die Diskussionen über den Generationenvertrag sind lauter geworden. Längst ist klargeworden, dass die demografische Entwicklung mit viel zu wenigen jungen Generationen dazu führt, die Rentenkassen für die immer älter werdenden Alten nicht ausreichend füllen zu können. Längst ist das Thema Altersarmut nicht mehr zu übersehen, und längst wird in der Politik über eine Einheitsrente diskutiert. Es ist nicht mehr wegzudiskutieren, dass Rentner früh morgens auf der Straße sind, um Pfandflaschen als Zubrot einzusammeln, die andere achtlos weggeworfen haben. Trotzdem scheint meine eigene Rente noch so weit entfernt, dass es schwer vorstellbar ist, die Altersarmut würde mich einmal selbst treffen. Es gibt so Dinge im Leben, die allen anderen passieren können – aber doch nicht mir selbst, oder?

    Meine Eltern haben mir die Sparsamkeit vorgelebt. Mein Herr Papa war der Alleinverdiener in unserer fünfköpfigen Familie, und meine Frau Mama hat erst den Pfennig und dann den Cent dreimal umgedreht und sorgsam darauf geachtet, dass das eigene Haus auch abbezahlt werden konnte. Herr Papa zahlte fleißig in die Rentenkasse ein und gehört zu den Jahrgängen, die davon noch echten Nutzen haben sollten. Als mein Vater dann tatsächlich in Rente gegangen ist – auch das kam mir damals unglaublich vor, und ich fühlte mich auf einmal selbst uralt – unternahmen meine Eltern viel in ihrer gemeinsamen Freizeit. Mein Vater gründete darüber hinaus mit Studenten eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, und sie bauten ein Windkraftwerk. Er begann mit Polnisch-Kursen, und alles sah so aus, als ob das ewig so weitergehen würde. Mein Vater hatte also eine gute Rente, und ein wenig beneidete ich ihn um seinen wohlverdienten Ruhestand, während ich beruflich durch die Gegend raste, um mir irgendwann einmal ebenfalls meine Rente verdient zu haben. Falls es das dann noch geben würde. »Entweder hat man Geld und keine Zeit, es auszugeben – oder man hat Zeit und kein Geld, um sie zu nutzen.«

    Meine Eltern hatten nun beides. Genug Zeit und genug Geld. Und sie hatten das Wichtigste überhaupt: genug Gesundheit, um diese Rentenzeit auch genießen zu können. Jeder lebte sein Leben weiter, und alles war im Lot. Niemand dachte daran, dass das Leben endlich ist. Meine Eltern hatten ihr Auskommen, und aus der Entfernung sah für mich alles gut aus, wie es war.

    Nun, das war wohl ein Irrtum. Das Glasglockenleben sollte ein jähes Ende finden. Ist es nicht auch so, dass Weihnachten jedes Jahr sehr überraschend auf einmal vor der Tür steht? Ist es nicht auch so, dass für Finanzleute jedes Jahr noch überraschender der Jahresabschluss in Form des Wirtschaftsprüfers vor der Tür steht? Gevatter Tod ist demgegenüber vielleicht tatsächlich eine echte Überraschung – auch wenn sich durch Krankheit schon abgezeichnet hat, dass er nur noch eine Weile warten würde. Kommt er dann tatsächlich, ist es endgültig. Auch wenn jeder damit gerechnet hat, so bleibt die Frage: Warum denn gerade jetzt? Warum nicht erst nächstes Jahr?

    Wir bleiben zurück und fühlen uns allein. Wir denken darüber nach, ob wir die Zeit genutzt haben, dem noch Lebenden alles gesagt zu haben, was wir ihm gerne gesagt hätten. Neben der Frage »Warum gerade jetzt?« beschäftigen wir uns mit der Frage, ob wir mit dem Verstorbenen im Reinen waren. Wieso will auch ich gar nicht wissen, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn nach fünf Jahrzehnten Ehe mein Partner vor mir versterben würde? Wieso verdränge auch ich den fast unwiderruflichen Fakt, dass immer einer zuerst gehen muss? Was macht dann der Zurückgebliebene?

    Ich wähle eine pragmatische Betrachtung und kommentiere weise dazu: »Es kommt darauf an«. Es kommt darauf an, wie die partnerschaftliche Arbeitsteilung ausgesehen hat. Mir kommen unzählige Krimis in den Sinn, wo eine Witwe die Augen niedergeschlagen und gemurmelt hat: »Über die finanziellen Dinge hatte ich keinen Überblick.« Mir kommt auch in den Sinn, wie groß meine Bedenken waren, als ich mich mit Mitte 20 von meiner ersten großen Liebe getrennt habe. Arbeitsteilung. Ob ich es wohl verlernt habe, in Zukunft wieder selbst die Bohrmaschine zu schwingen, die Reifen vom Auto zu wechseln oder Möbel zusammenzuschrauben? Alles Quatsch, ich habe nichts verlernt, und im Übrigen war es für mich klar, dass ich niemals jemand anderem den alleinigen Überblick über meine finanzielle Situation überlassen würde.

    Na ja. Früher war es normal, dass die Frau den Haushalt führte und die Kinder großzog. Oft ging es damit einher, dass der Geld verdienende Mann auch den alleinigen Überblick gehabt und sich um alles Finanzielle gekümmert hat. Und dann passiert es. Peng! Weg ist der Partner. Und du blickst auf einmal allein in eine Welt, die sich rasant schnell digitalisiert hat und sich immer schneller weiterdigitalisiert, und du weißt gerade mal, wo man den Computer ein- und wieder ausschaltet.

    Ich versuche auch heute noch, diese Situation zu verstehen, und schiebe jedes Mal resigniert den Bürostuhl von meinem Schreibtisch weg, um die Gedanken darüber abzuschalten. Was in der Zukunft wohl noch alles digitalisiert und auch für mich unverständlich werden wird, sodass auch ich nicht mehr hinterherkomme? Irgendwann werden uns jüngere Generationen mit großen Augen anstarren, wenn wir über eine Computertastatur erzählen. »Tastatur? Was ist das denn?« Genauso wie es heute schon ist: »Walkman? Diskette? Video-Kassette?« Wer kennt denn heute noch das Straßenbild auf Autobahnen, auf dem das dunkle Magnetband einer verhedderten Musik-Kassette abgewickelt an der Leitplanke im Wind geflattert hat?

    Mein ganz normales Leben

    Job ist Job

    Im Schlafzimmer von meinem Mann Michael und mir gibt es keine tickenden, mechanischen Wecker mehr. Ich habe einen Uhren-Knall und im ganzen Haus digitale Funkuhren verteilt, und so sind natürlich auch die Wecker auf den Nachttischen eher halbe Raumstationen, die nicht nur die Uhrzeit anzeigen und eine Weckfunktion haben, sondern gleich auch als Wetterstation fungieren und mit dem leuchtenden Display wie ein Raumschiff durch die Dunkelheit leuchten.

    Dunkelheit ist bei uns daher relativ, denn die leuchtenden Displays spenden genug Licht, dass man gut auf das Einschalten der altmodischen Nachttischlampe verzichten kann, wenn man mal nachts austreten muss. Völlige Dunkelheit habe ich noch nie gemocht und kann so gar nicht nachvollziehen, dass manche ihre Außenjalousien komplett nach unten fahren, um die Außenwelt auszusperren. Mich versetzt so etwas lediglich in einen Zustand der Unruhe, wenn ich nicht mitbekomme, dass es draußen langsam hell wird und ein neuer Tag beginnt. Da scheiden sich die Geister und mitunter auch Beziehungen. Glücklicherweise ist es meinem Mann Michael egal, und er kann gut damit leben (schlafen), wenn die Jalousien im ersten Stock so gut wie nie nach unten gezogen werden. Höchstens mal, wenn tagsüber die Sonne an der Südseite hereinbrennt, und die Jalousien als Sonnenschutz herhalten müssen.

    Unabhängig von nach unten gezogenen oder geöffneten Jalousien kann ich seit einigen Jahren in einer wöchentlich wiederkehrenden speziellen Nacht grundsätzlich nicht mehr gut schlafen. Wahrscheinlich bin ich damit nicht einmal allein, denn die Nacht von Sonntag auf Montag beendet das Wochenende und kündigt eine neue lange und anstrengende Arbeitswoche an.

    Früher war das nicht ganz so schlimm. Da bin ich um 7:30 Uhr aufgestanden, um Viertel vor neun ins Auto gestiegen und war um neun am Arbeitsplatz. Das ist aber schon lange Schnee von gestern. Wie jeden Sonntag verlasse ich also sehr früh am Abend das Wohnzimmer im Erdgeschoss und ziehe mich zurück ins Schlafzimmer im Obergeschoss, um noch ein bisschen im Bett fernzusehen und dann zu schlafen. Das heißt, ich versuche zu schlafen. Wie jeden Sonntag habe ich das Gefühl, ich würde etwas verpassen, und zappe die üblichen TV-Sender durch, um nur noch schnell die Reportage zu Ende zu sehen.

    Natürlich ist es ruckzuck doch wieder 23 Uhr, und ich werfe frustriert die Fernbedienung zurück auf den Nachttisch. In fünf Stunden muss ich wieder aufstehen, obwohl mein Beruf weder Bäcker lautet noch sonst ein Handwerk, was mit frühem Aufstehen zusammenhängt. Fünf Stunden sind mir zu wenig, und mit dem Gedanken schlafe ich ein, um fast jede Stunde wieder aufzuwachen und mit einem vorsichtigen Schielen auf den Wecker nachzurechnen, wie viel Zeit mir noch bleibt, um zu schlafen. Dieses stündliche Nachrechnen versaut mir meine Laune dann vollends, und beim nächsten vorsichtigen Blick auf die digitalen Ziffern sehe ich, dass der Wecker in fünf Minuten lospiepsen wird.

    Ich brauche mich gar nicht zu meinem Mann Michael umzudrehen, denn an seinen leisen Schnarchgeräuschen höre ich, dass er noch tief und fest schläft. Ich muss wohl doch ein bisschen geschlafen haben, denn ich habe nicht mitbekommen, wann er zum Schlafen ins Schlafzimmer geschlichen ist.

    Es hilft alles nichts, also kille ich den Wecker, bevor er seinen ohrenbetäubenden Weckruf loslässt, schleiche nun meinerseits leise aus dem Schlafzimmer und schließe die Schlafzimmertür hinter mir. Es fühlt sich im Haus kühl an, aber der Blick auf das nächststehende Thermometer zeigt mir, dass es 23 Grad sind. Ich bin kein Winterfan, und meine Müdigkeit an diesem dunklen Februarmorgen trägt bestimmt zu meinem Frier-Gefühl mit bei. Ich schnappe mir die dicke Wolljacke und schlüpfe in meine Hausschuhe, um meine Geister bei Kaffee und Sudoku-Rätseln unten in der Küche im Erdgeschoss zu wecken. Vorher braucht mich niemand anzusprechen.

    Während die Kaffeemaschine läuft, grabsche ich mir zusätzlich die warme Wellensteyn-Jacke vom Garderobenhaken im Flur und schleiche mich möglichst leise wieder zurück Richtung Wohnzimmer mit der riesigen Terrasse davor, um draußen eine zu rauchen. Michael raucht überhaupt nicht und ich seit rund zehn Jahren nicht mehr drinnen. Egal, wie das Wetter ist.

    Februar. Nachdenklich blase ich die Rauchwolken in die undurchdringliche Dunkelheit, die ich auch bei größter Mühe nicht mit meinen Blicken durchdringen kann. Das Licht der Straßenlaternen auf der Vorderseite des Hauses dringt nicht nach hier hinten auf die Gartenseite. Es ist wieder klirrend kalt, aber diesen Winter hat es noch nicht ein einziges Mal nennenswert geschneit. Von mir aus kann das so bleiben. Schnee ist nur für diejenigen eine Freude, die nicht gleich wieder rund 400 Kilometer in die Schweiz fahren müssen. Natürlich tut es mir für den Wintersport-Tourismus speziell in der Schweiz leid, denn auch dort ist bis jetzt in diesem Jahr der Schnee ausgeblieben. In normalen Wintern ist Zürich im Schnee versunken.

    Februar. Bald wird wieder alles anders werden. Wie schon so oft in meinem Leben. Ich habe in absehbarer Zeit noch zwei Wochen Resturlaub und werde mit dem Resturlaub Mitte März das Unternehmen verlassen. Mit diesem Montag habe ich noch drei weitere Montage und anschließende Arbeitswochen zu überstehen. Diese Woche werde ich dem ekligen Projektleiter sagen, dass ich das Projekt bald verlasse. Dass ich sogar das ganze Unternehmen verlasse, das wird er schon selbst merken.

    Es ist so weit. Mein Blick fällt auf die Mühen des vorhergehenden Sonntagnachmittags, den Kabinenkoffer, den ich gestern noch fertiggepackt habe für die kommende Woche und der nun darauf wartet, von mir in den Kofferraum meines Kombis geladen zu werden. Habe ich an alles gedacht? Vor meinem geistigen Auge tauchen noch einmal die warmen Sachen auf, die ich hineingeworfen habe.

    Februar. Bis zum Frühling ist es hoffentlich nicht mehr weit.

    Die Dunstschwaden der feuchtkalten Nacht ziehen wenig später auf der Autobahn an mir vorüber. Die Strecke ist bis zur Schweizer Grenze immer nur schnurgerade und todlangweilig.

    Aber dadurch, dass ich so früh losfahre, ist wenigstens der Berufsverkehr noch nicht so störend, dass er mich an meinem rasanten Straßen-Tiefflug hindern könnte. Die kalte Morgenluft zieht unangenehm in das Auto, als ich die Scheiben herunterfahre, um endlich eine Zigarette zu rauchen.

    Wieder beschleicht mich das unangenehme Gefühl, dass sich Vieles ändern wird. Der Job, ja gut. Darüber machte ich mir weniger Sorgen. Ich habe nicht zum ersten Mal in meinem Leben den Job gewechselt. Viel mehr Sorgen mache ich mir über meine alten Eltern, Friedrich und Rosi. Heute ist der Tag, an dem Friedrich im Alter von 84 Jahren operiert werden soll. Eigentlich der Klassiker bei alten Menschen, es dreht sich um einen verschleppten Oberschenkelhalsbruch, und nun setzen die Ärzte ihm eine künstliche Hüfte ein. Würde mein Vater diese Operation überstehen? Wenn nicht, was würde meine Mutter Rosi nach so langer Ehe mit Friedrich wohl ohne ihn machen?

    Die Uhr im Auto zeigt mittlerweile 7:30 Uhr, und ich habe die gerade, langweilige Strecke in Deutschland hinter mich gebracht. Das Morgengrauen hat schon eingesetzt, und gleich werde ich die Autobahn Richtung Lörrach verlassen, um die Grenze bei Rheinfelden zu überqueren und die übervolle Stadtautobahn durch Basel vermeiden. Ich kenne die letzte Autobahnraststätte vor der Schweizer Grenze recht gut. Sie ist ziemlich groß, man kann dort die Vignetten für die Straßen-Maut kaufen, auf Toilette gehen und die Gutschriften-Bons sammeln. Zahle 70 Cent und nimm den 50-Cent-Bon zur Anrechnung mit zur Kasse, wenn du etwas eh schon Überteuertes kaufen möchtest. Mein Stop-and-go an der Raststätte ist in der Regel immer nur der Toilettengang ohne Kaufen, und so habe ich mein Portemonnaie voller Bons.

    Kurzentschlossen setze ich den Blinker, um auch dieses Mal im Morgengrauen die Toilette zu benutzen, sammele meinen neuen Bon ein und inspiziere anschließend den angrenzenden Shop. Ich habe dieses riesige Regal voller Plüschtiere schon oft genug gesehen. Zielsicher gehe ich darauf zu und greife nach einer grünen Schlange, die anderswo sicher auch für vier Euro zu haben wäre, hier aber zehn Euro kostet. Ich blättere meine Wert-Bons hin.

    Ab in die Jugend

    Die Plüschschlange findet ihren Platz auf der Ablage vor meiner Windschutzscheibe, dann starte ich erneut den Motor. »Friedrich, das ist dein Glücksbringer. Ich hoffe, dass du die Operation mit der anschließenden Reha gut überstehst. Aber ich muss ehrlich sein, ich weiß gar nicht, ob es gut ist, wenn du aus dieser OP wieder aufwachst.« Was, wenn es ein Schrecken ohne Ende wird und kein Ende ohne Schrecken?

    Nach dem erneuten Motorstart und der nahenden Grenze muss ich mich zwingen, mich auf meinen Job zu konzentrieren und damit auf die vor mir liegende Woche.

    Als ich im Juni letzten Jahres das erste Mal in Zürich aufgetaucht bin, um bei einem Projekt einer großen Schweizer Bank mitzuarbeiten, bin ich begeistert gewesen. Ich nistete mich in einem Hotel in der Nähe des Projektgebäudes ein und stellte fest, dass der Züricher See nur zwei Tramstationen von meinem Hotel entfernt war. Hier würde ich wohl die meiste Zeit der Projektarbeit kampieren. Gegenüber von meinem Hotel sind einige Billig-Restaurants mit Sitzmöglichkeiten auf einer Terrasse. Der Schweizer Franken steht im Verhältnis zum Euro gerade mehr oder weniger eins zu eins, was das Leben für einen Deutschen in der Schweiz noch teurer werden lässt als ohnehin schon. Meine anfängliche Begeisterung ist nun schon längst der harten Realität des Projektgeschäfts gewichen. Ziele darf man hoch ansetzen, wenn sie mit Anstrengung doch noch erreichbar sind. Die Ziele dieses Projektes waren sogar noch mehr als absurd, und so tut es mir heute wirklich nicht leid, die anderen bald zurückzulassen auf diesem sinkenden Schiff. Früher oder später werden da Köpfe rollen. Ich bin dann schon weg.

    An der Grenze werde ich wieder nicht angehalten und kann freundlich lächelnd an den Grenzern vorbeifahren. Danke, Schengener Abkommen! Ab jetzt gilt es, haargenau das Tempolimit einzuhalten. Hier gibt es keine Strecken ohne Geschwindigkeitsbegrenzung wie bei uns in Deutschland. Die Strafen bei Überschreitung des Limits sind so drastisch, dass ich meinen Bleifuß im Zaum halte.

    Mein Blick fällt auf die Kilometeranzeige meines alten Audis. Dreizehn Jahre ist er nun alt, und der Kilometerstand von 277.777 Kilometern blinzelt mir in der Morgendämmerung entgegen.

    »Fährst du eigentlich immer noch deinen alten Audi?«, klingt die stete Frage von meinem Onkel Arthur – Friedrichs Bruder – in mir nach. Ich krause bei dem Gedanken die Nase und denke verächtlich darüber nach, für wie viele Menschen ein Auto offensichtlich ein Status-Symbol ist.

    Mich verbindet etwas mit dieser alten Karre. Dreizehn Jahre meines Lebens. »Einmal in meinem Leben will ich ein Auto haben, das ich mir nagelneu selbst konfiguriert und persönlich aus Ingolstadt abgeholt habe.« So war das mit diesem Audi hier. Ich habe ihn aus seiner Geburtsstätte, der Produktion in Ingolstadt, abgeholt und unsere Partnerschaft begann mit einem platten Reifen durch einen Nagel bei seiner Jungfernfahrt nach Hause.

    Sind das da vor mir eigentlich die zackigen Bergspitzen der Alpen? Eigentlich fand ich in der Schule das Fach Erdkunde gar nicht so schlecht. Aber wir nahmen eher die Kontinente Afrika und Amerika durch, und so ist es nicht überraschend, dass ich mich in der Schweizer Tiefebene im Tal der Ahnungslosen befinde. Ich habe keine Ahnung von Europa.

    Ich schüttele gedankenverloren den Kopf und versuche, die Geografie zu sortieren. Quatsch, ich komme vom Norden her in die Schweiz, die Alpen sind also weiter südlich. Vermutlich sind das die Zacken des Jura-Gebirges.

    Ich verbinde das Jura-Gebirge mit meiner Kindheit. Es hieß in unserer Familie oft, wir machen Urlaub in irgendeinem Gebirge. Rosi war immer auf der Jagd nach Fossilien gewesen, daran erinnere ich mich noch. Eingeschlossene Tiere in Stein. Wenn wir am Meer waren, hatte sie nach Bernsteinen gesucht. Eingeschlossene Tiere in Bernstein. Im Jura-Gebirge hatte Rosi Fossilien gefunden. Sie liegen noch heute auf der Fensterbank im Wohnzimmer neben vielen anderen Dingen. Ein komisches Hobby, eingeschlossene Tiere in Steinen zu suchen. Das Jura-Gebirge erinnert mich an diese vielen Wandertouren, die Rosi und Friedrich mit uns Kindern veranstaltet haben. Auch damals im Harz, im Spessart: immer nur wandern. Ich habe gelernt, das Wandern nicht zu mögen. Es hat mich gelangweilt und später genervt.

    Ich habe sehr viele Jahre nicht mehr an meine Kindheit gedacht. Wozu auch, das sind abgeschlossene Kapitel meines Lebens. Es ist nie meine Absicht gewesen, diese Kapitel jemals wieder aufzuschlagen. Warum passiert das jetzt? Weil ich befürchten muss, dass mein Vater heute sterben könnte? Weil es vielleicht sogar besser für ihn ist, wenn er heute stirbt und nicht länger gegen seine Krankheit kämpfen muss?

    Während die Bergzacken in meinem Rückspiegel kleiner werden und ich auf Zürich zurolle, kommen mir zu allem Überdruss die Sonntage meiner Jugend in den Sinn. Plötzlich bin ich wieder klein und höre wie gestern Rosis gellende Rufe: »Daaagmaaar, Aaaanjaaa, Jeeeheens!«

    Sonntag, sieben Uhr. Ich ziehe mein Kopfkissen über das Ohr und habe keine Lust, aufzustehen, um in die Kirche zu gehen. Ich bin müde und wünsche mir, einen einzigen Tag in der Woche mal ausschlafen zu dürfen. Dagmar ist meine ältere Schwester, Jens mein jüngerer Bruder. Damals mussten wir Kinder auch am Samstag in die Schule gehen. Die Abschaffung des Samstags-Unterrichts war erst sehr viel später. Einen Tag in der Woche ausschlafen, wenigstens am Sonntag? Nein, das gab es bei uns nicht. Rosis laute Schreie durch das Haus sind unerbittlich. Selbst Dagmar und ich hören dieses kreischende Rufen bis ins Dachgeschoss, wo wir Mädchen unsere Bleibe in einem niemals endgültig fertiggestellten Mädchen-Refugium gefunden haben. Friedrich ist immer ein Mensch der Provisorien gewesen, und ich erinnere mich noch genau, wie ich mit sieben Jahren die Rigipsplatten im Dachgeschoss mit Farbe bestrichen habe, um nicht alles so provisorisch aussehen zu lassen. Als wir Mädchen ins Dachgeschoss einquartiert worden waren, war unten im ersten Stock Platz für das Zimmer von Jens. Als wir in das Haus zogen, war Jens drei oder vier Jahre alt. Wir nannten Jens’ Zimmer »Nordzimmer«. Vermutlich ist Jens immer nahezu aus dem Bett gefallen, wenn Rosi am Sonntagmorgen ihre gellende Stimme zum Aufstehen durch das Haus schallen ließ. Er war ja dichter dran an der Küche, von der aus Rosi voller Elan das Haus zum Leben erweckte.

    Die Erinnerungen an meine Kindheit bereiten mir fast psychische Schmerzen. Ich weiß, dass meine Eltern nur das Beste für uns wollten, aber das ist bei mir schiefgelaufen. So richtig schief. Es war mir schon als Teenager unklar gewesen, warum ich mich dem für mich nicht nachvollziehbaren Willen von Rosi unterwerfen sollte. Sie hatte eine klare Vorstellung davon, wie ihre Kinder zu sein hatten. Ich hatte eine klare Vorstellung darüber, wie ich nicht werden wollte.

    Rosi hat sich in meiner Kindheit natürlich durchgesetzt. Auch ich bin ganz unauffällig zum Konfirmationsunterricht gegangen und habe mich konfirmieren lassen.

    Damals. Meine Augen ziehen sich zu Schlitzen, ich muss mich wieder auf die Schweizer Tempolimits konzentrieren. Ich sehe den Blitzer sehr genau und lasse mich – obwohl ich tief in Gedanken bin – nicht ablenken. Schnell kontrolliere ich, ob ich die verlangten 80 km/h eingehalten habe. Zufrieden darf ich nicken und wieder in die Vergangenheit abtauchen. Ich hatte über meine Konfirmation so meine Vorstellungen, die natürlich getrieben waren von den Konfirmationen meiner Altersgenossinnen und -genossen. In der Schule hieß es, dass es zum Abschluss ein rauschendes Fest mit vielen Geschenken geben würde. Die Jungs berichteten, dass sie ein Mofa zur Konfirmation geschenkt bekommen haben. Rosi und Friedrich haben mir angedeutet, dass ich für ein Musikinstrument sparen müsse und sie mir den Rest dazu zur Konfirmation schenken würden.

    Ich bin zwar kein Junge, aber ich hätte auch gerne ein Mofa gehabt. Wozu also ein Musikinstrument?

    Weil Rosi will, dass du musikalisch bist. Rosi hat vor Jahren darauf gebaut, dass ich wie Dagmar das Blockflöte-Spielen lieben würde. Ich habe es gehasst und das Rosi auch gnadenlos klargemacht. Also durfte ich für eine Gitarre sparen, die ich ebenfalls nie haben und spielen wollte.

    Im Rückblick, als erwachsene Frau, war es eigentlich gar nicht so schlecht, Musikunterricht gehabt zu haben. Ich übte zwar auch mit der Gitarre nicht sonderlich viel, machte aber dennoch Fortschritte. Ich bekam später sogar Einzelunterricht von einer Privatlehrerin. Ich schulterte einmal pro Woche meine Gitarre und fuhr mit dem Bus in die Stadt zu der Lehrerin. Einmal im Monat bekam ich das Geld dafür bar in die Hand gedrückt. Ich lernte, Flamenco zu klimpern, und hatte immer noch keine wirkliche Lust darauf. Aber das mit dem Bargeld fand ich doch schon ganz schick.

    Wieder einmal entwickelte ich einen Plan. Anfangs ging ich nur noch jede zweite Woche zum Unterricht, tat Rosi gegenüber aber so, als ob ich brav weiter wöchentlich dort auftauchte. Die Hälfte des Geldes behielt ich einfach für mich. Ich tauchte immer seltener beim Unterricht auf, strich nach wie vor das Geld ein und kaufte mir davon lieber schicke Klamotten, die ich dann abends an Rosi vorbeischmuggelte. Das flog natürlich auf, als die Lehrerin bei Rosi anrief, um zu fragen, ob ich denn jetzt nicht mehr kommen würde und sie die Unterrichtszeit für einen anderen Schüler reservieren könne.

    Es gab ein Riesentheater mit dem für mich dennoch erfolgreichen Ergebnis, dass ich nun auch nicht mehr Gitarre spielen lernen musste. Das Kapitel musikalische Erziehung war damit für mich abgeschlossen, während Dagmar weiterhin eifrig Flöte spielen lernte und später sogar Musik studieren würde. Mir tat es nur leid, weil ich nun weniger Geld zur Verfügung hatte.

    Rosi. Manche Kinder wünschen sich eine Mutter und einen Vater, weil sie das nicht haben. Sie leiden ihr ganzes Leben darunter, weil sie nicht wissen, wer ihre Mutter oder ihr Vater ist oder beides. Ich habe eine Mutter und einen Vater. Es lief aber nicht. In meiner kindlichen Vorstellung war es nicht unmöglich gewesen, dass ich gar nicht das biologische Ergebnis meiner Eltern war. Es lief einfach nicht.

    Dagmar war das Musterkind, ich war eher das quertreibende Sandwich-Kind und Jens das Kummerkind. Es lief einfach nicht mit Rosi und mir. Und damit auch nicht mit Friedrich und mir.

    Heute wird Friedrich also operiert. Wie es Rosi wohl dabei geht? Was wäre denn, wenn er wirklich nicht mehr aus der OP aufwachen würde? So unwahrscheinlich ist das ja in dem hohen Alter nun auch nicht. Davon abgesehen ist Friedrichs Herz schon seit Jahren nicht mehr das kräftigste. Er nimmt blutverdünnende Medikamente, die für jede noch so kleine OP ein zusätzliches Risiko wegen der verminderten Blutgerinnung darstellen.

    Friedrichs zehn Jahre jüngerer Bruder Arthur macht sich jedenfalls auch Sorgen. Es ist erst zwei Wochen her, als er und seine Frau am Sonntagabend bei Michael und mir angerufen haben. Arthur ruft sonst eigentlich nie bei uns an. Doch, es gab in der Vergangenheit schon Ausnahmen. Die Ausnahme war immer dann, wenn er etwas von uns wollte, und es mit Friedrich zusammenhing. Michael und ich hatten an dem Sonntagabend gerade das Steak fertiggebraten und mit einer Portion knackigem Gemüse auf den Teller gehäuft, als das Telefon klingelte, und Arthurs Nummer im Display aufleuchtete.

    »Das bedeutet nichts Gutes«, habe ich sofort gemurmelt und meinen Teller beiseitegeschoben.

    Michael hat nur die Augen verdreht und völlig ungerührt mit dem Essen begonnen.

    Wie sich aber alsbald herausstellte, war wohl eher Susanne die Antriebsfeder gewesen, bei uns anzurufen. Arthur schien es eher peinlich zu sein; er druckste ziemlich herum.

    Ich brauchte nun wirklich nicht die Kombinationsgabe von Nick Knatterton zu haben, um zu erkennen, dass er tatsächlich irgendetwas wegen Friedrich wollte.

    Arthur und Susanne waren mittlerweile auch schon längst in Rente. Sie erfreuten sich guter Gesundheit und genossen ihre Freizeit mit vielen Reisen und Unternehmungen. Sie wohnten zwar 300 km von Rosi und Friedrich entfernt, nutzten aber so manche Gelegenheit, um bei den beiden vorbeizuschauen. Sie waren in der letzten Zeit also sehr viel öfter als ich dort zu Besuch gewesen, und manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass mein Job mir viel zu viel Zeit und Kraft raubte, um ebenfalls mal den langen Weg zu einem Besuch zu Rosi und Friedrich anzutreten.

    Zu meiner zusätzlichen Entschuldigung kann ich anführen, dass ich in den ganzen letzten Jahren noch viel weiter weg gewohnt habe als Arthur und Susanne. Arthur hat jedenfalls mehrfach betont, dass sie sich lange überlegt haben, bei uns anzurufen, es aber letztlich Susanne gewesen sei, die nun darauf bestanden hatte. »Wir wollen uns nicht einmischen, aber …« Das Anliegen war ganz simpel, und Arthurs Worte bestätigten mein seit einigen Wochen aufkeimendes ungutes Gefühl. »Deine Eltern lassen sich von niemandem in die Karten schauen«, hat Arthur erklärt, »sie behaupten stets, es sei alles in Ordnung und sie kämen klar.«

    Exakt diese Antworten erhielt auch ich immer wieder bei meinen sonntäglichen Anrufen bei Rosi und Friedrich. »Es geht langsamer, aber wir kommen klar. Alles geht so seinen Gang.«

    Ich war mir immer unsicherer geworden, ob ich das glauben sollte. Da ich mich aber permanent mehrere hundert Kilometer von den beiden entfernt aufhielt, fehlten mir die Alternativen und der Handlungsspielraum. Ich musste die Beteuerungen glauben und fing dennoch an, mich zu fragen, wie lange es wohl mit Rosi und Friedrich gutgehen würde.

    Arthur und Susanne hatten an jenem Abend per Telefon längst ihre Haltung dazu eingenommen. »Gar nicht. Es geht so nicht weiter. Du musst versuchen, da mal hinter die Kulissen und nach dem Rechten zu schauen.«

    Das war’s damals. Ich weiß es noch sehr gut. Mir ist der Appetit endgültig vergangen, leckeres Steak hin oder her. Die erahnten leichten Quellwolken am Horizont haben sich nun endgültig in aufziehende Gewitterwolken verwandelt.

    Der Anruf war das letzte Tröpfchen in dem fast überlaufenden Wasserfass. Es war nun keine Wunschveranstaltung mehr, ob ich mich wieder intensiver mit Friedrich und Rosi auseinandersetzen wollte oder nicht. Ich hatte gehofft, dass ich meine Pflicht und Schuldigkeit mit meinen Telefonanrufen jeden Sonntag getan habe. Ich habe gehofft, dass es wenigstens noch eine Weile so weitergehen könne.

    In welcher Verantwortung war ich nun im Generationenwechsel erzogen worden? War ich nun die, die sich irgendwann mit der Umkehrung der Verantwortung beschäftigen musste? Erst sind die Eltern verantwortlich für die Kinder, und wenn die Eltern alt geworden sind, dreht sich das um? Das ist urgeschichtlich der Zweck, aber warum ich, die nicht so ganz die Verantwortung der Eltern mir gegenüber hatte genießen können?

    Wahnsinn, Jens hat bei Rosi und Friedrich gewohnt, bis er 30 Jahre alt war, Dagmar genießt bis heute finanzielle Unterstützung von meinen Eltern. Und ich soll mich jetzt kümmern? Irgendwie nicht gerade plausibel für mich. Trotzdem brach damals mein Glasglockenleben zusammen.

    Plausibel oder nicht, ich habe Anstand in mir. Ich kann es ab jetzt – vor allem nach Friedrichs OP – nicht mehr einfach so laufen lassen und bin mir durchaus bewusst, dass meine Geschwister Dagmar und Jens von so einer Erkenntnis weit entfernt sind. Sie leben noch in Wolkenkuckucksheim, wo es immer so weitergehen wird. Eltern zuständig für Kinder, nicht Kinder zuständig für Eltern. Sie hatten die Umkehrung noch nicht begriffen.

    Wie spannend ist für mich eigentlich der Zufall, dass ich ausgerechnet zu dieser Zeit mein Nomadenleben im Ausland für die Beratungsgesellschaft aufgeben werde und wieder eine feste örtlich gebundene Anstellung in Deutschland annehme? Denn das ist wirklich Zufall und keinesfalls in den elterlichen Ereignissen begründet. Wäre ich weiterhin in Zürich, Lyon oder sonst irgendwo unterwegs, bräuchte ich nicht eine einzige Sekunde darüber nachzudenken, bei Rosi und Friedrich persönlich nach dem Rechten sehen zu können. Die Strecken wären viel zu weit, und auch ein Wochenende hat nur eine begrenzte Stundenzahl.

    Trotzdem wird es für mich auch in Zukunft Fakt bleiben, dass ich ein Pendlerleben habe und sehr wohl überlegen muss, was ich in Zukunft an welchem Ort bewerkstelligen kann. Könnte. Aber von Deutschland aus habe ich kürzere Strecken und kann damit erträglicher zu manchen Ausflügen nach Norddeutschland starten, um bei Rosi und Friedrich mal hinter die Kulissen zu schauen. Theoretisch. Wenn ich will, und wenn sie mich lassen.

    Ich schlage kurz verärgert mit der rechten Hand auf das Lenkrad meines Autos, das am wenigsten für meine Verärgerung kann. Ich habe wirklich keinen Bock, mich in meine Kindheit zurückkatapultieren zu lassen, und habe trotzdem die Verpflichtung, mich nun um meine Eltern zu kümmern. Wenn sie wollen. Hoffentlich sperren sie sich … Und da sind sie wieder: Engelchen und Teufelchen, meine Kindheitskumpel. Statt meinen Kummer in ein Tagebuch zu schreiben, erfand ich damals das Engelchen und das Teufelchen. Die beiden saßen immer auf meiner Schulter. Wenn Rosi mit mir schimpfte, war es meistens Teufelchen, der meine Rebellion gegen Rosi unterstützte und Engelchen immer erst sehr viel später zu Wort kommen ließ. Mal sehen, wie sie sich in meinem Erwachsenenleben, viele Jahrzehnte später, verhalten werden.

    Eine Spinne seilt sich von meinem Autohimmel ab. Ich finde Spinnen eklig, aber sie lassen mich nicht in Panik ausbrechen. Ich fahre das Seitenfenster nach unten und werfe die Spinne einfach raus. Mir bläst sofort wieder die Februarkälte ins Gesicht. Es ist neun Uhr, als ich in Zürich einrolle und mal wieder feststelle, dass Zürichs Straßen gar nicht so voll sind wie zum Beispiel die Straßen von Basel. Basel ist irgendwie immer verstopft. In Zürich ist es herrlich leer auf den Straßen. Genaugenommen ist das so, weil du zwar fahren kannst, aber parken unbezahlbar teuer ist. Deshalb nehmen alle die Öffis. Öffentliche Verkehrsmittel. Die Parkmöglichkeiten bestehen fast ausschließlich aus Parkhäusern, und die sind sauteuer. Wenn ich für 25 Franken pro Tag mein Auto abstelle, sind das 125 Franken pro Woche. Rund 500 Franken pro Monat. Ich war froh, als ich entdeckt habe, dass das Hotel meiner Wahl Einstellplätze in der Tiefgarage vermietete. 130 Franken pro Monat, 4-wöchige Kündigungsfrist. Ich habe keinen festen Platz bekommen, sondern muss mir einen freien Platz suchen, in der Hoffnung, dass die Garage noch nicht voll ist.

    Heute ist sie voll. Die Schweiz ist ein kleines Land, und Platz ist Mangelware.

    Die Parkhäuser sind also sehr eng, doch nach einigem Suchen sehe ich dann doch noch eine Lücke. Ich schlängele mich mühsam an den Pfeilern vorbei auf den freien Platz. Erleichtert atme ich auf. Die Spiegel sind noch dran, kein Kratzer. Aber leider habe ich mich zu früh gefreut; der Pfeiler ist direkt neben meiner Fahrertür und viel zu dicht, um dort aussteigen zu können. Jetzt weiß ich, warum diese Parklücke als letzte noch frei war.

    Über die Heckklappe kann ich nicht krabbeln, da in meinem Kofferraum nicht nur der Koffer für die Woche ist, sondern auch ein halber Lebensmittelladen und ein halber Hausstand. Bei meinem heutigen Glück würde ich mir während des Krabbelns die Hose zerreißen oder mir die Hacken brechen. Es macht sich sicherlich nicht gut, den Krankenwagen rufen zu müssen, weil ich beim Klettern über Bierdosen, Chipstüten, Jacken, Schuhe und einem Wasserkocher steckengeblieben bin.

    Ich bin jedes Mal von Neuem froh, beim Grenzübergang nicht angehalten zu werden und in Erklärungsnot zu geraten, warum ich jetzt unbedingt Chipstüten mitnehmen muss. Die Lebensmittel in der Schweiz sind erheblich teurer, und da ich doch eh mit dem Auto fahre, kann ich die deutschen Lebensmittel einfach mitnehmen.

    In grenznahen Städten wie Basel bricht jeden Samstag der wahre Shopping-Tourismus aus, wo alle Schweizer die Grenze Richtung Deutschland passieren, um ihre Autos randvoll mit deutschen Lebensmitteln zu stopfen. Ziel: die Discounter-Ketten.

    Frustriert werfe ich einen Blick Richtung Heck meines Kombis und ziehe die Schuhe aus. Sie fliegen vorab in den Kofferraum. Das Gleiche geschieht mit der Winterjacke. Es ist fast leicht, bis zur Rücksitzbank zu kommen – im Vergleich zu dem Rest. Man reiße kurz die Kopfstützen der Sitzbank aus der Verankerung und sei froh, ein dünner Mensch zu sein. Nach dem Knistern zu beurteilen habe ich wohl die Chipstüte getroffen, deren Inhalt sich in Krümel aufgelöst hat, aber wenigstens nicht geplatzt ist.

    Endlich stehe ich trotz widriger Umstände unversehrt auf dem Betonboden der Tiefgarage und klopfe missmutig meinen Hosenanzug ab. Nun wieder die dicke Wellensteyn-Jacke über alles zu pellen verbessert meine Laune keineswegs. Ich bin absolut kein Wintermensch und – von der Kälte mal ganz abgesehen – hasse ich nichts mehr als dieses ewige Ein- und Auspellen der dicken Klamotten.

    Seufzend wuchte ich den Samsonite-Rollkoffer mit meinem Laptop aus dem Auto. Los geht’s! Mit einem tiefen Luftholen verwandele ich mich von einem fluchenden Bierkutscher in eine von vielen auffällig unauffälligen Business-Tanten, die mit hochhackigen Schuhen zur Arbeit hetzen.

    Dr. Despot ist der Größte

    Der Fußmarsch vom Hotel zum Projektgebäude beträgt ungefähr drei Kilometer, die a) in hochhackigen Schuhen nerven und b) bei Regen zur Tortur werden.

    Heute regnet es nicht. Das Projektgebäude der Schweizer Bank taucht vor mir auf, und ich frage mich unweigerlich, wie oft ich hier noch in diesem unmöglichen engen Drehkreuz im Zugang zum Projektgebäude hängen bleiben werde. Trotz meiner Rückenschmerzen muss ich den Rollkoffer wieder irgendwie hier durchwuchten. Wenn ich draußen stehe, um während einer Pause eine zu rauchen, kann ich ab und zu beobachten, wie Menschen sogar Kabinenkoffer hier durchschieben wollen und elendiglich im Drehkreuz scheitern.

    Als ich mich durch das Drehkreuz gekämpft habe, sehe ich die meisten Projektmitglieder schon im Projektraum sitzen. Viele haben eine kurze Anreise vom Bodensee, aus Basel oder Lörrach. Zürich. Andere wiederum haben eine noch weitere Anreise als ich. Die kommen am Montag später – so wie ich.

    Es überrascht mich nicht sehr, die Stimmung ist mal wieder zum Schneiden dick. Im Zimmer sitzen nur meine Kolleginnen und Kollegen, kein Mitarbeiter unseres Kunden. Also gibt es keinen Grund, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und dem Kunden gegenüber eine zuversichtliche gute Laune vorzuspielen. Noch dazu ist es Montag, und vor uns allen liegt eine lange Arbeitswoche.

    Der despotische Projektleiter Bernhard ist glücklicherweise nicht im Raum, aber wahrscheinlich hat er den Kollegen schon wieder mit dem allmorgendlichen Team-Meeting um acht Uhr den Tag versaut. Bernhard ist es egal, ob jemand lange Anreisezeiten hat. Er wohnt direkt in Zürich, und so besteht er darauf, jeden Morgen um acht Uhr ein internes Team-Meeting abzuhalten – so auch montags. Er macht jeden Montag ein Riesentheater, wenn wir weiter entfernt Wohnenden erst gegen zehn Uhr oder manche sogar noch später eintrudeln. »Dann reist du eben am Sonntagabend schon an!«, hat Bernhard mich mal angebrüllt.

    »Nein, Bernhard. Erstens ist das Wochenende meine Freizeit, und zweitens würde eine zusätzliche Hotelübernachtung pro Woche das Projekt verteuern.«

    Das mit dem Budget ist sein wunder Punkt. Bernhard hockt auf seinem Budget, als ob es seine persönliche Geldtasche wäre. Wir wissen alle, warum er das tut. Das erfolgreiche Umsetzen dieses strategisch wichtigen Projektes wird ihm den Weg ebnen, endlich den nächsten Karriereschritt zu tun und Partner zu werden. Das ist eine wichtige Position in all den Beratungsfirmen. Dafür muss dieses Projekt aber »finished in time, of best quality, and in line with the budget« sein.

    Im Leben nicht. Verarschen können wir uns alle alleine.

    Bernhard würde dafür sicher über Leichen gehen. Und er glaubt vermutlich allen Ernstes, er würde das Team zu Höchstleistungen bringen, wenn er uns jeden Morgen um acht Uhr anschnauzt, wie schlecht wir doch arbeiten würden, und dass wir in den nächsten drei Wochen noch 1.600 technische und funktionale Spezifikationen zu schreiben haben.

    Der Kollege rechts neben mir hat dazu letzte Woche mit mir getuschelt. »Rechne mal«, raunte er mir zu, »wir sind zwanzig Leute. 1.600 Spezifikationen geteilt durch zwanzig Personen geteilt durch fünfzehn Arbeitstage sind über fünf Spezifikationen pro Person pro Tag. Der Typ ist ja der Knaller. Für eine einzige belastbare Spezifikation brauche ich je nach Komplexität schon drei bis fünf Tage.«

    Wahrscheinlich glaubt Bernhard als Einziger an seine Worte. Der Rest des Teams empfindet ihn einfach nur als lächerlich. Aber er schwingt so fleißig weiter seine verbale Peitsche, dass ich ihn irgendwann Dr. Despot getauft habe.

    Dr. Despot bemerkte natürlich unser Getuschel und hat seine geballte rechte Faust vor sich auf den Tisch gehauen. »Ihr werdet das Ziel erreichen, und mir ist es scheißegal, ob ihr dafür jeden Tag zwölf Stunden arbeiten müsst!«

    Armer, armer Bernhard. Das ist illegal, und das Sklaventum wurde vor vielen Jahren bereits abgeschafft.

    Nachdem ich wie üblich das Montagsmeeting verpasst habe, geht am Dienstag sehr, sehr zuverlässig die gleiche Litanei los. Dr. Despot wiederholt wutschnaubend, dass es ihm egal ist, wenn wir zwölf Stunden arbeiten müssen.

    Ich gähne leise. Wenn das mit den zwölf Stunden die Erwartungshaltung ist, gehe ich doch erst einmal eine rauchen.

    Der Kollege neben mir raucht zwar nicht, aber er folgt mir durch das Drehkreuz nach draußen. Er ist verärgert und möchte sich Luft machen: »Die Projekte laufen immer beschissener.« Der Kollege ist im Gegensatz zu mir schon über zehn Jahre im Projektgeschäft und weiß, wovon er redet.

    Früher habe ich als Kunde auf der anderen Seite gesessen und mir die Berater – zu denen ich zumindest im Moment auch gehöre – ins Haus geholt. Als Kunde habe ich natürlich auch immer versucht, den Projektpreis zu drücken. Nicht selten kam dann auf PowerPoint ein Angebot zustande, was hinsichtlich der Kosten, der Zeit und der Qualität utopisch war. Ausbaden mussten das dann immer die, die tatsächlich in die konkrete Umsetzung gingen. So wie ich jetzt hier auch. Mit einem despotischen, karrieregeilen Projektleiter.

    Die großen Beratungshäuser graben sich gegenseitig das Wasser ab und versuchen, Marktanteile zu halten, indem sie sich immer weiter gegenseitig unterbieten. Dann kommt das Krisenmanagement, weil das Projekt eigentlich schon auf Rot steht, bevor es überhaupt begonnen hat. Der Druck wird immer härter und bringt den Kollegen dazu, von den guten alten Zeiten zu träumen. »Ich erwäge, interner Berater zu werden. Es macht hier keinen Spaß mehr mit so durchgeknallten Projektleitern wie Bernhard.«

    Wir starren beide nebeneinanderstehend auf das Gebäude der gegenüberliegenden Straßenseite, welches, seit wir hier sind, minutiös in seine Bestandteile zerlegt wird. So ist das in der Schweiz. Während wir Deutschen schnell mit der Abrissbirne alles klein schlagen, sortiert der Schweizer vorher feinsäuberlich alle wiederverwendbaren Materialien aus.

    »Guck doch mal diesen Vollidioten an!«

    Damit ist wohl Dr. Despot gemeint. Ich muss lachen.

    »Weißt du, Anja, eigentlich ist es ganz simpel. Wenn mein Boss mir morgens um acht Uhr ›Hey, ich habe hier eine Aufgabe für dich, die du bis heute Abend um achtzehn Uhr schaffen musst‹ sagt, dann schaue ich mir die Aufgabe an und überlege, ob ich sie schaffen kann. Ich stelle fest, dass ich sie mit Anstrengung bis zwanzig Uhr schaffen kann. Also bleibe ich bis zwanzig Uhr und habe die Aufgabe geschafft. Aber wenn mir mein Chef morgens um acht Uhr sagt, ich habe Zeit, um bis am Abend um zwanzig Uhr ein Haus zu bauen, und es ist gerade mal der Grundstein gelegt, nun, dann brauche ich mir die Zielerreichung gar nicht erst einzuplanen und gehe schon um siebzehn Uhr nach Hause.«

    Im Gegensatz zu meinem Kollegen werde ich den Spinner Bernhard in wenigen Wochen los sein und ihn hoffentlich nie wieder zu Gesicht bekommen. Ich mustere meinen Kollegen kurz und entscheide, dass ich ihm vertrauen kann.

    »Bernhard weiß es noch nicht, aber ich werde das Projekt wieder verlassen.«

    Der Kollege sieht mich überrascht an, denn ich tue, was er gerade geträumt hat. »Ja. Ich kehre nach Deutschland zurück und verlasse sogar diese Firma.«

    Nun lacht er. »Das ist ja ein Ding! Das geschieht Bernhard ganz recht.«

    Dr. Despot alias Bernhard hat sich damals echt Mühe gegeben, mich für dieses Projekt zu gewinnen. Als ich dann das erste Mal in der Schweiz auftauchte, habe ich seinen enttäuschten Blick gesehen. Vermutlich war ich ihm zu alt und zu groß.

    Als Luana aus Litauen zu uns ins Projekt gestoßen ist, haben sogar die männlichen Kollegen abfällige Bemerkungen darüber gemacht, wie Bernhard gesabbert hat. Luana ist Mitte dreißig.

    Ich bin nicht erst seit gestern auf der Welt und habe schon die Erfahrung machen können, wie manche kleinen Männer wie Bernhard auf größere Frauen reagieren. Der kleine Bernhard wurde umso grantiger, je höher meine Absätze waren, und je mehr ich ihn damit überragte. Das Ergebnis war jedenfalls, dass mir niemand wirklich beim Onboarding in der Schweiz geholfen hat. Die Anforderung des polizeilichen Führungszeugnisses für die Schweizer Bank war mir bekannt, sonst hätte ich dort gar nicht erst in deren Räumen auftauchen dürfen. Aber bei dem Drama mit der Einholung der Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz haben sie mich hängen lassen – obwohl sie das schon so oft bei Kollegen unterstützt haben. Ich musste mich selbst zurechtfinden. Auch das wiegt schwer auf der Negativseite von Bernhards Sympathie-Konto.

    Mein Kollege und ich gehen wieder zurück ins Projektgebäude und laufen ausgerechnet Dr. Despot über den Weg. Der Kollege wirft mir einen verschwörerischen Blick zu und hat es plötzlich sehr eilig, in einen der Besprechungsräume zu kommen. Komisch – alle haben es immer ziemlich eilig, wenn sie Despötchen sehen.

    Ich beschleunige keineswegs meinen Schritt und werde damit vorhersehbar zu Bernhards Opfer. »Ich muss mit dir reden!«, fordert er und nickt mit dem Kopf in Richtung des großen Besprechungsraums, den er sehr oft okkupiert.

    Das Nicken bedeutet in jeder Landessprache, dass ich ihm wohl folgen soll. Prima, dass ich heute Morgen auch wieder hohe Schuhe gewählt habe, und prima, dass ich auch mit ihm reden muss.

    Bernhard marschiert wie ein aufgeblasener Gockel voran. Ich tue ihm den Gefallen und folge ihm. Eine passende Gelegenheit mit spannendem Ausgang. Er setzt sich bequem auf einen der Stühle um den Tisch herum und deutet großzügig auf einen der weiteren Stühle.

    Ich suche meinen Platz auf einem anderen Stuhl als den, auf den er gezeigt hat. Bernhard scheint das zu registrieren. Seine Halsschlagader fängt jedenfalls an, mal wieder zu zucken. Bernhard ist jemand, der zumindest versucht, Menschen zu manipulieren. Ich muss innerlich schmunzeln.

    Bernhard mustert mich und sucht dann den direkten Augenkontakt. Seine rechte Hand bewegt mechanisch klopfend den Kugelschreiber auf dem Tisch. Auf und ab – klack, klack. »Ich würde dir gerne ein Feedback geben. Vielleicht kannst du ja für die Zukunft daraus lernen.«

    Und da sind sie wieder, die Kindheitskumpel … »Hau ihm eine rein!«, rät mir Teufelchen.

    Bernhard Despot war schon immer leicht zu durchschauen. Er versucht, Qualifikationen von Personen niederzumachen, wenn die Personen nicht nach seiner Pfeife tanzen. Blöd ist in meinem Fall für ihn, dass ich Fans auf Seiten des Kunden habe, und Bernhard mich nicht so einfach loswerden kann, wie er will. Die Nummer läuft hier nicht nach seinem Kommando. »Deine geschriebenen Spezifikationen müssen allesamt überarbeitet werden«, höre ich Bernhard gerade, »sie sind allesamt falsch.«

    Alle meine Dokumente sind durch die Qualitätsprüfung gegangen und signiert worden. Niemand außer Bernhard sagt dazu falsch. Was für ein Tag! Ich lehne mich zurück und unterbreche Bernhard: »Bernhard, wenn du fertig bist, würde ich auch gerne etwas sagen.«

    Bernhard wirft die ausgedruckten Spezifikationen vor mich auf den Tisch.

    Ich lächele. »Du wolltest mir ein Feedback geben, damit ich dazulernen kann. Das würde ich gerne hören.«

    Bernhard schweigt verdutzt.

    Ich räuspere mich. »Ach, Bernhard, was ich dir noch sagen möchte: Ich verlasse Ende März dieses Projekt und habe die zweite Märzhälfte Urlaub. Ich bin also nicht mehr so lange hier.« Damit ist der Spieß umgedreht, und eigentlich müsste Bernhard sich ja freuen, dass er mich endlich loswird. Da dann jedoch meine Arbeitskraft fehlen wird, kann er es nicht. Ich verkneife mir ein Grinsen und verlasse den Raum.

    Dazu kommt, dass ich ab jetzt darauf achten werde, nicht mehr allzu spät Feierabend zu machen. Nachdenklich schaue ich kurz aus dem Fenster und habe das Gespräch mit Dr. Despot schon so gut wie vergessen.

    Gestern hat Rosi den ganzen Nachmittag und Abend nicht auf meinem Smartphone durchgeklingelt, und ich habe es als gutes Zeichen gewertet. Wenn etwas bei Friedrichs Operation schiefgegangen wäre, hätte sie garantiert angerufen.

    Ich seufze leise. Heute Abend werde ich bei Rosi durchklingeln, sobald ich im Hotel bin. Ein perfekter Grund, um mich tatsächlich bereits um 18.30 Uhr mit dem Rollkoffer durch das unsägliche Drehkreuz zu quälen und den Weg zum Hotel anzutreten.

    Auch heute biege ich ein paar Meter weiter wie so oft zuerst in den kleinen Laden an der Ecke ab. Mein Chipstüten-Nahrungsmitteltransport aus Deutschland in allen Ehren, aber irgendetwas Frisches benötige ich dann schon noch. Heute entscheide ich mich für einen körnigen Frischkäse und ein paar kernlose Weintrauben. Im Gegensatz zum allerersten Einkauf nehme ich diesmal das »Sacle« gerne an. Ich hatte damals verwirrt »Hä? Nein!« von mir gegeben, und die Schweizer haben mir lachend und geduldig erklärt, dass eine Tüte hier Sacle heißt. So, wie eine Brücke hier Viadukt heißt und Fahrrad Velo.

    Ungefähr auf halber Strecke zwischen Projektgebäude und Hotel rolle ich an einem großen Stadion vorbei. Zumindest abends auf dem Rückweg meistens ein Lichtblick, da ich dann denke: Endlich! Bald ist es geschafft, und ich mache es mir im Hotel gemütlich! Sofern man es da gemütlich nennen kann.

    Besonders im Sommer wird dieser Lichtblick etwas getrübt.

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