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Bananenangst
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eBook344 Seiten4 Stunden

Bananenangst

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Über dieses E-Book

Die 23-jährige Scarlett sieht ein, dass ein BMI von 15 nicht mehr lustig ist. Einst fettleibig, hat sie sich zur Magersucht gehungert und traut sich mittlerweile nicht einmal mehr, eine Banane zu essen – so groß ist ihre Angst, auch nur ein Gramm zuzunehmen. In einer psychosomatischen Klinik nimmt sie den Kampf gegen ihre Krankheit auf. Sportzwang wird durch Sportverbot und Salat durch Butter ersetzt. Bei vielen unterschiedlichen Therapieeinheiten erlebt sie Höhen und Tiefen und lernt vor allem in Interaktion mit anderen Patienten, was es heißt, das Leben zu lieben – und sich selbst.
SpracheDeutsch
HerausgeberParlez Verlag
Erscheinungsdatum22. Okt. 2021
ISBN9783863270698
Bananenangst

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    Buchvorschau

    Bananenangst - Patricia Modispacher

    Kapitel 1: Finde den Fehler

    Es war mein erster Tag in der Klinik. Nicht in der abgedroschenen Psycho-Klinik, die ich letzten Monat besichtigt hatte. Nein, ich hatte mich für eine andere entschieden. Hier war das Vorgespräch nicht annähernd so verzehrend verlaufen. Wenigstens hatte ich noch die Wahl gehabt, bevor mir die Zwangseinweisung drohte. Eine ehrenamtliche Dame mit grünem Kittel hatte mich eben in einen langen Gang gesetzt. Mir gegenüber war das Stationszimmer der Pflege. Eine Glasfront, um Durchlässigkeit zu suggerieren. Zugezogene Vorhänge, um Distanz zu wahren. Gelbtöne. Abstrakte Kunst an den weißen Wänden und Fotos vom Therapiegarten als Collage. Mein Magen würde mich innerhalb der nächsten Minuten umbringen. Ein Teil von mir wollte einfach nur aufstehen und weglaufen. Ich wollte sowieso nicht hierherkommen. Wie mechanisch war ich aus meiner Wohnung gelaufen, hatte den Koffer hinter mir hergezogen und zum Bahnhof geschleppt. Bei jedem Schritt hatte ich umdrehen wollen. Aber ich war weiter gegangen. Einfach weiter. Hatte Robins Stimme in meinem Kopf gehört und versucht die wirren Gedanken zu ignorieren. Schließlich hatte ich so sehr um diesen Klinikplatz gekämpft. Monatelang Telefonate geführt, verschiedene Kliniken besucht, bis nachts die blödesten Formulare ausgefüllt. Dann war der Anruf mit dem Termin für meine Einweisung gekommen. Und als ich noch mehr Gemüse gegessen und noch mehr Sport gemacht habe, weil ich dachte, dass ich in der Klinik das alles schließlich nicht tun könnte, ist mir bewusst geworden, dass ich wirklich Hilfe brauchte. Deswegen bin ich weitergelaufen. Ich brauchte Hilfe. Ich wollte Hilfe. Eine Stimme in mir hat diese Sätze immer wieder wiederholt, trotzdem war die Angst in mir so stark, dass sich mein Magen mal wieder verselbstständigte. Im Grunde wusste ich gar nicht genau, wovor ich Angst hatte. Vielleicht Angst, nicht am richtigen Ort zu sein, um Hilfe zu bekommen? Angst, doch keine Hilfe zu verdienen? Das war ein Gedanke, der sich immer wieder in den Vordergrund rückte: die Befürchtung, dass alle merken würden, dass es mir eigentlich gut geht und ich jemand anderem den Therapieplatz wegnehme. Jemandem, der wirklich krank und dünn war. Und ich hatte Angst vor den anderen Patienten. Noch nie war ich als Patientin in einem Krankenhaus gewesen. Ich wusste gar nicht, wie das alles funktionierte. Und nun direkt in der Psycho-Abteilung … Würde mich meine Zimmernachbarin akzeptieren? Würde ich Freunde finden? Würde ich abends allein und weinend in meinem Bett sitzen?

    „Erster Tag?" Ein Mann kam gerade aus seinem Patientenzimmer gelaufen und riss mich aus meinem Hirn-Flickflack. Er war sehr groß, mittelalt, hatte nasse Haare und ein Handtuch um den Nacken gelegt. Ich nickte und war nicht imstande, ein Wort hervorzubringen, so steif und fremd fühlte sich mein ganzer Körper an, während ich auf diesem unbequemen Stuhl in diesem mir unbekannten Gang saß.

    „Mach dir mal keine Sorgen, Kleine. Bist hier in guten Händen. Wir sind alle sehr lieb. Die Pfleger und die anderen Patienten." Der Mann zwinkerte und redete und redete und lenkte mich von meinen Seelenqualen ab. Dabei erzählte er auch, wie lange er schon hier war, dass ihm hier die Schmerzen, die er seit Jahren hatte, teilweise genommen wurden und man hier gut aufgehoben war. Und obwohl ich viele von seinen Worten vergessen habe, weil die Eindrücke am ersten Tag einfach zu erschlagend waren, werde ich nie das Gefühl vergessen, das sich in diesem Moment bei mir verfestigt hatte: Ich war nicht allein. Monatelang hatte ich mich in meinem Schmerz einsam und verlassen gefühlt. Niemand konnte oder wollte mir helfen, sodass ich irgendwann das Gefühl hatte, keine Hilfe zu verdienen. Aber dieser fremde Mann hat es innerhalb weniger Minuten geschafft, mich zu beruhigen. Seine Augen strahlten eine außergewöhnliche Wärme und Sanftmut aus, wie ich sie selten erleben durfte. Er stand einige Minuten im Türrahmen, hat sich extra Zeit genommen, mit der Neuen zu reden, hat sich mir geöffnet. Mir Vertrauen und ein Lächeln geschenkt und das Gefühl gegeben, angekommen zu sein. Tatsächlich irgendwo richtig zu sein und diesen endlos verzehrenden Kampf endlich gewinnen zu können.

    Zwar hatte ich noch immer tausend Ängste - mein Magen sollte mich in den nächsten Tagen mehr quälen als jemals zuvor - aber in diesem Moment wusste ich, dass ich all meine Sorgen nicht mehr allein durchstehen musste.

    ***

    Ich freue mich richtig doll auf Nicoles zehnten Geburtstag! Schon den ganzen Tag bin ich super aufgeregt, dass mir ganz schlecht ist. Nach der Schule gehe ich heim. Mama hat lecker gekocht. Papa schmeckt es nicht. Er schreit. Schnell mache ich noch meine Hausaufgaben, dann gehe ich los mit meinem Geschenk. Es sind nur ein paar Straßen bis zu ihr. Nicole ist meine allerbeste Freundin. Aber ich bin nicht ihre beste Freundin. Das ist Tammy. Tammy ist dünn. Und Tammy hat öfter Zeit zu spielen. Sie lernt nicht so viel wie ich.

    Bei Nicole bin ich die erste. Obwohl ich sie in der Schule schon gesehen habe, umarme ich sie und wünsche ihr nochmal alles Gute zum Geburtstag. Macht man das so? Die anderen kommen auch langsam und wir sitzen im Kreis auf dem Boden, während Nicole die Geschenke auspackt. Hoffentlich gefällt ihr mein Lesezeichen! Ich habe es selbst gebastelt. Das hat ganz schön lange gedauert. Sie bedankt sich und öffnet Tammys Geschenk. Pferdeaufkleber mit Glitzer. Sie freut sich mega. Bei mir hat sie sich nicht so gefreut! Ich hätte auch lieber etwas kaufen sollen. Das nächste Mal höre ich nicht auf Mama. Selbst gemachte Dinge sind wohl doch nicht so besonders. Max und Hanna mag ich nicht. Sie sind immer gemein zu mir und ich finde es blöd, dass Nicole sie auch eingeladen hat. Aber ich muss ja nicht mit ihnen spielen.

    „Lasst uns ein bisschen rausgehen und Fangen spielen", sagt Nicoles Mutter. Vor ihr habe ich Angst. Noch nie habe ich sie lachen gesehen. Und wenn sie auf mich schaut, schaut sie noch viel böser. Und sie schaut meinen Bauch an. Dann verschränke ich immer die Hände vor dem Bauch und ziehe ihn ein, so wie es mir Mama mal gezeigt hat.

    Draußen ist es schön. Die Sonne scheint und Nicole, Tammy und ich gehen Arm in Arm.

    „Da vorne, der Gartenzaun, sagt die Mutter. „Wer zuletzt da ist, hat verloren. Alle rennen los. Ich auch. Ich verliere. So geht das Spiel weiter. Unser Weg geht ziemlich steil berghoch. Und der Verlierer muss den nächsten fangen, bis zu dem Ziel, das die Mutter aussucht. Aber wir haben schon drei Ziele erreicht, ohne dass ich jemanden fangen konnte. Mir ist ganz warm. Vom Rennen und von dem peinlichen Gefühl. Ich schlucke und will nicht weinen. Max und Hanna zeigen auf mich und kichern. Was sie sagen, kann ich nicht hören. Ich bin noch zu weit unten am Berg. Tammy und Nicole lachen auch. Über mich? Irgendwann bestimmt die Mutter, dass wir nicht mehr rennen müssen, und ich freue mich. Aber jetzt laufen Nicole und Tammy nicht mehr mit mir Arm in Arm. Finden sie mich eklig, weil ich so schwitze? So wie mich Max ansieht, findet er mich bestimmt eklig.

    „Alles klar, Fetti?", neckt er mich, als ich mir die Stirn abwische. Die Mutter läuft neben ihm. Sie sagt nichts. Also sage ich auch nichts. Ich ignoriere ihn, wie sonst auch in der Schule. An den meisten Tagen klappt das ganz gut. Heute nicht. Ich reibe mir die Augen.

    Als wir wieder bei Nicole sind, spielen wir mit Puppen und Bauklötzen, aber es ist kein gemeinsames Spiel. Jeder macht irgendwie was anderes. Ich schaue auf die Uhr. Ich will zu Mama. Und Robin. Ich will nach Hause. Irgendwie habe ich Hunger. Sonst gibt es bei Geburtstagen doch Kuchen. Oder? Bei Nicole gibt es keinen Kuchen. Im Kinderzimmer ist nicht besonders viel Platz. Ich versuche mich klein zu machen und knie mich hin.

    „Au, du zerquetschst meinen Fuß!", quietscht Nicole und ich murmle eine Entschuldigung. Wie peinlich! Ich bin wirklich nur im Weg. Wo soll ich hin, dass ich die anderen nicht störe? Was könnte ich sagen, um früher heimzugehen? Ich könnte sagen, dass Mama gesagt hat, ich muss noch beim Haushalt helfen. Aber das wäre gelogen. Nein. Lügen gehört sich nicht. Ich werde durchhalten. Um 18 Uhr holt mich Mama ab. Nur noch eine halbe Stunde. Die Mutter ruft zum Abendessen. Es gibt Würstchen und Brot. Nichts davon schmeckt. Max sitzt mir gegenüber und bläst die Backen auf. Ich schaue wieder auf das Essen.

    „Du, der meint dich", sagt Tammy neben mir.

    „Ich weiß", antworte ich und möchte alles, was ich bisher gegessen habe, erbrechen und mein überschüssiges Fett gleich mit. Ich will nach Hause, ein großes Küchenmesser nehmen und meinen fetten Bauch einfach abschneiden. Haut wächst doch nach. Das muss doch gehen, oder? Warum hat Tammy das gesagt? Ich will Max ignorieren. Wenn ich ihm keine Aufmerksamkeit schenke, hört er irgendwann auf. Wenn ich unsichtbar bin, kann er nicht böse zu mir sein. Jetzt schauen aber auch die anderen zu ihm. Er lacht und bläht die Backen noch mehr auf. Es klingelt an der Tür. Die Mutter geht und kommt gleich wieder.

    „Deine Mutter wollte dich schon holen, Scarlett, sagt sie zu mir. „Aber ich habe ihr gesagt, dass wir gerade am Essen sind und erst noch fertig essen.

    Die Uhr. Es ist 18 Uhr. Jetzt darf ich heim. Ich will nicht fertig essen. Es schmeckt nicht. Wie kann sie es wagen, meine Mama einfach so wegzuschicken? Mama. Sie ist extra zum Haus gekommen, um mich zu holen. Sie wollte mich mitnehmen, aber sie durfte nicht. Mama hat sich umsonst Mühe gemacht. Sie hat wirklich anderes zu tun, als in der Gegend rumzuspazieren. Wie dumm ist das alles? Hoffentlich ist mir Mama nicht böse. Warum muss ich hier sein, wo alles so blöd ist? Warum soll ich dieses eklige Würstchen essen? Ich will heim.

    Die Mutter schielt zu mir. „Sie holt dich dann später ab. Iss jetzt fertig."

    Nun passiert es doch. Ich muss heulen. Nicole isst weiter. Tammy auch. Max und Hanna flüstern miteinander. Niemand nimmt mich in den Arm.

    ***

    Arielle in Natura kam mir entgegen, reichte mir die Hand und überwältigte mich mit dem schönsten Lächeln der Welt. Ihre unfassbar schönen roten Haare sahen genauso aus wie die Haarpracht meiner Lieblings-Disney-Heldin. Nicht nur leuchteten ihre Augen und waren unnatürlich freundlich, ihre weißen Zähne hätten jede Zahnpastawerbung zum Verkaufsschlager gemacht.

    „Herzlich Willkommen auf der Station 3, Frau Schweighart. Ich bin Frau Best und darf Sie in Ihr Zimmer führen. Sie haben Sonnenschein mitgebracht, wie nett von Ihnen. Wie das andere Pflegepersonal trug auch sie keine weißen Kittel, sondern gewöhnliche Straßenkleidung. Lediglich ihr Namensschild „A. Best verriet, dass sie keine Gestörte war wie ich, sondern für ihre Zeit hier bezahlt wurde. Ich schätzte sie ungefähr auf mein Alter, Mitte zwanzig.

    „Ähm, ja. Es hat lange genug geregnet", antwortete ich und hätte mich für meine dumme Antwort ohrfeigen können. Die Frau mir gegenüber lachte aber und ihre strahlend grünen Augen funkelten.

    „Da haben Sie recht! Dass heute ein so sonniger Tag ist, ist ein gutes Zeichen für den Beginn Ihrer Klinikzeit." Die Freundlichkeit der Pflegerin kam unerwartet und stand in klarem Kontrast zu dem, was ich im Vorgespräch in der anderen Klinik erfahren habe. Kurz blickte ich über die Schulter, wollte mich von dem netten Mann verabschieden, doch er war bereits verschwunden.

    Arielle lief mit mir den langen Flur entlang. Mein Blick konnte sich nur schwer von ihrer roten, gewellten und außergewöhnlich vollen Haarpracht losreißen. Dann sah ich auf ihre wunderschöne Figur. Ihr Körper hatte die Gitarrenform, von der es hieß, sie sei die ideale Form des Frauenkörpers. Und das stimmte, meiner Ansicht nach. Was hatte sie nicht für schöne Hüften! Und dieser Po! Was würde ich dafür geben, so auszusehen? So richtig weiblich. Aber nein, ich war der fette Birnentyp. 

    Unförmig. Unweiblich. Unmenschlich.

    Sie zeigte mir das Zimmer, das ich mit einer alten Dame teilte, die in Jogginghosen auf ihrem Bett saß und vor sich hinstarrte. Als mich Arielle vorstellte, seufzte sie schwer und ich meinte, ihre Schultern noch mehr in sich zusammensacken zu sehen, bevor sie ihren Kopf ein klein wenig hob, um kurzen Augenkontakt mit mir herzustellen. Bravo, dachte ich mir. Das wird bestimmt die schönste Zeit meines Lebens. Und das Bett am Fenster hat sie auch. Allzu sehr konnte ich mich aber nicht über meine neue Nachbarin aufregen, weil Arielle mir einige Stapel Papiere in die Hand drückte, die ich so schnell wie möglich ausfüllen sollte. „Keine Eile, aber je früher, umso besser." Jaja, schon klar. Beim Überfliegen der Unterlagen fiel mir auf, dass ich das alles schon einmal ausgefüllt hatte.

    „Das hat seine Richtigkeit. Es ist nicht ganz genau der gleiche Fragebogen, aber ja, viele Fragen überschneiden sich. Das lässt sich leider nicht vermeiden."

    Weil ich so doof gewesen war, einzuwilligen, bei einigen Studien teilzunehmen, musste ich noch zwei weitere Formulare bearbeiten. Ich würde also in den ersten Tagen ordentlich zu tun haben. Vielleicht war das gut. Nein. Nicht nur vielleicht. Das war einfach genial. Dann würde ich keine Zeit haben, auf dumme Gedanken zu kommen.

    Arielle führte mich weiter herum, zeigte mir den Aufenthaltsraum, erklärte den Therapieplan. Alles in allem war ich der Schnappatmung nahe. Mein Gehirn konnte gar nicht all die Informationen verarbeiten, die sie mir in so kurzer Zeit mitteilte. Und bevor ich verstand, was genau hier eigentlich vor sich ging und warum ich mich dazu entschlossen hatte, auf dieser Station mit Menschen zusammen zu sein, die wirkliche Probleme hatten, gab es auch schon Mittagessen.

    Auf der Station waren drei Arten von Psychos untergebracht: Stresspatienten, Schmerzpatienten und Esspatienten. Wir Essgestörten saßen nicht mit den anderen am Tisch, sondern in einem eigenen Raum, wobei immer jemand vom Pflegepersonal bei den Mahlzeiten dabei war. Das war die „Essbegleitung, wie es so schön hieß. Die Essbegleitung kontrollierte uns Essgestörte bei Tisch, sah zu, wie wir aßen, ob wir zu langsam oder zu schnell futterten. Zu viel nachwürzten oder zu viel tranken. Das Butterbrot einmal zu oft durchschnitten, als es „normal war. Wir mussten die Regeln einhalten. Mitunter war es wichtig, alles zu essen. Am Anfang der Therapie sollte man zumindest von allem, was auf dem Teller war, probieren. Aber das höchste Ziel war es, eine ganze Portion zu essen und dann auch an den Esstisch im Aufenthaltsraum zu den anderen zu können. Klang einfach. War es aber nicht.

    Das erste Essen war Nudelauflauf mit Sahnesoße und als Nachtisch gab es Sahneschokopudding. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Nudeln hatte ich jahrelang nicht mehr gegessen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich gemerkt hatte, dass ich etwas ändern musste. Vor drei Wochen hatte ich mich durchgerungen, welche zu kochen. Es waren etwa zehn Stück. Und dazu gab es eine große Schüssel Salat und Schuldgefühle. Sahne oder Fett hatte ich seit Jahren nicht mehr zum Kochen benutzt. An meinen letzten Schokopudding konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Aber mein Hunger war da, real. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, aber ich aß nur ein paar Gabeln. Es schmeckte widerlich. Das ganze Fett glänzte auf dem Teller und der Gabel. In meinem Mund hinterließ es einen Film auf meinen Zähnen. Nein. Das würde ich nicht essen. Ich legte die Gabel hin und starrte auf die Uhr. Wir mussten 30 Minuten lang sitzenbleiben. Das war wohl eine „normale" Essenszeit.

    „Frau Schweighart, möchten Sie es nicht noch einmal versuchen?", stichelte Frau Hahn, die heutige Essbegleitung. Sie war gleichzeitig die Leiterin der Station und sah aus, als würde sie wissen, was ich denke, bevor ich mir dessen selbst bewusst war. Ihre Haare waren kurzgeschnitten, pflegeleicht. Um ihre Augen lagen Falten, die zeigten, wie sehr sie sich in den Jahrzehnten ihres Lebens mit den Sorgen anderer beschäftigt hatte.

    Tränen stiegen in mir auf. Ich hatte ja Hunger. Großen Hunger. Bei mir war es nicht so wie bei vielen Magersüchtigen, dass das Hungergefühl komplett verschwunden war. Oh nein. Hunger war mein täglicher, stündlicher und minütlicher Begleiter. Sehr gerne hätte ich jetzt einen riesengroßen Berg Salat gegessen. Was hätte ich nicht für eine Salatgurke gegeben! Aber diese pampigen, totgekochten, widerwärtigen Nudeln und die Soße erst – nein. Noch war mein Hunger nicht groß genug, als dass ich die Sahnesoße hätte essen können. Noch war die Krankheit stärker als der Hunger.

    Kapitel 2: Der erste Tag

    Du weißt, dass es schlimm ist, wenn das Essen deinen Tag strukturiert. Du schaust auf die Uhr und rechnest aus, wann du die nächste Mahlzeit einnehmen darfst. Du sehnst dich danach, denn du hast fürchterliche Magenschmerzen. Hungerschmerzen. Um den Bauch zu füllen, trinkst du Wasser. Sehr viel Wasser. Mindestens fünf Liter am Tag. Deswegen musst du ständig auf die Toilette und je mehr du trinkst, umso stärker wird dein Durst. Du meinst, innerlich zu verdursten, aber der Hunger hört nicht auf. Während der Anfangszeit hast du noch zuckerfreie Bonbons gegessen. Gegen den Hunger. Nun weißt du es aber besser. Ein Bonbon hat zwischen sieben und zehn Kalorien. Seit dir das bewusst ist, isst du nur noch Kaugummi. Und hasst dich für jeden einzelnen, der den Weg in deinen Mund findet, denn ein Kaugummi hat zwei Kalorien. Deswegen kaust du den ganzen Vormittag auf demselben herum, obwohl der schon nach wenigen Minuten an Geschmack verloren hat und sich dein Gaumen nach Abwechslung sehnt. Am Nachmittag gönnst du dir einen zweiten Kaugummi und du schließt die Augen, weil du die Süße genießen willst. Die Schmerzen im Magen sind aber immer noch da, denn dein Mittagessen war eine Scheibe Vollkornbrot mit Salat. Du legst den Eisbergsalat so darauf, dass man meinen könnte, es sei Aufschnitt. Dazu isst du Gurken. Sie enthalten viel Wasser. Machen satt. Für ein paar Stunden. Wirklich Energie zum Denken liefert so ein Essen aber nicht, deswegen fühlst du dich um 14 Uhr schon wie ein ausgelaugtes Häufchen Elend. Dein Kopf zieht sich genauso wie dein Magen zusammen. Es fällt dir schwer, Unterhaltungen zu folgen oder gar selbst zu denken. All deine Gedanken kreisen um das Abendessen. Da du den ganzen Tag gehungert hast, willst du abends deinen Magen so richtig füllen. Deswegen kochst du ausgiebig. Kohl, Pilze, Spinat, Salat. Dazu ein Knäckebrot. Während du alles auf deinen Teller schaufelst, ist dir bewusst, dass dieser Berg an Essen nicht normal sein kann. Aber im Hinterkopf hast du die Kalorien deines Essens beim Kochen genau mitgezählt und weißt, 260 Kalorien ist nicht zu viel für das Abendessen. Das ist noch okay. Du zerteilst das Essen in winzige Stückchen, willst lange brauchen. Denn das Sättigungsgefühl kommt erst nach 20 Minuten, das weiß doch jeder. Du schaust auf die Uhr und merkst, dass du schon seit 40 Minuten isst. Im Hintergrund läuft eine Dokumentation über den Klimawandel auf dem Laptop. Du fragst dich, warum die Welt so ungerecht ist und warum du denn einfach nicht satt wirst. Natürlich kennst du die Antworten auf die Fragen. Zumindest auf die zweite: Ohne Kohlenhydrate wird man schlecht satt. Neben dem Teller liegt ein Knäckebrot. Du wirst es aber nicht anrühren. Genau wie gestern. Und vorgestern. Du legst es immer nur neben den Teller, um es nach dem Aufessen des Gemüses wieder in den Schrank zu packen. Dabei wirst du dich gut fühlen. Wieder ein Erfolg. Du bist so diszipliniert! Glückwunsch. Während du den Teller wäschst, kullern deine Tränen in das Spülwasser und du fragst dich, wie lange du diese Einsamkeit noch aushalten kannst.

    ***

    Nach dem ersten Essen in der Klinik ging es mir furchtbar und ich dachte ernsthaft darüber nach, mir den Finger in den Hals zu stecken und die fettige Sahnesoße direkt wieder aus mir heraus zu befördern. Mein Magen schmerzte und brodelte. Er war solche Art von Essen nicht gewöhnt. Dazu kam die Stimme in mir, die mich für jede Gabel Nudelauflauf rügte. Die mir sagte, dass ich zu fett war und so etwas nicht essen sollte. Ich hasste mich und jeder Bissen, den ich aß, verschlimmerte dieses Gefühl. Im Grunde liebte ich Essen. Immer schon habe ich gerne geschlemmt, weswegen ich wohl so dick gewesen war. Dann entwickelte sich das schlechte Gewissen, sobald ich Essen genießen wollte, weil immer der Hintergedanke mitschwang, dass jeder Bissen mich noch dicker machte. Jede Mahlzeit war ein Zeugnis meines Versagens. Ich wollte aber eine Gewinnerin sein. Ich wollte etwas leisten, auf das ich stolz sein konnte. Ich wollte Erfolge. Und Abnehmen war ein Erfolg. Der größte Erfolg in meinem Leben. Vielleicht auch der einzige. Und ich bekam Komplimente zu meiner neuen Figur. Dabei fror mein Herz jedes Mal zu Eis. Warum meinen die Leute, dass es toll ist, sich herunterzuhungern? Wieso gratulieren sie mir? Das ist nicht gesund, was ich tue. Warum sieht es denn keiner?

    Während ich im Bad meines Patientenzimmers stand, die Hände auf meinem Bauch, der sich erschreckend nach außen wölbte, klopfte es zaghaft an der Zimmertür.

    „Ja? Ich öffnete und sah auf spitze Wangenknochen, über denen zwei eng stehende, eingefallene Augen ragten. Obwohl sie müde und erschöpft aussahen, schimmerte ein freundliches Grün durch sie hindurch. Der knochige Kopf steckte auf einem noch knochigeren Körper, dessen Anblick bei mir das Bedürfnis weckte, diesem Menschen kalorienhaltige Trinknahrung zwischen die Lippen zu stecken. „Iss, Forest, iss, rief ich in Gedanken. „Iss um dein Leben."

    Es war Pascal. Mitte 40, bestimmt zwei Meter groß. Geschätzter BMI von 16. Auch ein Essgestörter. Nach dem Mittagessen hatte er mir erklärt, dass er für die ersten Tage auf der Station mein Pate wäre und mir gerne in Ruhe die Räumlichkeiten zeigen würde. Er war zwar nett gewesen, doch ich hatte mit meinen Gedanken und meinem Selbsthass zu tun, weswegen ich ihn auf später vertröstet hatte. War jetzt schon später? Noch immer fühlte ich mich nicht bereit für zwischenmenschliche Interaktion, Therapie und das Leben an sich.

    „Hallo Scarlett, ich wollte einmal schauen, wie es dir geht. Das erste Essen ist immer das schwerste."

    Ich biss mir auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Mein Gott, warum war ich nur so labil? Pascal sah mich sofort mitleidig an und legte mir eine seiner zarten Händchen auf meine Schulter. „Alles gut, Liebes. Es wird besser, glaub mir."

    Glauben wollte ich ihm gerne, also ließ ich ihn herein, schluckte und deutete auf einen der beiden Stühle, die an einem seltsam ovalen Tisch am Fenster standen. Er setzte sich, sah mich an und ich erwartete schon, dass er endlos viele Fragen stellen würde, dass ich nun Gefühle erklären müsste, die ich selbst nicht verstand. Pascal jedoch lächelte und begann selbst zu erzählen. Von sich, seinen Kindern, seinem Anfang hier. Er war schon seit fünf Wochen in der Klinik. Sein Untergewicht war auf einen stressigen Alltag als selbstständiger Architekt zurückzuführen. Seine jüngste Tochter hatte vor Kurzem ein Baby bekommen und er nahm ihr das Kleine ab, wo er konnte. „Vielleicht war das alles aber doch etwas zu viel für mich." Ein verlegenes Lachen hallte durch das Zimmer. Von einer Ehefrau erwähnte er nichts und ich hütete mich davor, ihn zu fragen. Vielmehr war ich dankbar, dass er mich abgelenkt und mir einen Teil seiner Geschichte anvertraut hatte. Dieser Mann war mir direkt sympathisch und strahlte trotz seines schmalen Körpers eine beruhigende Stärke aus.

    „Darf ich dir einen Tipp geben?"

    Ich nickte.

    „Je schneller du die volle Portion isst, desto eher wirst du wieder gesund. Arschbacken zusammenkneifen, Augen zu, Mund auf und essen."

    Pascals Tipp klang einfach, erweckte in mir aber sämtliche Horrorvorstellungen, dass ich wieder einen gewaltigen Bauch vor mir herschieben würde. Spottgesänge aus der Schulzeit schwirrten in meinem Kopf umher.

    „Ich meine es ernst, Liebes. Mit sorgenvollem Blick sah er an mir herab und ich schämte mich für meinen Körper. „Du bist so dünn, es ist höchste Zeit, dass du hergekommen bist. Nein, du lügst. Schau doch mal richtig hin! Da ist noch genug Fett, das da nicht hingehört. Da, dort und hier auch! Für einen kurzen Augenblick wollte ich das tatsächlich sagen. Dann schwieg ich aber, denn ein kleiner Teil in mir wusste, dass Pascal nicht ganz Unrecht hatte.

    Bevor er mit mir auf Erkundungstour gehen wollte, sah er auf meinen Therapieplan und entdeckte, dass ich gleich mein erstes Einzel- und gleichzeitig Aufnahmegespräch mit meinem Therapeuten haben würde. Also brachte er mich nur wenige Meter über den Flur, tätschelte mir nochmals den Arm, sprach mir Mut zu und ließ mich allein.

    Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine schwarze, junge Frau schüttelte mir energisch die Hand.

    „Frau Schweighart? Willkommen, willkommen. Ich bin Katharina Kleist, Ihre Psychotherapeutin. Kommen Sie rein in die gute Stube!" Sie zeigte auf einen Stuhl und wirbelte in ihrem Büro umher. Der Beistelltisch vor mir war die einzig leere Fläche des Raumes. Ihr Schreibtisch, die Regale und Schränke waren von oben bis unten zugemüllt. Ordner und Unterlagen stapelten sich auf jeder freien Fläche. An den Wänden hingen erdrückend viele Bilder von Schmetterlingen und ich fragte mich, ob diese Einrichtung ein Test war, um Zwangsstörungen bei Patienten zu entlarven. Wie viele Patienten würden nervös auf das Chaos auf dem Schreibtisch starren, bis sie fragen würden, ob sie nicht mal eben ein bisschen Ordnung schaffen dürften.

    „Moment, ich muss nur kurz – wo ist denn Ihre Akte?" Sie drehte mir den Rücken zu und ich nahm mir die Gelegenheit, sie zu mustern. Sie trug einen engen, sehr kurzen schwarzen Rock, dazu eine weiße Bluse mit rosa Flamingos, die transparent genug war, damit man ihren schwarzen BH durchscheinen sah. An ihren dicken Beinen schlängelten sich Dehnungsstreifen hinauf zu der Cellulite ihrer Oberschenkel.

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