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Alles wird gut: Roman
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eBook410 Seiten5 Stunden

Alles wird gut: Roman

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Über dieses E-Book

Wenn das Leben Kopf steht - wird alles gut? Zwei Frauen und ihre Schicksale kreuzen sich am Arbeitsplatz. Beide hoffen auf denselben Posten. Beide haben Träume von Lebensglück, Liebe und Erfüllung. Beide haben hochgesteckte Ziele in Familie, Beruf und Karriere. Aber nur eine kann den angepeilten besseren Job in der Redaktion ergattern. Die beiden Journalistinnen werden zu Konkurrentinnen. Beide haben den Eindruck, ihr Chef mache ihnen konkrete Hoffnungen. Doch dann kommt alles anders. Alles! Denn da schiebt sich etwas dazwischen: ein Kind. Die Wirklichkeit verändert sich mit einem Schlag. Lisa erlebt das Gefühl, aus einem himmelhochjauchzenden Schaumbad ("Ich bin schwanger!") ins eiskalte Nordseewasser gestürzt zu sein. Denn ihr Freund, der Vater des Kindes, will dieses Kind nicht - unter gar keinen Umständen. Er setzt Lisa massiv unter Druck. Sie fühlt nur noch eines: an allen vier Seiten von Käfigwänden umschlossen zu sein. Eine Achterbahn im Kampf um das verplante Leben und die Karriere setzt ein, ein Ringen an vielen Fronten - aber es wächst auch täglich die Liebe zu diesem kleinen neuen Wesen in ihrem Bauch. Gleichzeitig wird sie scheinbar komplett alleingelassen. Ach, sie hatte doch so viele Sehnsüchte, und alles schien so wunderbar gut vereinbar (zumindest in der Theorie)! Doch das Leben spielt auf seiner eigenen Klaviatur, und darauf war die Protagonistin nicht vorbereitet. Sie muss sich entscheiden: Soll sie abtreiben, wie ihr Freund es von ihr verlangt? Oder stellt sie sich zu ihrem ureigenen Bedürfnis, dieses Kind auszutragen und zur Welt zu bringen?
SpracheDeutsch
HerausgeberFontis
Erscheinungsdatum13. Sept. 2019
ISBN9783038485780
Alles wird gut: Roman

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    Buchvorschau

    Alles wird gut - Sonja Dengler

    Sonja Dengler

    Alles wird gut

    www.fontis-verlag.com

    Am Ende wird alles gut!

    Und wenn es noch nicht gut ist,

    ist es noch nicht das Ende.

    – Oscar Wilde

    Dies ist eine wahre Geschichte.

    Die Rahmenhandlung wurde geändert und auch der Ort,

    nicht aber die sich abspielenden Ereignisse.

    Sonja Dengler

    Alles wird gut

    Roman

    Logo_fontis_neu

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

    © 2019 by Fontis-Verlag, Basel

    Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns

    Bild U1: Beyla Balla / Shutterstock.com

    Bild Kapitel 25 und 61: Natalya Lys / Shutterstock.com

    Bild Kapitel 51 (Tacho): dencg / Shutterstock.com

    Bilder Kapitel 21 / 51 (Stricke) / 52: Archiv «Tiqua»

    E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel

    E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

    ISBN (EPUB) 978-3-03848-578-0

    ISBN (MOBI) 978-3-03848-579-7

    www.fontis-verlag.com

    1

    Tödliche Autofahrt, Teil 1

    Der Geschwindigkeitsmesser zeigte 180.

    Unpassender hätte deshalb der Zeitpunkt nicht sein können: Ausgerechnet jetzt dachte sie an die Nachmittags-Stunden zwischen ihrer üblichen Rückkehr aus der Mittagspause und ihrer so liebgewonnenen 16-Uhr-Kaffeepause. Irgendwann dazwischen passierte es regelmäßig und vor allem unbemerkt: Die herrliche Mittagssonne schien nicht mehr durch das großzügige Fenster auf ihren Schreibtisch herab. Wieder verpasst.

    Wie oft hatte sie sich eigentlich schon vorgenommen, dieser traumhaften Sonnenwanderung eines Tages mal ganz bewusst bis zum Ende zuzuschauen und sie zu genießen? Und diesen großartigen Genuss dann für immer in ihrer Seele zu archivieren.

    Sie liebte die Sonne, obwohl sie zum hellen empfindlichen Hauttyp gehörte. Trotzdem machte ihr Hitze gar nichts aus. Zwar rötete sich dann ihre Haut ordentlich, aber sie fühlte sich pudelwohl, sobald es heiß war. Deshalb freute sie sich jeden Abend schon im Voraus auf den neuen Tag, weil sie ja dann ganz bestimmt dem hoffentlich spektakulären Sonnenlauf zuschauen würde, bis er verschwand. Freilich war ihr stets bewusst, dass die Sonne natürlich noch immer am Himmel stand – aber leider war sie wieder einmal, von ihr unbemerkt, aus ihrem Sichtfeld, aus ihrem ganz persönlichen Stückchen Büro-Himmel verschwunden.

    Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an so etwas Triviales? Um Himmels willen, das war das Falscheste, was sie jetzt gerade denken sollte! Woher diese Assoziation?

    Es war eben genau wie der Zeiger des Tachometers, den sie von ihrem Beifahrersitz aus schon nicht mehr erkennen konnte, weil auch er – wie die nachmittägliche Sonne – stetig nach rechts drehend aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Also war seine C-Klasse noch lange nicht am Limit angelangt. Wie lange es wohl noch dauerte? Ein eisiger Schreck durchfuhr sie: Was hatte er gerade gesagt?!

    Auch er erfasste, dass sie nicht zugehört hatte, und wiederholte daher:

    «Ist es DAS, was du willst?»

    Emotionslos und sehr ruhig klang das.

    Sein bisheriges Geschrei und Gebrüll hatte er aufgegeben, weil ihm klar wurde, dass er einen drastischen Verhaltenswechsel herbeiführen musste, um ihr Ohr zu erreichen. Er musste sie schockieren, und zwar so lange, bis sie endlich tat, was nötig war, getan zu werden. Deshalb wollte er mit seiner kühl und rational vorgetragenen Frage jeglichen Zweifel an seiner festen Entschlossenheit schon im Keim ersticken. Außerdem wusste er nur allzu gut, dass er unangreifbar wirkte, wenn er – wenigstens nach außen – ruhig blieb.

    Doch obwohl ihr Verstand sie aufforderte, sich irgendwie zu äußern, damit er sich abregen konnte, schaffte sie es auch jetzt nicht, sich der widerwärtigen Situation auszusetzen, und floh in ihre Erinnerungen, auch wenn die so noch gar nicht stattgefunden hatten. Sie dachte daran, wie sie für die letzten zwei Arbeitsstunden des Tages die Fensterjalousien ihres Büros hochzog. Wie dann das nun nicht mehr blendende blassrote Abendlicht den Raum warm und freundlich ausfüllte und wunderschöne Schatten an Wände und Fußboden warf. Ein letzter Paartanz flirrenden Schattens und Lichts, ein stolzer Abschiedsgruß des Tageslichts und letzter Widerstand gegen die später alles Licht trinkende Nacht.

    Atmete sie überhaupt noch? Sie war sich dessen selbst nicht so sicher.

    Schweigend bohrte sie ihre Fingernägel noch tiefer in das Futter rechts und links des Beifahrersitzes. Obwohl sie inzwischen die 200 km/h überschritten haben mussten, lag der Wagen noch erstaunlich gut und satt auf der Straße.

    Was hatte er noch mal gesagt?!

    «Ob es DAS ist, was du willst, habe ich dich gefragt!», sagte er in besonnenem Tonfall, als wären seine Worte Teil eines gewöhnlichen Small Talks. Diesen Tonfall kannte sie allerdings zur Genüge: Es war der gleiche wie der aus ihrer Kindheit, und er kennzeichnete jene verhängnisvolle Viertelsekunde unmittelbar bevor ihr Vater im Streit mit ihrer Mutter vollends explodierte und jegliche Kontrolle über sich und seine Umwelt verlor.

    Jetzt war sie zwar kein Kind mehr, und sie hatte nicht nur für sich zu sorgen – aber was sollte, was konnte sie denn überhaupt tun? Klar war nur: Sie musste etwas tun. Irgendetwas, was ihn auf die Erde zurückholte, was ihn in jenen Mann zurückverwandelte, in den sie sich verliebt hatte.

    «Nein, das ist nicht das, was ich will.» Erstaunt nahm sie wahr, dass auch sie in den Small-Talk-Modus gefallen war. Und das fand sie gut. Gern hätte sie noch mehr gesagt, damit er das Tempo drosselte, aber irgendwie wollte es nicht gelingen.

    «Und WAS willst du?», schrie er nun doch wieder und starrte sie von der Seite an, dabei den Blick viel zu lange von der Straße abwendend. Das MUSS ihr doch Angst machen! Er wusste schließlich genau, wie sehr sie derart hohe Geschwindigkeiten hasste, und er hoffte, dass sie endlich aufhörte, ihn bis zum Äußersten zu reizen, indem sie schwieg. Es kann, dachte er, doch nicht alles umsonst gewesen sein; wie weit musste er noch gehen? Wie stur war sie? Der Tachometer zeigte inzwischen 220 an. Sein Wagen drohte auf die Gegenfahrbahn zu geraten, weil er ständig zu ihr hinüber starrte.

    «Nein!», schrie sie erschrocken auf und trat mit aller Kraft den linken Fuß auf die imaginäre Kupplung, während sie mit dem rechten Fuß die imaginäre Bremse durchtrat. Das scheußliche Gefühl, dabei nicht auf den jeweils erwarteten Widerstand zu stoßen, ließ sie würgen:

    «Nein, das ist nicht das, was ich will!», presste sie erneut zwischen ihren Lippen hervor und drückte sich dabei in die Rückenlehne.

    Ihr Brustkorb verkrampfte sich schmerzhaft und schob dabei die Speiseröhre nach oben.

    Nichts ging mehr. Sie spürte, wie jeglicher Lebensmut sie verließ und wie sie innerlich aufgab. Verzweifelt versuchte sie, den bitter-blechernen Geschmack zusammen mit ihrer Todesangst hinunterzuschlucken. Das in den höchsten Tönen hochgequälte Heulen des Motors erreichte nicht mehr ihr Herz. Sie atmete laut aus.

    «Nimm endlich das Geld raus, du …!», schrie er nun wieder – längst hatte er jegliche menschliche Grenze überschritten. Er musste sich durchsetzen, er MUSSTE. Heute! Hier und jetzt!

    Lisa beugte sich nach vorne und streckte die Hand aus, um das Handschuhfach zu öffnen:

    Erleichterung breitete sich in seiner Brust aus.

    Er hatte sie so weit:

    «Dann nimm ENDLICH das Geld!» – sein schöner Wagen geriet ins Schlingern, aber er hatte das Lenkrad sofort wieder im Griff.

    «Nimm das Geld, und bringe es hinter uns. Du wirst sehen: Dann geht es uns allen wieder gut!» Er war wieder ganz ruhig.

    Ihr blieb nun keine Wahl mehr.

    Sie musste und wollte gehorchen.

    Ihr starrer Blick entdeckte in der Sekunde, in der sie ihre Hand nach dem Geldbündel greifen sah, die tödliche Gefahr: Die Kontrolle über sein Auto hatte er verloren. Zur rettenden Vollbremsung war es zu spät …

    2

    Zwei Monate vorher …

    Sandra betätigte die Home-Taste ihres Smartphones, das sie im unendlichen Nirwana ihrer großen Handtasche herausgefischt hatte. 8:54 Uhr. Verdammt noch mal, blieben nur noch sechs Minuten. Pünktlich zum Arbeitsbeginn würde sie es bei diesem fürchterlichen Verkehr in der allmorgendlich verstopften Stuttgarter Innenstadt unmöglich schaffen.

    Fahr endlich, du Penner, bedachte sie unfreundlich den Fahrer vor ihr und hielt ihren rechten Daumen bereits über der Hupe positioniert, um sie sofort zu betätigen, falls der Lieferwagen auch nur eine Sekunde zu lang an der inzwischen grün gewordenen Ampel stehen bliebe. Zwar wusste sie ganz genau, dass sie selbst bei zügigem Verkehrsfluss zwei Ampeln weiter erneut anhalten musste. Dennoch bildete sie sich ein, dass nicht die faktische Verkehrslage, sondern allein ihr Wille es war, der zählte. Ihre nervöse und aggressive Fahrigkeit kam ihr dabei sehr gelegen, denn es half ihr dabei, sich vorzumachen, sie würde sich ja bitteschön beeilen, und somit wäre sie am Zuspätkommen unschuldig. Und außerdem konnte sie sich so vormachen, möglicherweise doch noch etwas Zeit herauszuschinden, wenn sie nur hibbelig genug blieb. Hibbelig sein bedeutete: schnell sein, und sie brauchte diese fadenscheinige Zuversicht dringend.

    Vanessa, ihre süße Kleine, hatte sich heute so gar nicht süß aufgeführt. Beim Abschiednehmen in der Kindertagesstätte legte sie wieder einmal eine ausgebuffte Szene hin, daher der enorme Zeitverlust. Ausgerechnet heute. Das Verrückte daran war, dass Vanessa mittlerweile gerne in ihre Kita ging, was sie den Erwachsenen vor allem dadurch demonstrierte, dass sie abends nicht gerne von dort abgeholt wurde. Genauer gesagt, wollte sie abends überhaupt gar nicht abgeholt werden, sondern nach ihren eigenen Worten «für immer» dortbleiben. Sandra hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, was schwieriger für sie war: Vanessa abzuliefern oder Vanessa abzuholen – es war Stress pur und vor allem Stress in endlos erscheinender Zukunftsschleife.

    Sandra ärgerte sich hauptsächlich deswegen, weil sie sich für das Zuspätkommen wirklich keinen ungünstigeren Tag hätte aussuchen können. Aber wenn es dicke kommt, kommt es halt gleich multipel-dicke. Lukas’ Kindergarten war der erste Stopp. Dass er gerade montags, nachdem er ein paar Stunden des Wochenendes bei seiner Oma verbringen durfte, gerne mal Probleme bei der Verabschiedung machte, um damit seinerseits nicht hinter der schwesterlichen Machtdemonstration zurückzubleiben – das hatte sie in weiser Voraussicht sogar in ihrer Zeitplanung mit einberechnet, indem sie etwas früher als üblich aufbrach. Natürlich gegen den erklärten Widerstand ihrer Kinder, die selbst noch Zeitlupen in die Unendlichkeit zu dehnen vermochten.

    Tja, Frau Sandra Süselbeck, man muss eben gegen alle Eventualitäten des Lebens gefeit sein und so etwas in seine Fahrtzeiten einkalkulieren, genau so würde ihr Chef Heiko rumnörgeln – nur, dass er sie inzwischen duzte. Und was, bitteschön, sollte sie ihm auch schon entgegnen? Dass sie für die reine Fahrtzeit von nur dreißig Minuten eine volle Stunde vor Arbeitsbeginn losgefahren war und dadurch wahrlich genug Pufferminuten geschaffen hatte? Das würde er einfach nicht gelten lassen. Einmal mehr nicht gelten lassen.

    Dem Lieferwagen vor ihr noch immer am Heck klebend, trat nun doch das Unausweichliche ein. Die Ampel, deren Schaltung offenbar gewollt so geplant worden war, dass sie den ohnehin schleppenden Verkehr vollends ausbremste, schaltete auf Rot. Echt jetzt. Sandras Zeigefinger tippte erneut auf das Smartphone: 9:01 Uhr. Verflixt und zugenäht. Nun war es amtlich: Sandra würde nun schon zum dritten Mal in vier Wochen unpünktlich zur Arbeit erscheinen. Das war exakt ein Mal zu viel. Also noch mehr Wasser auf Heikos Mühlen und die der übrigen Krokodile, die wie üblich in ihrer Abteilung auf der Lauer lagen.

    Nachdenklich sah sie zum Fenster hinaus. Sie dachte an die Zeit zurück, wie es so war – bevor die Kinder da waren. Sicher, sie würde ihre Kinder um gar keinen Preis der Welt mehr hergeben. Ganz im Gegenteil, sobald sie ein paar Stunden weg waren, schmerzte ihr Herz vor Sehnsucht nach ihrem Gekreische und Gezanke – und nach ihrer überbordenden Lebenslust, um die sie ihre Kinder oft beneidete. Woher haben die bloß ihre Lebensfreude? Ob sie wohl als Kind auch so war?

    Nur manchmal fehlte sie ihr doch ziemlich: ihre frühere Freiheit nämlich. Zum Beispiel mal mit Michael spontan an ihrem Kennenlerntag ins verregnete London zu fliegen, das wäre schön. Ihr fiel wieder die ärmliche, aber gemütliche Stadtwohnung mitten im Stuttgarter Zentrum ein, die sie damals so mochten. Wie sie zuerst während des Studiums als WG-Mitglied dort eingezogen war, ehe nach dem Auszug von Petra und Anastasia sinnvollerweise Michael zu ihr gezogen war.

    Inzwischen lebten sie recht nett mit deutlich schöneren Möbeln in einem Reihenhaus im Vorort … Ja, sie haben es verstanden, sich einzurichten, im übertragenen und im faktischen Sinne. Aber wo war eigentlich ihre einst berühmt-berüchtigte rebellische Widerstandslust geblieben? Hin und wieder vermisste sie die schmerzlich. Damals war sie immer am Kämpfen, am Verbessern der Weltlage, besonders der der Frauen – sie träumte von nichts Kleinerem als einer gewaltigen Frauen-Revolution, die sie höchstpersönlich in Bewegung setzen würde. Aber diesen hochfliegenden Träumen folgten leider viel zu viele Ernüchterungen und eine ungerechte Abfolge unsinniger Hindernisse. Alle aufrührerischen Pläne hatte sie freiwillig eingetauscht gegen ein konservatives Leben mit Mann, Sohn und Tochter. Es fehlte nur noch der Hund, für dessen Anschaffung die Kinder zumindest Michael bereits auf ihre Seite ziehen konnten. Ausschließlich Sandras entschiedenem Veto war es bisher zu verdanken, dass diese allerletzte Stufe der bilderbuchmäßigen Metamorphose zum Vorstadt-Familienklischee nicht auch noch erklommen wurde. Aber es wurde immer schwieriger, sich gegen einen dreifachen Sturm von Argumenten durchzusetzen. Wie zum Beispiel gestern Abend wieder.

    Glücklicherweise hatte sie erneut gewonnen. Vorläufig.

    Über kurz oder lang würde sie jedoch einlenken müssen, das war ihr klar. Eventuell konnte sie die ihr gegenüberstehende und gut konditionierte Allianz ja vielleicht mit der Anschaffung einer Katze oder besser noch mit einem Zwergkaninchen in die Falle locken. Dieser Gedanke gefiel ihr, sie merkte ihn sich für die nächste Schlacht.

    Noch keine rettende Idee dieser Art fiel ihr zu Michaels gestern auch wieder geäußertem Wunsch nach einem dritten Kind ein. Zwar konnte sie sich am Ende auch hier durchsetzen, aber sie spürte ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen, obwohl es doch eigentlich so war, dass sie es geschafft hatte, seinen Kinderwunsch zuerst in ein «Besser kein weiteres Kind mehr» umzuwandeln. Überraschenderweise hatte sie dann sogar noch seine Zustimmung dafür herausgepresst, dass er sich sterilisieren lassen wolle. Eigentlich ganz glatt gelaufen. Schön. Worüber mache ich mir da überhaupt Sorgen?

    Aus der aufkeimenden Träumerei zog ihre stets zuverlässige innere Uhr sie unvermittelt wieder ins Auto zurück. Innerhalb der nächsten Sekunde müsste die Ampel – und damit die letzte lästige Hürde zwischen ihr und Heikos Standpauke – auf Grün umspringen. Noch war sie rot, und die Abgase unzähliger Autos um sie herum hatten sich inzwischen trotz geschlossener Fenster auch in den Innenraum ihres alten Golfs verirrt. Sie öffnete trotzdem das Fahrerfenster, um wenigstens irgendetwas zu tun.

    Dabei fiel ihr Blick unwillkürlich auf einen schlaksigen Jungen, der mit geschultertem Schulranzen dahertrottete, dann an der Ampel vorschriftsmäßig stehen blieb und seinen Kopf tief zu Boden gesenkt hielt.

    Sandra atmete hörbar aus. Endlich. Wenn die Fußgänger bereits stehen bleiben mussten, konnte es sich nur noch um wenige Augenblicke handeln, bis das hoffnungsvolle Grün sie erlösen würde. Heute kam es ihr so enervierend lang vor wie die Werbeunterbrechung eines spannenden Psychothrillers.

    Ihr Blick wanderte zu dem Jungen zurück. Irgendwie sah der unglücklich aus. War mit ihm was nicht in Ordnung? Obwohl er nicht nennenswert kleiner als Sandra sein dürfte, war er doch maximal in der 4. Klasse, dachte sie sich. Wieso war er an einem ganz normalen Schulmontag, noch dazu um kurz nach neun, immer noch auf der Straße? Und was war das überhaupt für ein seltsamer Typ, der da neben ihm stand? Den sah sie erst jetzt.

    Anstatt weiter am Lieferwagen zu kleben, als seien alle Autos durch ein unsichtbares und maximal zehn Zentimeter langes Abschleppseil miteinander verbunden, fuhr Sandra langsam an dem ungewöhnlichen Duo vorbei. Was geht mich das an?

    Moment mal! Hier stimmt aber etwas ganz und gar nicht.

    Sandras Bauchgefühle versuchten blitzschnell, die unstimmige Situation in irgendeiner Form zu «lesen». Der Begleiter des Jungen war etwa 25 Jahre alt, allerhöchstens 30. Ihrer Meinung nach also einerseits zu alt, um als sein großer Bruder durchzugehen. Anderseits zu jung, um sein Vater zu sein. Außerdem war da kein Ring am Finger.

    Du musst sofort anhalten! Signalisiere den beiden, dass du merkst, dass hier etwas nicht stimmt! Sprich den Jungen an und bleib dabei so weit weg, dass dir nichts passiert, wenn sein Begleiter zum Angriff übergeht, aber geh so nah dran, dass du ihn noch einholen kannst, wenn er wegrennt! Und auf jeden Fall so nahe, dass du den Jungen ansprechen kannst.

    Während sich nun hinter Sandra die verärgerten Autofahrer stauten, passte sie blitzschnell eine geeignete Stelle ab, um ihren Golf auf dem Bürgersteig abzustellen. Drei Autos hinter ihr hupte es wegen des Rückstaus heftig, als sie ausstieg und ein Anzugträger ihr ein übles Schimpfwort nachschrie, während er ihr den Vogel zeigte. Der Junge und sein Begleiter wurden durch den plötzlichen zusätzlichen Lärm auf sie aufmerksam und blickten nun interessiert zu ihr herüber.

    Kein Gehupe und schon gar kein Geschimpfe konnte sie noch in ihrem Entschluss aufhalten; ihr Bauchgefühl war stets zuverlässig. Und Heiko würde um 9:07 Uhr exakt die gleiche Standpauke halten wie um 9:20 Uhr oder 9:50 Uhr. Sandra lief zügig ein paar Schritte auf die beiden zu:

    «Hey du! Ist alles in Ordnung?», rief sie dem Jungen entgegen, als sie glaubte, eine optimale Position erreicht haben. Dessen Kopf war wieder zu Boden gesenkt. Als er sie anschaute, konnte sie erkennen, dass sein Gesicht total verheult aussah, und sie erkannte gleichzeitig, dass der Begleiter seine Hand fest auf die Schulter des Jungen drückte. Das ist gar nicht gut, mach dich lieber vom Acker, das hier riecht nach mehr als nur Ärger. Aber diese leise Warnung schlug sie in den Wind:

    «Was machen Sie da!», hörte sie sich stattdessen angriffslustig rufen, «gehört der Junge zu Ihnen?»

    Statt einer überzeugenden Antwort machte sich der junge Mann abrupt aus dem Staub, und sie beschloss, ihm doch nicht hinterherzurennen.

    Sie sprach den Jungen an:

    «Wieso bist du um diese Uhrzeit nicht in der Schule? Weiß deine Mutter davon, und wie heißt du überhaupt?»

    Das waren natürlich zu viele Fragen auf einmal, und ihr schulmeisterlicher Ton musste einschüchternd auf ihn wirken. Wie auf Kommando schluchzte der Junge einmal auf, ließ seinen Kopf wieder hängen und zeigte auf die Schule, die der Kreuzung gegenüber in einem kleinen Park lag.

    Sie entschied sich für eine andere Frage:

    «Kennst du den Mann, der neben dir stand und der gerade eben weggelaufen ist?»

    Das war schon besser, vielleicht machte er den Mund auf.

    Dem Jungen liefen die Tränen übers Gesicht, und stumm schüttelte er seinen Kopf. Die Fußgängerampel wurde in diesem Moment grün, so dass er sich mit den anderen Menschen über den Zebrastreifen von ihr fortbewegen konnte. Sandra wartete verblüfft, bis sie sehen konnte, dass er das Schultor passiert hatte. Ein Mann lief ihm dort gestikulierend entgegen. Suchend sah sie sich nun doch noch nach dem abgehauenen jungen Mann um, aber der blieb verschwunden und war nicht zurückgekommen.

    Mannomann.

    3

    Ein Jahr davor …

    Teambildung und Corporate Identity, unter diesem jährlichen Weckruf versammelte die Firma möglichst viele ihrer Mitarbeiter. Am späten Nachmittag war es schon losgegangen, jeder nahm sein Zimmer in Beschlag, und so saß heute Abend Lisa hier am rechteckigen Sechser-Tisch – und sie kannte wieder einmal keine einzige Person. Sie war ein paar Minuten zu spät gekommen, weil die Dusche zunächst nicht funktionierte. Die anderen schienen sich zu kennen, nur sie war die Neue auf dieser Fortbildung, oder wie? Am besten, sie wartete erst einmal ab.

    «Noch Wein?», wurde sie in diesem Moment von dem gutaussehenden Mann Mitte 40, der sich eingangs als Ulrich Schalk vorgestellt hatte, angesprochen. Obwohl er direkt in ihr Ohr sprach, tat er so, als ob er konkret niemanden Bestimmtes ansehen wollte. Dass die ältere Dame zu seiner Linken sowie der junge IT-ler rechts von ihm teils genervt, teils peinlich berührt wegschauten, registrierte er nicht. Oder er ignorierte es.

    Lisa gab keine Antwort, weil sie nicht wusste, ob sie zustimmen oder ablehnen sollte. Ihn schien das nicht weiter zu stören:

    «Na gut …», gab er sich selbst die Antwort, «dann bleibt umso mehr für mich übrig! Wie heißt es so schön? In vino veratis», rief er in lautem Tonfall. So laut, dass sogar ein gesetzter Mann in edlem Anzug am Nebentisch aufhorchte, sich gleichermaßen prüfend wie tadelnd zur Quelle der Störung umdrehte und mit der flachen Hand wedelnd Ruhe einforderte.

    «Oh mein Gott – es heißt veritas und nicht veratis», korrigierte ihn der IT-ler, dessen Augen hinter den dicken Brillengläsern mit den schwarzen Rändern gereizt rollten. Sein Gesicht war von Akne überzogen, er war also bestimmt noch jung, und seine etwas zu blasse Hautfarbe verriet außerdem, dass er sich nicht gerne im Freien aufhielt.

    «Du kannst Ulrich zu mir sagen», sprach er in Lisas Richtung, ohne sich um die nun schon zweite Zurechtweisung innerhalb weniger Sekunden zu kümmern.

    «Was?!»

    Das klang ein wenig zu unfreundlich, dachte Lisa, aber nun war es schon ausgesprochen. Auch das schien Ulrich sowieso nicht abzuschrecken:

    «Na, ich heiße Ulrich», verkündete er jovial, lächelte breit und zeigte eine Reihe schöner weißer Zähne.

    «Ja doch! Das dürfte inzwischen auch der Letzte hier im Raum mitbekommen haben», mischte sich die gertenschlanke Frau neben Lisa ein. «Und jetzt Ruhe, bitte. Ja?»

    «Feeeiiin!» Ulrich gab sich nicht geschlagen, er zog das Wort in die Länge, während er reihum blickte und strahlte, als hätte er gerade tosenden Applaus bekommen.

    «Dann sprecht mich alle ruhig weiter mit ‹Gott› an. Ich danke herzlichst für diese Beförderung. Wollte nur nett sein.»

    Eine Sekunde schwieg er, dann flüsterte er in Lisas Ohr – wenn von Flüstern überhaupt die Rede sein konnte, waren die drei bereits geleerten Flaschen Wein, die zu den ersten beiden Gängen serviert worden waren, doch vorwiegend auf sein Konto gegangen: «Ich wollte nur nett sein …», wiederholte er.

    Gegen ihren Willen musste Lisa über seine Schlagfertigkeit wegen der Gott-Anrede lachen. Obwohl das schon ein alter abgedroschener Witz war, fand sie ihn lustig, was Ulrich augenblicklich dazu ermutigte, ihr ein weiteres breites Lächeln zuzuwerfen. Sie war ihm entschieden zu still und zu ruhig, und er konzentrierte sich nun darauf, sie aus der Reserve zu locken. Mit den anderen war ja leider nichts weiter anzufangen. Er hob sein Glas und prostete ihr höflich zu. Lisa, in Zugzwang geraten, erhob ebenfalls ihr Glas, nickte ihm zu und probierte einen Schluck von dem Wein, den sich ihr Arbeitgeber «Radego Entertainment» wohl eine ordentliche Stange Geld hatte kosten lassen. Der Wein schmeckte köstlich, und sie verstand, warum etwas «wie Samt und Seide die Kehle hinunterlaufen» konnte. Überhaupt war ihr Arbeitgeber großzügig und immer sehr daran interessiert, die Mitarbeiter bei der Stange zu halten, ihnen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein vereinendes «Wir» zu vermitteln. Auch diese Fortbildungstage hier wurden von der Firma finanziert – offensichtlich versprach man sich also durch ihre, Lisas, Tüchtigkeit großen Nutzen.

    Das bereits von ihr bezogene edle Einzelzimmer des Hotels, das Radego Entertainment allen gut 300 aus ganz Deutschland nach Berlin gereisten Mitarbeitern zur Verfügung gestellt hatte, machte mächtig Eindruck auf sie. Eindeutig hatte man im Vergleich zur letzten Fortbildung hier noch eine Schippe draufgelegt. Verständlich bei dem offenkundigen Mitarbeitermangel, aber noch größer schien ja der Mangel an Führungskräften zu sein. Es war schließlich kein Zufall, dass ihr Chef unbedingt sie teilnehmen lassen wollte.

    Lisa genoss die beiden ersten Gänge des köstlichen Diners und wiegte sich im angenehmen Tagtraum, sich wie eine wichtige Politikerin beim Staatsbesuch im Ausland fühlen zu dürfen. Eine Wertschätzung, die sie so bisher noch nicht erfahren hatte und die sie still für sich bis zum allerletzten Krümel auskosten wollte. Nur die vielen Leute störten. Sie war lieber alleine, sie war gerne Einzelgängerin, und sie wusste, dass sie eine gute Vorgesetzte werden würde, denn ihre Arbeitsdisziplin lag weit über dem Durchschnitt. Nur badete sie eben ungern in einer Menschenmenge; das war ein Manko, aber nun mal nicht zu ändern. Was sein musste, musste sein. Zuhören war jetzt dran, ermahnte sie sich.

    «… haben für stetiges Wachstum gesorgt, weshalb wir im kommenden Jahr auch unsere ersten Standorte in Luxemburg und Belgien eröffnen können. Wir sind ungeheuer stolz auf unser aller Leistung», fuhr der Geschäftsführer in seiner Lobrede fort, die im Anschluss an Vorspeise und Zwischengang eingeplant worden war, um einerseits die Wartezeit auf den Hauptgang zu verkürzen und andererseits alle in eine angenehme Erwartungshaltung zu versetzen.

    Ulrich nutzte die Vorlage des Geschäftsführers sofort:

    «Standort in Luxemburg und Belgien? Uuuh, hoffentlich bald auch in Frankreich!» Beifall heischend schaute er sich bei seinem vermeintlichen Publikum am Sechser-Tisch um. Stille schlug ihm entgegen, niemand beachtete ihn so richtig. Dafür erntete er von der älteren Dame erneut einen kurzen, sehr missbilligenden Blick, der etwas Giftiges an sich hatte und in den sie eine gehörige Prise Verachtung mischte. Das ging Lisa entschieden zu weit, deshalb lächelte sie Ulrich mitfühlend an:

    «Ich mag Frankreich», reagierte sie betont freundlich.

    «Ach, mir reicht eigentlich schon der französische Wein», prustete Ulrich heraus und ließ einen lang gezogenen Lacher folgen, der sie irgendwie an die Filmfigur Alf erinnerte. Eigentlich stieß sie sein Benehmen sogar ein wenig ab, und trotzdem stimmte Lisa in sein Lachen mit ein, während sie dabei über sich selbst staunte. Prompt fing auch sie sich von der älteren Dame einen abschätzigen Blick ein, der sie verunsicherte. Hastig senkte sie ihren Blick und nahm verlegen ihr Weinglas in die Hand, das sie in einem Zug leerte.

    Ulrich rettete sie:

    «Darf ich Ihnen nachschenken, meine Liebe?»

    Die gezückte Weinflasche bereits auf ihrem Glasrand aufsetzend, konnte Lisa gerade noch ein bestätigendes Nicken herausbringen, ehe Ulrich die dunkelrote Flüssigkeit aus dem luxuriös aussehenden Dekanter strömen ließ. Köstlich anzusehen, wie die ersten dicken Tropfen an der Innenseite ihres Glases auftrafen. Als Zeichen des Dankes lächelte Lisa kurz und immer noch ein wenig verlegen, schwenkte den kostbaren Wein vorsichtig, um zu sehen, ob und wie sich an den inneren Glaswänden seine «Kirchenfenster» bilden würden: Ganz viele und ganz schmale wurden sichtbar. Wunderbar. Lisa war über sich selbst verwundert, weil es ihr mit einem Mal ganz wichtig erschien, unter der Beobachtung der Dame stehend durchzuhalten, unbedingt – und dabei keinen Fehler zu machen. Gut gemacht, setzen, eins! Nie hätte sie gedacht, dass sie das mit den «Kirchenfenstern» so schön zelebrieren könnte, wie ihr das gerade eben gelungen war. Aber aufzuschauen wagte sie dennoch nicht mehr so recht. Ihre Selbstsicherheit wäre innerhalb einer Sekunde dahin gewesen. Man sollte nichts übertreiben und schon gar keine Herausforderung heraufbeschwören, der man nicht standhalten kann.

    Alte Indianerweisheit.

    Die Rede des jungen Geschäftsführers neigte sich dem Ende zu. Sie fand, er verfügte über eine gute Radio-Stimme, die auf sie angenehm beruhigend, entspannend und doch auch mitreißend wirkte. Da saß der richtige Mann auf dem richtigen Stuhl, sie sollte ihm unbedingt zuhören, ermahnte sie sich.

    Das «Herausreißen aus der comfort zone», wie es in der ersten Rede des Abends genannt wurde, hatte zum Ziel, dass alle Mitarbeiter mittels fester Platzkarten an gemischten (!) Tischen Platz nehmen mussten, damit sie während der einzelnen Menü-Gänge mit Kollegen aus anderen Abteilungen ins Gespräch kommen und sich so ganz zwanglos kennen lernen sollten. Das widerstrebte ihr, auch wenn sie verstand, warum das richtig war. Sie war einfach zu schüchtern und hatte im Laufe ihres Lebens viel zu wenig Selbstbewusstsein aufgebaut. Nun ja, es wird schon irgendwie gut gehen, sie brauchte ja ihren Kleinmut nicht öffentlich zur Schau stellen – selbstbewusste Maske aufsetzen, das konnte sie schon immer gut, und die anderen trugen schließlich auch nur ihre Masken. Wichtig war der gute Umgang miteinander und dass man die Firmenziele zu seinen eigenen Zielen machte, sich dabei integer verhielt und zur Zusammenarbeit bereit war.

    Widerstand breitete sich nun aber doch in ihr aus, als der Geschäftsführer auf der Bühne dazu überging, einzelne Abteilungen zu benennen und dabei namentlich die jeweiligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aufzurufen, damit sie kurz aufstehen und sich zeigen konnten. Jeder sollte jeden sehen können, um zu erfahren, welches Gesicht zu welchem Namen gehörte, und ein erstes Gefühl dafür zu entwickeln, mit wem man es vielleicht mal zu tun haben wird. Dass sie selbst natürlich auch an die Reihe kommen sollte, war unausweichlich. Derart in den Mittelpunkt gerissen zu werden, war ihr höchst peinlich, auch wenn es nur wenige Sekunden andauerte.

    Zum Glück tat sich für Lisa ein schlichter Ausweg auf. Sie hatte so viel Wasser getrunken und nun auch das Glas Wein so schnell hinuntergekippt, dass sich ihre Blase zu Wort meldete. Die Toilette wäre genau der richtige Ort, um sie davor zu bewahren, auf Zuruf wie ein Affe im Zoo aufstehen zu müssen, alle Blicke im Raum auf sich gerichtet wissend. Dabei hatte sich irgendwie der merkwürdige Trend fortgeschrieben, dass alle Aufstehenden in die Saalrunde nickten und – furchtbar! – mit den Händen winkten wie die Royals auf dem Balkon, während der Vor- und Zuname vorgelesen wurde.

    Schlimmer geht immer, dachte sich Lisa leicht verzweifelt und sah sich suchend nach einem rettenden Toiletten-Schild an der Wand um. Aber gerade, als sie es ausgemacht hatte, war sie an der Reihe. Zu spät, jeder Rettungsversuch war jetzt aussichtslos.

    Der Name ihrer Abteilung fiel laut und deutlich und traf Lisa wie der erste eisige Strahl damals in ihrer Studenten-WG-Dusche, die volle fünf Minuten brauchte, um warmes Wasser zu spenden. Fünf Minuten, die sie an so manchem Morgen nicht übrig hatte, und genau wie jetzt gab es keine Aussicht auf Entkommen. Unweigerlich fiel nun auch ihr eigener voller Name, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu erheben. Jetzt.

    Sie spürte alle Blicke des Raumes auf sich gerichtet und versuchte, sie zu deuten. War das Verachtung? Oder gar Feindseligkeit? Oder machten sie sich heimlich

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