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Die andere Wahrheit
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eBook78 Seiten53 Minuten

Die andere Wahrheit

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Über dieses E-Book

Die Gesellschaft, in der wir leben, zeigt sich als abstraktes Gebilde aus weit verzweigten Handlungsketten. Die Einzelnen verwachsen mit ihren Spezialfunktionen, entwickeln einen moralisch indifferenten Funktionsstolz und spalten die langfristigen Folgen ihres Handelns von sich ab. Je länger diese Praxis währt, desto mehr entfaltet sie ihre zerstörerische Wirkung.

In seinem Essay analysiert Wolfgang Engler die abstrakte Wahrheit, die die Funktionslogik des Systems zur Norm erhebt, und er sucht nach Spuren einer konkreten – einer anderen – Wahrheit. Sie berichtet von dem, was man nicht zu tun bereit ist, weil man die ausgrenzende Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdinteresse, auf der das Spiel beruht, nicht mitmacht. Diese Wahrheit gilt als die der Schwachen, der Zauderer, der Versager. Höchste Zeit, sie von ihrem Stigma zu befreien – anhand von Erzählungen, die ihre Stärke offenbaren: sich in einer Welt, die es genau darauf anlegt, nicht korrumpieren zu lassen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2021
ISBN9783957493828
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    Buchvorschau

    Die andere Wahrheit - Wolfgang Engler

    Der Auftrag

    Ein Theaterstück von Franz Xaver Kroetz, „Das Nest, 1974 geschrieben, handelt von Kurt, einem Berufskraftfahrer, der mit seiner Frau Martha so einigermaßen über die Runden kommt. Nun erwarten sie ihr erstes Kind. Das macht Anschaffungen erforderlich, und sie wollen nicht geizen. Der Sprössling soll es gut haben vom ersten Tag an. Auf seinen Vater ist Verlass. Der hält sich aus allem heraus, denkt nur an die Arbeit, das wird schon. Der kleine Stefan kommt zur Welt und gedeiht. Und Kurt schiebt Woche für Woche Überstunden, wird unruhig, wenn er einmal nicht an die Reihe kommt. Dann erteilt ihm sein Chef einen „Spezialauftrag. Für eine Sonderzahlung soll er ein paar Fässer mit Flüssigkeit in einem nahe gelegenen See entsorgen. Ohne näher nachzufragen erledigt er den Job. Wenig später erscheinen Frau und Sohn am selben Ort, um baden zu gehen. Kaum im Wasser, beginnt das Kind fürchterlich zu schreien. Es wird erst krebsrot, dann bläulich am ganzen Körper, sein Zustand verschlechtert sich rapide, es muss ins Krankenhaus. Kurt hat eine giftige Lauge in den See geschüttet, das wird ihm klar, als er davon erfährt, und das sagt er Martha, seiner Frau. Die nennt ihn einen „Mörder", kündigt ihm die Ehe. Im Innersten beschämt, verzweifelt, wünscht er sich aus der Welt.

    Bald gibt es gute Nachrichten aus der Klinik. Dem Sohn geht es besser, er wird das Säurebad ohne Folgeschäden überstehen. Martha, wieder gnädig gestimmt, möchte vergeben, vergessen. Aber für ihren Mann gibt es kein Weiter-so. Er stellt den Chef zur Rede, „vergorener Wein lautet dessen Ausflucht. Die freche Lüge noch im Ohr, geht er zur Polizei, zeigt sich und seinen Arbeitgeber an. Die Sache macht die Runde. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft kommt auf ihn zu, verspricht Unterstützung. Und Kurt überlegt, selbst Mitglied zu werden. „Die Gewerkschaft, das sind viele. Vorhang.

    Ein Lernprozess mit beinahe tödlichem Ausgang, ausgeklügelt, realitätsfern, aufs Ganze gesehen, so will es scheinen. Hier wird einer im engsten Kreis von den Folgen seines ebenso blinden wie schädlichen Tuns eingeholt, unabweisbar, schmerzhaft. Lernt gleichsam hautnah. Durchstößt den Kokon, der ihn einschloss in seine kleine Welt aus Mann und Frau und Kind. Macht den Vorfall öffentlich, übernimmt Verantwortung. Geht infolge des Kurzschlusses von Handlung und Handlungsfolgen womöglich als ein anderer daraus hervor. Ein Sonderling, ein Sonderfall, kontrafaktisch zu den Verlockungen der Moderne, schadlos Schaden anrichten zu können, unentdeckt zu bleiben, ungreifbar; das Unheil baden andere aus, irgendeiner, irgendeine.

    Aber vielleicht ist das inzwischen unser Fall – trotz (oder aufgrund) der immer noch weiter ausgreifenden Verlängerung und Verzweigung der Handlungsketten, hinter der die Akteure in Deckung gehen können. Vielleicht stehen wir an einem Wendepunkt und es fällt nicht mehr so leicht, sich ins Dickicht der ‚abstrakten Gesellschaft‘ zu verkrümeln. Mögen viele weiter davon träumen, ungeschoren davonzukommen, wenn sie sorglos ihren Privatfisch schwimmen lassen. Aber da ist noch eine andere Wahrheit, eine konkrete, die unter die Haut geht, die alle Tricksereien, alle Versteckspiele nicht gänzlich zum Schweigen bringen können. Eine Wahrheit, die es schwer hat, ins Bewusstsein vorzudringen, das Wort zu ergreifen. Plötzlich erscheint sie an der Oberfläche, und die Tarnung fliegt im Handumdrehen auf: „Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen."¹

    Und nun?

    Antreten zum Moralappell?

    Je suis Kurt – zumindest so lange, bis auch uns der Schlag trifft und wir endlich sehen, wer wir sind?

    Was hat es auf sich mit der späten Einsicht, die Kroetz seinem Protagonisten zuschreibt und die er uns zur näheren Prüfung unterbreitet?

    Leibhaftiges Denken

    Betrachten wir den (fiktiven) Akt der Bewusstwerdung einmal aus der Nähe. Wir haben es hier in keiner Weise mit einer Kopfgeburt zu tun, im Gegenteil. Das Denken hat Kurt in seine missliche Lage gebracht, einseitiges, folgenblindes Denken. Er denkt viel, zu viel, denkt weg vom Ausgang seines Tuns, denkt diesen gleichsam zu, verwehrt, denkend, seinem Instinkt, der ihm hätte sagen können, sagen müssen, dass da etwas faul ist an der Sache, jede Mitsprache bei der Ausführung des Anschlags. Denkt an all denen zielsicher vorbei, die die bräunlich rote Flüssigkeit, die er ins Wasser laufen lässt, buchstäblich ausbaden müssen, macht „dabei kein verängstigtes Gesicht, eher triumphierend, selbstverständlich". Denkt den See in dem Moment als Neutrum, das sich nicht wehren und dem er antun kann, was ihm beliebt.

    Derart schirmt er sich von allem ab, was die Erledigung seines fischigen Auftrags im letzten Augenblick durchkreuzen könnte: vom Leben im See, von künftigen Badegästen, von sich selbst als Wesen aus Fleisch und Blut. Geht, nur mehr die Prämie im Kopf, bedacht zu

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