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Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg
Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg
Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg
eBook248 Seiten3 Stunden

Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg

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Über dieses E-Book

Die Rabenherz-Teenies Margarethe, Rudy, Seraina und Leon werden unerwartet getrennt: Zwei von ihnen landen in der Zukunft, die anderen beiden in der Vergangenheit.

Nach ihren Abenteuern als Gladiatoren im alten Rom, als Jäger einer verschollenen Tulpensorte in Amsterdam und als Agenten wider Willen zu DDR-Zeiten, wollen sich die zwei Pärchen Margarethe und Leon sowie Seraina und Rudy in Berlin erholen. Doch die Ruhe wärt nicht lange, denn ein weiterer Zeitsprung katapultiert sie in neue Abenteuer. An einem Ritterturnier im Mittelalter wird Leon lebensgefährlich verletzt, und Rudy droht in einer post-apokalyptischen Zukunft festzusitzen. Alles liegt nun in den Händen der zwei Mädchen, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Zudem erhält Zeitreise-Rabe Plonk Konkurrenz von einer Zeitmaschine.

Die Historikerin Michèle Combaz Thyssen und die Biologin Carole Enz beziehen in Band 6 von Rabenherz Themen wie den Dritten Weltkrieg, Artensterben und Klimawandel mit ein.
SpracheDeutsch
HerausgeberSistabooks GmbH
Erscheinungsdatum28. Juli 2021
ISBN9783907860809
Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg
Autor

Carole Enz

Die Biologin Carole Enz wurde am 3. August 1972 in Zürich geboren und interessierte sich schon früh für die Natur und fürs Schreiben. Als Vierzehnjährige brachte sie die Abenteuer des Rehbocks Fao zu Papier. Dieser Roman erschien allerdings erst 1997 und ist heute bei Sistabooks erhältlich. Mehrere Manuskripte folgten auf den ersten Streich, und meist spielt die Natur eine wichtige Rolle in ihren Büchern. Die Autorin arbeitete etliche Jahre als Biologin und erhielt dafür einen Doktortitel. Dann wechselte sie in den Wissenschaftsjournalismus. Heute ist sie in der Wissenschaftskommunikation tätig.

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    Buchvorschau

    Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg - Carole Enz

    1

    Versöhnung mit der Vergangenheit

    Die vier Freunde – Margarethe, Seraina, Rudy und Leon – hatten ein paar Monate nach ihrer Geheimdienst-Mission im Kalten Krieg ein verlängertes Wochenende in Berlin gebucht, um ihre traumatischen Erlebnisse aus dem Kalten Krieg zu verarbeiten. Denn wen lässt es schon kalt, vor einem amerikanischen Erschiessungskommando zu stehen oder im Folterkeller der Sowjets zu landen? Im weltberühmten Schlosspark von Sanssouci bei Potsdam nahe Berlin haben sie bei warmem Frühlingswetter den Gitterpavillon betreten, in welchem Rudy im Kalten Krieg dem Major Smirnov Uniform, Geldbeutel und Autoschlüssel geklaut hat. Und zum Erstaunen aller hat Rudy das Eis gebrochen und einen versöhnlichen Sinn in all den vergangenen Leiden gefunden, der Balsam für ihre verwundeten Seelen ist: All diese Abenteuer haben die vier Freunde noch stärker zusammengeschweisst. Nun wissen sie, dass sie sich felsenfest aufeinander verlassen und gemeinsam alles durchstehen können, was auch immer geschieht.

    Noch ganz ergriffen von der eben gewonnenen Erkenntnis, verlassen sie den luftigen Gitterpavillon und stehen nun vor einer Grabplatte, die etwas abseits liegt. «Das ist jetzt das Grab von Friedrich II., auch als Friedrich der Grosse bekannt», doziert Margarethe, die ihren Reiseführer fast schon auswendig kennt, «der Alte Fritz, wie das Volk ihn liebevoll genannt hat. Er hat Ende des 18. Jahrhunderts gelebt und bezeichnete sich als den ersten Diener des Staates.» – «Wow, solche Staatsoberhäupter bräuchte die Welt auch heute – solche, die ihr Ego zurückstecken zugunsten des Wohles ihrer Bürger!», fügt Leon anerkennend hinzu. – «Na ja, ganz über alles erhaben war er nicht», räuspert sich Seraina, die gerade ihre Geschichts-App auf dem Smartiefon konsultiert, «denn er hat den Siebenjährigen Krieg angezettelt.» – «Du bist ja langsam fast so schlimm wie Rudy mit deinem Cybertool, Rai!», grinst Margarethe mit einem Seitenblick auf Rudy, der es gar nicht mitbekommt, weil er ebenfalls auf seinem Handy Informationen sucht – und findet. Rudy blickt von seinem Smartiefon auf und fügt mit ernster Miene hinzu: «Und er hat die Folter abgeschafft. Stellt euch das mal vor! Der war für die damalige Zeit ein unglaublich modern denkender Herrscher. Der Typ ist mir richtig sympathisch.» Die andern drei stimmen Rudy zu, und alle wünschten sich, dass alle Länder dieser Welt solche Praktiken abschaffen würden.

    Die vier Freunde lassen ihre Blicke gedankenverloren über die Blumenrabatten schweifen, da schlägt Margarethe vor: «Kommt, lasst uns die Haupttreppe in der Mitte der Anlage nehmen und runtergehen zum Springbrunnen. Da können wir uns setzen und etwas essen. Wäre doch gemütlich!» Dieser Vorschlag wirkt etwas profan angesichts der Diskussionen, die sie gerade eben geführt haben, doch er findet bei allen Anklang. Die Pärchen geben sich die Hand und schreiten die Stufen hinab.

    Nach einer kurzen Pause mit Verpflegung geht es weiter mit der Besichtigung. Der Schlosspark von Sanssouci ist ein verzauberter Ort; zumindest empfinden die vier Freunde das so, als sie einen türkisblauen Pavillon mit goldenen Ornamenten durch das löchrige Grün der Vegetation durchscheinen sehen. Er sieht aus wie aus dem Bilderbuch. «Märchenhaft!», findet Margarethe und zeigt auf das glamuröse Gebäude. «Das ist, glaube ich, der Chinesische Teepavillon!» – «Ob wir da eine Tasse trinken können?», wundert sich Seraina, und beide Mädchen nähern sich dem Pavillon; die Jungs folgen ihnen auf etwas Distanz, da beide das Gebilde ziemlich unmöglich finden. «Mann, ist das ein Kitsch-Teil, was, Leo!», spottet Rudy, und dieser nickt seufzend: «Aber leider genau nach dem Geschmack unserer Herzensdamen!» Diese sind begeistert. «Kuck dort oben, da sitzt einer mit Schirm auf dem Dach, wie witzig!», lacht Seraina und deutet auf die Spitze des hutförmigen Daches. «Schau mal, Rai! Da wimmelt es von Vögeln!», bemerkt Margarethe und deutet nach oben: Tatsächlich tummeln sich über ihnen Paradiesvögel – gemalt auf die überhängende Decke des Vordaches. – «Achtung, stolpert mir nicht über die Kette!», ruft Rudy warnend, und die Mädchen überwinden das Hindernis und treten im Gleichschritt auf die unterste Stufe der Treppe zum erhöhten Eingang, der von vergoldeten Säulen umrahmt wird, zu deren Füssen goldfarbene Figuren mit spitzen Hüten kauern. «Biiiiiep!», geht plötzlich ein Alarm los, und eine Stimme aus einem Lautsprecher warnt die Touristen davor, zu nahe ans Gebäude heranzutreten. Die beiden Mädchen zucken zusammen und vollführen einen Luftsprung, als hätte sie der Blitz getroffen. Schnell überwinden sie erneut die Kette, um aus der mutmasslich alarmgesicherten Zone hinaus zu gelangen. Doch hat wirklich das Überwinden der Kette einen Alarm ausgelöst? Ihre irritierten Blicke treffen Rudy und Leon. Diese reissen beide überrascht die Augen auf: «Wie? Was?», rufen sie im Chor – «Ru, hast du den Alarm ausgelöst?», fragt Margarethe vorwurfsvoll. – «Oder war es Leo mit seinem depperten Alarmschaf?», vermutet Seraina. Beide Jungs wehren mit Mimik und Gestik die Vorwürfe ab. «Von wegen, ich hab nix gemacht!», verteidigt sich Rudy, und Leon schüttelt seinen Kopf. «Aber da steht so ein Statuentyp mit einer Tröte im Mund; vielleicht war der das?» Misstrauisch nähern sich die Mädchen erneut dem Teehäuschen, das von goldenen Statuen flankiert wird. Ein Schritt über die Kette, und wieder geht eine Sirene los. «Waaah!», schreit Seraina. «Ich vertrage Alarmsirenen nicht, das löst bei mir immer traumatische Gefühle aus!» Margarethe nickt: «Seit unserem letzten Abenteuer bin ich auch empfindlich, obwohl wir keinen Bombenalarm oder Dauerwelle oder irgendwas in der Art erlebt haben. Aber irgendwie sitzt einem das in den Knochen…» Rudy erfasst die Situation am schnellsten: «Das ist nur ein Alarm, der losgeht, wenn man dem Ding da zu nahe kommt!»

    Lebensgrosse Figuren, die asiatische Kleidung und Gesichtszüge tragen, umgeben das ganze Gebäude. Sie muten an wie Wächter und sind den Mädchen plötzlich unheimlich. Margarethe versucht, ihre Gefühle mit Humor zu untermalen: «Was, wenn die Typen plötzlich zum Leben erwachen?» Leon, der zu ihnen aufgeschlossen hat, legt beiden Mädchen beschützend einen Arm um die Schulter: «Die sollen es bloss wagen, euch anzugreifen; dann kriegen sie es mit mir zu tun!» – «Du Held!», haucht Seraina, und Leon schickt ihr einen tiefen Blick: «Liebste Rai, für dich würde ich doch alles tun – fast alles!» Margarethe räuspert sich vernehmlich und zwickt ihren Freund in den Allerwertesten, worauf er quiekend zusammenzuckt. Rudy, der sich bereits einmischen wollte, lacht laut los: «Löwe, was quiekst du wie ein Schwein?» Die Mädchen kichern. Lachend macht der Provokateur einen Bogen um die Gruppe und baut sich vor Leon auf, und man sieht, dass er um einiges gewachsen ist in der letzten Zeit. «Die Damen brauchen einen richtigen Mann als Beschützer, keinen kleinen Quieker!» Jetzt lachen alle vier, denn Leon nimmt den Spott sportlich: «Ru, Kleiner – nein, das kann ich bald nicht mehr sagen, Mann, ey! Am Ende wächst er mir noch über den Kopf!» – «Also, überlegen ist er dir sowieso!», flachst Seraina. «Beim Wagenrennen hat er dich überflügelt, und den Stunt mit der Russenlimo musst du ihm erst mal nachmachen!» Auf diese Bemerkung reagiert Leon sichtbar verstimmt, und Margarethe spürt das sofort und zieht ihn beiseite: «Leon, Liebster, du hast das toll gemacht, echt! Das war Glückssache, dass Rudy abgesahnt hat!» – «Von wegen Glück!», interveniert Rudy, «Das war kalte Berechnung und Taktik; ich habe mir viel dabei überlegt. Und beim Rennen musste ja einer die Kastanien aus dem Feuer holen, nachdem du einen Kopfsprung in den Staub gemacht hast, Leo!» Margarethe sieht, dass sie die Sache mit ihrem Eingreifen noch verschlimmert hat, und versucht, zu schlichten: «Könnt ihr nicht damit leben, dass es ein tolles Teamwork war? Es hat sich nun mal einfach so ergeben, und ihr beide habt euer Bestes gegeben!» Leon knurrt: «Aber wegen seinem depperten Autodiebstahl haben sie mich in den verdammten Käfig gesperrt!» – «Und mich mit Elektroschocks gefoltert!», gibt Rudy ungnädig zurück. – «Da kann doch ich nix dafür!», brummt der Löwe, und beide stehen sich gegenüber in Drohhaltung. Margarethe drängt sich zwischen sie und seufzt laut: «Quatsch, ICH war schuld, das haben wir doch vorhin schon durchgekaut! Wegen meiner Schnapsidee mit den Spionen; ich schaue zu viele bescheuerte Filme!» Sie sieht ziemlich verzweifelt aus und fühlt sich mies. – «Hey, Leute, hört auf!» greift Seraina schlichtend mit ganz ruhiger Stimme ein. «Jetzt hatten wir doch einen so schönen Moment vor einer halben Stunde, da sollten wir uns nicht in die Haare geraten wegen eines doofen Alarms, der die Touristen von dem Pavillon fernhalten soll!»

    Tatsächlich geht der Alarm inklusive Lautsprecheransage erneut los, als sich eine wohlbeleibte Dame mit einer überdimensionierten grünen Blümchenbluse und Sumoringerbeinen über die Kette auf die erste Stufe gewagt hat. Und auch sie zuckt zurück und sieht aus, als würde sie gleich kippen und davonkugeln. Besorgt springt ihr ein dünner Mann mit Strohhut und Karohemd zu Hilfe, dessen dürren Beine aus zu weiten Shorthosen ragen. Die Kugeldame droht ihn zu überrollen, und die Teenager grinsen angesichts dieser absurden Szene. In Leon erwacht wieder sein Sinn für Humor, und er möchte sich mit Margarethe zwischen den Goldmenschen fotografieren lassen. «Hey, und der Alarm, wie willst du den austricksen?», zischt Margarethe und will ihn am Ärmel packen und zurückhalten. «Wenn schon, denn schon!», grinst er, setzt über die Ketten und die Stufen. Im gleichen Moment ertönt ein schriller Ton, der alle zusammenzucken lässt, und die Stimme aus den Lautsprechern verwarnt den Eindringling erneut. Leon springt unbeeindruckt zu einer älteren Goldperson mit chinesischen Gesichtszügen und Hut hinauf.

    «Drück ab, Mäg!» Doch weil jetzt zwei Uniformierte um die Ecke kommen, ist Leon im Nu wieder bei den andern dreien, und schuldbewusst rennen alle vier davon wie Schulkinder, die gerade mit einem Fussball des Nachbarn Kellerfenster zerschlagen haben. «Mann, Leo, du bist einfach peinlich!», schilt ihn Rudy entnervt.

    «Als Touristenschreck ist die Sirene wirklich brauchbar, aber sie nervt tierisch!» Seraina pflichtet ihm bei: «Die macht die ganze Stimmung kaputt! Lasst uns gehen!» Die Naturfreunde Margarethe und Leon bedauern es zwar, dass sie den schönen Park bereits wieder verlassen müssen, aber sie sehen ein, dass die Idylle trügt und die Fassade sehr dünn ist. «Kitschschlösser und künstliche Ruinen, da hat der Alte Fritz ja komische Ideen von Romantik gehabt!», flachst Leon kopfschüttelnd. – «Wusstest du übrigens, dass der Badepavillon im Hernerpark Horgen von Sanssouci inspiriert ist?», fragt Margarethe rhetorisch. Weil sie seit kurzem in Horgen wohnt, hat sie sich natürlich über ihre neue Heimat gründlich informiert, und da sie gerne im See schwimmt, hat sie auch über den auffällig ins Wasser gebauten Pavillon recherchiert, der als Bootshaus und Zugang zum See für badefreudige Parkbewohner dient.

    «Mir reichts mit diesem Kitsch, lasst uns nach Berlin reinfahren», schlägt Seraina vor. «Ich will auf den Ku’damm!» Rudy lacht: «Raina will rain, äh, rein nach Berlin, aber was für Kühe willst du melken?» – «Ich glaub, deine Braut ist noch nicht ganz auf dem Damm nach dem Sirenenschock», führt Leon das Wortspiel weiter. – «Ihr Ignoranten, kennt ihr den Ku’damm etwa nicht?» – «Heisst der nicht Kurfürstendamm?», korrigiert Margarethe, die bereits wieder ihren Reiseführer gezückt hat. Rudy frotzelt: «Steck das Ding weg, Mäggy, sonst fällst du noch kopfüber in einen Teich!» Die gute Laune ist zurück, je weiter sich die vier von dem alarmgeplagten Teepavillon entfernen. Sie versinken in Schweigen und sind zuerst in Paaren Arm in Arm unterwegs, hintereinander, dann schliesst Margarethe mit Leon zu den anderen beiden auf und legt ihrer Freundin den Arm um die Schulter, und Arm in Arm verflochten gehen die vier in einer Reihe, wieder in Harmonie, und alle erinnern sich an die berührende Szene vor der Sonnenlaube, Tatort des Stelldicheins, wo eine wichtige Etappe ihrer letzten Mission ihren Anfang genommen hatte.

    * * *

    Mit der S-Bahn gelangen sie zurück zum Bahnhof Zoo, wo sie aussteigen und zu Fuss zum Kurfürstendamm flanieren. «Möchte jemand noch zurück ins Hotel?», erkundigt sich Margarethe bei ihren Freunden. – «Nein danke, Frau Reiseführerin», antwortet Leon wie ein Schuljunge, und fügt lasziv lächelnd hinzu: «obwohl es durchaus verlockend wäre, wo wir doch im edlen Klumpinsky so ein schönes Himmelbett für uns allein haben!» – «Leon denkt immer nur an das Eine!», lacht Seraina. «Hast du noch nicht genug nach der letzten Nacht?» Schuldbewusst errötet der Angesprochene: «Habt Ihr uns etwa gehört?» Auch Margarethe wird knallrot, kontert aber wie aus der Pistole geschossen: «Löwen brüllen nun mal, das ist ganz normal, und wenn ihr mit dem Joystick hantiert, ist das auch nicht ganz geräuschlos!» Sie zwinkert schelmisch, und nun haben Seraina und Rudy rote Köpfe. Er fasst sich als Erster und spielt den Ball zurück: «Als versierter Spieler hab ich meinen Joystick immer im Griff!» Seine Freundin kichert nur und gibt ihm einen Kuss: «Fragt sich, wer den besser im Griff hat – du oder ich!» Kopfschüttelnd macht Leon ein paar rasche Schritte, um demonstrativ einen Abstand zwischen sich und die anderen drei zu legen: «Und IHR behauptet immer, ich mache dauernd zweideutige Sprüche! Ihr seid sowas von peinlich!» Wie auf Knopfdruck lachen alle vier los und können fast nicht mehr aufhören, bis sich die Passanten umdrehen auf dem Kurfürstendamm, auf dem sie mittlerweile angelangt sind.

    Die einstige Prachtsstrasse, die sich ein Stück weit durch Berlin zieht bis zur Gedächtniskirche, ist gesäumt von Läden und Restaurants. Auffällig ist der schwarze, einsame Turm, der absichtlich belassen wurde als Mahnmal für die Kriegsgräuel. «Schrecklich, diese Ruine!», findet Seraina schaudernd. «Da krieg ich immer Gänsehaut!» Rudy versteht den Wink mit dem Zaunpfahl und legt seiner Freundin einen Arm um die Schulter, um sie fest an sich zu ziehen. Er erwidert nichts, weiss aber mittlerweile, dass sie wegen eines früheren Lebens eine besondere Verbindung zur Stadt Berlin hat, was sich ja bereits auf ihrer letzten Mission gezeigt hat. Dort waren sie Ende Jahr im Berlin zur Zeit des Kalten Krieges, und das war ein ganz anderes Berlin als die wiedervereinigte, hippe Stadt, die mittlerweile als Mekka der Kunstschaffenden gilt.

    Sie nähern sich dem Turm, der von der Kirche noch übrig ist. «Der einzig erhaltene Kirchturm ragt wie ein mahnender Zeigfinger in den Himmel», liest Margarethe aus ihrem Reiseführer vor, und Leon kann es nicht lassen, anzumerken: «Erinnert mich eher an einen Mittelfinger!» Mit ungnädigem Blick fährt seine Freundin fort: «Das ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 1895 fertiggestellt zum Gedenken an Kaiser Wilhelm den Ersten.» Rudy knüpft an: «Sie wurde im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und als Mahnmal belassen, und das moderne Ding daneben ist die Kirche, die in Gebrauch ist.» – «Da soll es wunderschöne blaue Fenster haben und eine ganz besondere Christusfigur», weiss die Geschichtsinteressierte. Skeptisch rümpft Seraina ihre Nase, aber erstaunlicherweise möchte Leon die beiden Kirchen besuchen. Sie schickt ihm einen fragenden Blick: «Was interessiert dich als Buddhist eine christliche Statue?» – «Ich habe mal Bilder davon gesehen, die ist wirklich etwas Besonderes», erklärt Leon, als sie bereits eintreten in die zum Museum unfunktionierte Ruine. Sie verstummen schlagartig, denn der Ort berührt alle vier. Immer noch lässt sich die damalige Schönheit des Gotteshauses erahnen, und unter der Mosaikdecke führen Treppen einfach ins Leere, ohne Anfang und ohne Ende. Von aussen betrachtet, raubt ihnen das Loch im Kirchenbauch den Atem: Die Fensterrosette fehlt, und durch die klaffende kreisrunde Öffnung erblicken sie den modernen Bau, der sich direkt hinter der Ruine erhebt.

    «Die moderne Kirche sieht von aussen nichtssagend aus, so steril!», motzt Seraina, und Rudy wendet ein: «Aber der Kirchenraum wurde laut meiner Berlin-Reise-App zwischen 1958 bis 1961 gebaut in Form eines Achtecks aus blauen Glasbausteinen; das klingt interessant.» Zögernd treten die Mädchen nach ihren Partnern ein, dann werden sie ganz still. Unerwartet ist die Wirkung der blauen Fenster, und die im Raum schwebende Christusfigur fasziniert die vier Teenager. «Wie ein Rabe!», haucht Margarethe angesichts der Gestalt, die mit ausgebreiteten Armen mitten im blauerleuchteten Raum zu schweben scheint. Beruhigend und erhebend zugleich ist die tiefblaue, intensive Farbe, und die Figur scheint zu leuchten. «Wie ein Engel», staunt sogar Seraina, und Leon fügt hinzu: «Wenn wir jetzt abheben, würde ich mich nicht wundern!»

    Sie verbringen lange Zeit in der neuen Gedächtniskirche, in Meditation versunken. Alle vier sind sich ohne Worte einig, das dies ein guter, friedvoller Ort ist – ein Ort zum Auftanken. Hier zu verweilen, unter den Schwingen der Lichtgestalt, tut gut.

    * * *

    «Was wollen wir jetzt noch anschauen?», fragt Margarethe, als sie wieder draussen im Grossstadtgewimmel rund um den Kurfürstendamm sind. Bis zu der modernen Skulptur waren sie wortlos geschlendert, wo sie sich jetzt gegenseitig fotografieren, mit dem Kirchturm im Hintergrund. «Skulptur Berlin heisst das Ding, das kann man sich merken!», weiss Rudy und bemerkt, dass Margarethe sich in ihrem Reiseführer mehrere Seiten mit Klebezetteln markiert hat. «Hast du den auswendig gelernt, oder was?», neckt er die selbsternannte Reiseführerin. – «Ich bin halt der haptische Typ, so finde ich die Sehenswürdigkeiten wieder, die ich mir herausgesucht habe!» – «Auf meinem Smartiefon habe ich auch Bookmarks, ätsch!», bemerkt Seraina und streckt ihrer Freundin die Zunge heraus. – «Ich kann besser mit Büchern umgehen als mit Cybertools», verpasst ihr Margarethe eine Retourkutsche und zeigt Seraina ihrerseits ihre Zunge. – «Ladies, was ist das für ein Benehmen!», reagiert Leon mit gespielter Entrüstung. «Was sagt Mr. Joystick dazu?» – Rudy, der nur die Hälfte mitbekommen hat, schlägt mit Blick auf sein Smartiefon vor: «Genau, da gibt’s ein Computerspiele-Museum, das wär’ doch was!» – «O nee, ohne mich!», winkt Margarethe ab, und auch Leon schaut nicht begeistert. – «Ich bin lieber selbst aktiv in einem Game», fügt Seraina achselzuckend hinzu. – «Ru ist überstimmt», flachst Leon, «aber Museum wär nicht übel, wir könnten ins Museum für Naturkunde.» Auf den Vorschlag reagieren Rudy und Seraina lauwarm, weshalb er fortfährt: «Oder gehen wir doch auf die Museumsinsel!» Strahlend reagiert Margarethe darauf: «Prima Idee, da gibt’s das Pergamonmuseum, das Historische Museum, die Nationalgalerie, das Alte Museum…» – «Und das Neue gibt’s auch?», witzelt Rudy. – «Natürlich gibt’s das Neue Museum, und das Alte ist über die Antike, …und den Dom sollten wir unbedingt auch ansehen!» Leon grinst: «Auch wenn der Papst den grösseren hat?»

    2

    Tiefergelegte Giraffen und stumpfe

    Krummsäbel

    Die vier Freunde entscheiden sich, das Pergamonmuseum zu besuchen, weil

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