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Habitat 2066
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eBook516 Seiten6 Stunden

Habitat 2066

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Über dieses E-Book

Sommer 2066:
Eine Reihe skurriler Morde durchbricht den ansonsten ruhigen Alltag des Frankfurter Kriminalpolizisten Sebastian Feininger. Die einzige Spur führt ihn auf das Habitat - der ersten dauerhaften, extraterrestrischen Kolonie der Menschheit. Dort, im geostationären Orbit, 36.000 Kilometer von der Erde entfernt, führen die Bewohner der künstlichen Ringwelt ein von ihrem Mutterplaneten weitgehend autarkes Leben. Gemeinsam mit seiner Kollegin Hilda Germinski von der habitanen Polizei beginnt er mit den Ermittlungen. Dabei gerät die zwielichtige Tripple-S Holding in ihr Visier, insbesondere deren aalglatter CEO, Hardy Bernstein. Sebastian erkennt sehr schnell, dass es sich mit dem scheinbar so malerisch anmutenden Leben an Bord des Habitats in etwa so verhält, wie mit dem sprichwörtlichen Staate Dänemark.

Und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse …

Ein Science-Fiction-Krimi
SpracheDeutsch
HerausgeberEpyllion Verlag
Erscheinungsdatum9. März 2023
ISBN9783947805808
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    Buchvorschau

    Habitat 2066 - Ulrich Atzbach

    Prolog

    Lange Zeit glaubten die Menschen, dass der Bau der Cheops-Pyramide ihre bedeutsamste bautechnische Leistung wäre. Doch weder die Pyramiden, der Tempel des Apollon, die hängenden Gärten, der Koloss von Rhodos noch all der andere, längst verfallene Kram aus vergangenen Epochen, ebenso wie die Chinesische Mauer, Manhattan Island und Chi-Leng, das 2040 in Peking eröffnete größte Kaufhaus der Welt, konnten dem Projekt das Wasser reichen, das man im Jahr 2042 in Angriff nahm (dem Jahr übrigens, in dem Chi-Leng wieder pleiteging).

    Nicht wenige Menschen sahen darin eine Vision. Vielleicht handelte es sich aber auch einfach nur um Übermut, wie beim Bau der Pyramiden viertausendsechshundert Jahre zuvor. Oder es war schlicht und einfach blanker Irrsinn, wie einige Nörgler nicht müde wurden zu behaupten. Doch wie dem auch sein mochte: Die Völker der Welt rückten während des Baus zusammen, beseelt von der Idee, gemeinsam etwas Großes zu schaffen, das sie den Nachfolgegenerationen hinterlassen konnten. Und anders als bei der Umweltverschmutzung, den Schuldenbergen und dem wirtschaftlichen Chaos sollte es ausnahmsweise mal etwas Positives sein.

    In sehr klaren Nächten sah man das Zeugnis menschlicher Schaffenskraft mit bloßem Auge am Himmel. Ein sich in gleichförmiger Geschwindigkeit drehendes, radförmiges Gebilde mit gigantischen Ausmaßen, die sich von der Erde aus nur erahnen ließen. Das Habitat bildete die erste und bis heute einzige Kolonie außerhalb ihres Heimatplaneten: Eine Kolonie, auf der Menschen unabhängig von allen irdischen Ressourcen existierten. Und wenn die Dinge auf der guten alten Erde weiterhin schlecht liefen, könnte ihnen das Habitat auch irgendwann mal als moderne Arche Noah dienen. Es gab viele Gründe, in das größte Projekt der Menschheitsgeschichte vernarrt zu sein, zumindest während seiner Entstehungsphase und der ersten Monate nach Fertigstellung. Seitdem aber wollten die meisten Leute das Ding am liebsten eigenhändig vom Firmament schießen und zu Klump hauen ...

    1

    „Bitte, Prince! Komm wieder zurück!"

    Das sah ihm mal wieder ähnlich! Prince wollte ihr immer noch beweisen, wie mutig er sein konnte. Deshalb hatte er sich auch ihren Namen auf die Innenseite seines rechten Unterarms tätowieren lassen. Dorthin, wo es ihm zufolge am meisten weh tat. Jetzt aber übertrieb er es mit seinem zur Schau getragenen Draufgängertum. Irgendetwas Bedrohliches ging dort unten vor und Edda konnte nicht anders, als sich immer tiefer in das schützende Gebüsch zu verkriechen.

    „Komm zurück!", flüsterte sie mehr, als dass sie ihm nachrief. Prince war längst verschwunden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Eine Zeitlang blieb sie auf dem Bauch liegen und versuchte, ihre Panik in den Griff zu bekommen. Dann hörte sie von unten Motorenlärm. Vorsichtig reckte sie den Kopf, um zu sehen, was da vor sich ging.

    Die Baustelle lag hell erleuchtet unter ihr am Fuß des kleinen Hügels. Eigentlich waren Prince und sie nur hierhergekommen, um es nett miteinander zu treiben. Der Platz bot mindestens zwei Vorteile: gut zugänglich zu sein und dennoch weit genug ab vom Schuss zu liegen. Jeden Abend nach Ende der Bauarbeiten an der neuen Schnellstraße wurden in dem umzäunten Depot die Fahrzeuge und Maschinen abgestellt. Danach herrschte üblicherweise Ruhe.

    Heute nicht.

    Sämtliche Scheinwerfer der Bulldozer und Planierraupen richteten sich auf die Mitte des Depots. Die Typen, die das ganze Theater dort unten veranstalteten – Eddas Einschätzung nach mochten es etwa zehn sein – huschten betriebsam umher. Bewegten sie sich innerhalb der Lichtkegel, so warfen ihre Gestalten lange Schatten in alle Richtungen auf den Boden. Verließ einer der Männer den erleuchteten Bereich, so war es, als würde er buchstäblich von der Dunkelheit verschluckt werden.

    Die Baustelle lag etwa dreißig bis vierzig Meter von ihr entfernt. So gut es auf die Entfernung eben ging, beobachtete Edda die in einem Kreis stehenden Männer. Einer, er musste mindestens zwei Meter groß sein, trug einen dreiteiligen Anzug mit einer dieser modernen Leichtmetallkrawatten, die man gerade überall in den Schaufenstern der teuren Modehäuser sah. In der Mitte des Kreises kniete jemand mit auf dem Rücken verbundenen Händen auf dem Boden. Ein zarter Windhauch blies in Eddas Richtung und trug Teile der Konversation zu ihr hinauf. Man hörte, wie die anderen auf den Knienden einredeten. Mal lauter, mal leiser. Doch auch ohne dass sie mehr als nur ein paar Wortfetzen verstehen konnte, spürte sie, dass gerade die leisen Worte die bedrohlichsten waren.

    Unvermittelt schlug einer der Männer dem Gefesselten ins Gesicht, sodass er zur Seite in den Dreck kippte. Zwei der anderen nahmen ihn unter den Achseln und zogen ihn wieder in die aufrechte Position. Edda hatte den dumpfen Schlag bis in ihr Versteck gehört. Der Gefangene krümmte sich noch, als ihn schon der nächste Schlag auf Höhe der Nase erwischte. Auch diesen Einschlag konnte sie ein wenig zeitversetzt hören. Das Blut des Gefangenen durchtränkte augenblicklich das weiße Shirt.

    Der große Mann in Anzug und Krawatte schrie nun auf den Verletzten ein. Edda konnte aber nichts davon verstehen, denn einer der Lastwagen fuhr mit dröhnendem Motor in die Mitte des Platzes. Wegen der sich drehenden großen Trommel auf dem Ausleger identifizierte Edda den Lastwagen als Betonmischer. Nicht etwa, dass sie solche Ungetüme schon häufiger gesehen hätte. Beton war ein Werkstoff aus vergangener Zeit, der heutzutage kaum noch genutzt wurde. Aber sie kannte diese Art Nutzfahrzeuge aus illustrierten Kinderbüchern.

    Der Betonmischer wurde von zwei Männern beim rückwärts einparken eingewiesen. Aus dem nach oben gerichteten Auspuff drang dichter Qualm, der sich wie ein feiner Schleier über den Platz legte. Direkt hinter einem hölzernen Kasten, einer Verschalung, die man zum Aushärten nutzte, etwa so groß wie ein Zehn-Fuß-Container, hielt der Betonmischer an. Zwei der Männer drehten ein Rohr am rückwärtigen Teil des LKW über die Verschalung und ließen den zähen Beton hineinlaufen.

    Langsam begriff Edda, was dort unten vor sich ging. Mit Sicherheit hatten die Männer den Beton nicht herbeigeschafft, um einen hübschen Monolithen daraus zu gießen. Sie würden ihren Gefangenen hineinwerfen, um ihn zu töten. Sie verstand nicht, wozu dieser ganze Aufwand gut sein sollte. Immerhin hätten sie ihn ja einfach erschießen, totschlagen oder Ähnliches mit ihm anfangen können. Und als Versteck für eine Leiche hätte man sich auch etwas Schlaueres einfallen lassen müssen. Aber es war nicht ihre Aufgabe, die Gedankengänge der Männer auf deren Pfiffigkeit zu überprüfen. Vor allem musste sie aufpassen, dass sie nicht von ihnen entdeckt wurde. Sonst bekäme der Mann wohl weibliche Gesellschaft bei seinem anstehenden Bad im Beton.

    Vorsichtig schob sie sich ein Stück aus dem Gebüsch und sondierte ihr Umfeld in alle Richtungen, um eine Möglichkeit zu finden, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Hinter ihr herrschte tiefe Finsternis. Erst langsam, als sich ihre Pupillen wieder etwas geweitet hatten, konnte sie Umrisse von Büschen und größere Felsbrocken auf dem Hang erkennen. Dort oben, nur ein kleines Stück weit entfernt, ragte ein abgestorbener Baumstamm in die Höhe. Er diente Prince und ihr als Orientierungspunkt bei ihren nächtlichen Bauplatzbesuchen. Wenn sie es schaffte, unbemerkt dort hinaufzugelangen, wäre sie in Sicherheit. Aber wo war Prince? Verzweifelt hielt sie nach ihm Ausschau. Edda schämte sich dafür, dass er in ihren Fluchtgedanken lediglich eine Nebenrolle spielte. Wenn überhaupt. Durfte sie ihn einfach zurücklassen? Wenn er noch länger den Helden spielen würde, könnte sie für nichts garantierten.

    Noch im gleichen Moment erschienen all diese Gedankenspiele Makulatur. Einer der Männer schleppte Prince in die Mitte der Baustelle. Dorthin, wo alle Lichtkegel aufeinandertrafen und wo sich der Gefangene gerade in seinem eigenen Blut kniend heftig erbrach. Prince hatte sich zu weit vorgewagt und war geschnappt worden. Er wehrte sich nach seinen Möglichkeiten, hatte aber gegen seinen kräftemäßig deutlich überlegenen Gegner keine Chance. Als diesem Prince’ Renitenz zu bunt wurde, schlug er ihm mit der Faust ins Gesicht. Mit dem Ergebnis, dass Prince keinen Mucks mehr von sich gab und der andere Gefangene nicht mehr der einzige Mensch mit blutüberströmtem Hemd auf der Baustelle war.

    Edda fühlte sich gänzlich außerstande, ihrem Freund zu Hilfe zu eilen. Was hätte sie auch schon ausrichten können? Vielmehr befürchtete sie, dass sich die Typen dort unten sehr bald die Frage stellen würden, ob sich Prince hier allein aufgehalten hatte. Und wie um ihre Gedankengänge zu bestätigen, wurden die schwenkbaren Scheinwerfer auf den Dächern der Planierraupen und Bulldozer auf den Hang gerichtet. Edda schob sich zurück und drückte sich tief in ihr Versteck, den Bauch eng an den lehmigen Untergrund gepresst. Der Bereich hinter ihr, der eben noch in tiefster Schwärze gelegen hatte, war nun hell erleuchtet. Eddas Atem ging stockend und erschien auf einmal viel zu laut. Sie versuchte ihn anzuhalten und auf die Stimmen zu lauschen. Die Typen schrien herum, und jetzt konnte sie ein paar der Worte verstehen. Jemand brüllte den Mann an, der Prince k. o. geschlagen hatte: „Warum hast du ihn vorher nicht gefragt, ob er allein ist? So was Bescheuertes!"

    Edda wimmerte. Sie malte sich aus, wie sie zu ihr hinaufkamen, jeden Stein auf ihrem Weg inspizierten und alle möglichen Verstecke absuchten. Dann aber richteten sie die Scheinwerfer unvermittelt wieder vom Hang weg und von einem Moment zum anderen umgab sie erneut tiefe Dunkelheit. Offenbar hatten die Männer nach Eddas Einschätzung anderes zu tun, als das Terrain abzusuchen. Schließlich wäre es ohne Licht nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, hier jemanden zu finden.

    Edda überlegte nicht lange. Wenn Prince überhaupt eine Chance hatte, heil aus diesem Schlamassel herauszukommen, dann nur, wenn sie schnellstmöglich Hilfe holte. Sie atmete tief durch und begann den Hang nach oben zu robben, so vorsichtig und leise wie irgend möglich und immer bereit, notfalls aufspringen und losrennen zu können.

    Schneller als erwartet erreichte sie den abgestorbenen Baum. Nur noch wenige Meter, dann wäre sie endlich außer Sichtweite. Sie würde zurück zur Metro-Station laufen und von dort die Polizei alarmieren. Dann wäre zumindest schon mal sie selbst in Sicherheit.

    Oben angekommen, warf sie noch einen letzten Blick zurück auf die Baustelle. Nach wie vor standen die Männer um den Verletzten herum. Niemand schien ihr gefolgt zu sein. Prince konnte sie auf die Schnelle nirgendwo entdecken. Hatten sie ihn laufen lassen? Während sie nach ihrem Freund Ausschau hielt, betraten zwei weitere Männer die Szenerie. Einer schleifte etwas hinter sich her, das man auch ohne viel Fantasie nur für einen in eine Decke eingehüllten menschlichen Körper halten konnte. Der andere trug ein zusammengerolltes Bündel auf dem Arm, das er direkt vor dem Gefangenen auf den Boden warf. Edda runzelte die Stirn. Waren das etwa Taucheranzüge?

    Hinter ihr bewegte sich etwas ...

    – – –

    Mürrisch betrachtete Sebastian Feininger seine nur wenige Monate alten Business-Schuhe, die er nach Ablauf des heutigen Tages wohl in den Müll schmeißen konnte. Er wollte sich gar nicht ins Gedächtnis zurückrufen, wie viel Geld er dafür hingeblättert hatte. Nun stand er im regendurchtränkten Schlamm dieser vermaledeiten Autobahnbaustelle im Norden Frankfurts und hatte bei jedem Schritt Probleme, den Fuß mitsamt dem Schuh aus dem Morast zu ziehen. Alle anderen um ihn herum schienen besser vorbereitet und trugen die nicht ganz so schicken, dafür aber deutlich robusteren Standard-Gummistiefel der Tatort- und Spurensicherung.

    Auf der Baustelle herrschte emsiges Treiben. Jeder schien mit irgendetwas beschäftigt zu sein. Insbesondere die Leute der Spurensicherung machten ganz schön Alarm, luden sie doch gerade ihren brandneuen Tomografen von der Ladefläche ihres Multifunktions-Vans ab. Ein sperriges Teil, das aber deutlich filigraner wirkte als sein Vorgängermodell. Für dessen Einsatz hatte es noch eines Sattelschleppers bedurft.

    Jemand klopfte Sebastian von hinten auf die Schulter. Erschrocken fuhr er herum, sodass ihm eine Strähne seiner dunkelbraunen Haare ins Gesicht fiel. Es war einer der Sanitäter, die sich um den abgestürzten Bauarbeiter kümmerten. „Brauchen Sie unseren Patienten noch? Ansonsten würden wir mit ihm ins Krankenhaus fahren."

    „Im Moment nicht, antwortete er und wischte dabei die Strähne nach oben. „Wenn ich weitere Fragen habe, komme ich dann nach. Nordwest-Krankenhaus, richtig?

    Der Sanitäter nickte.

    „Wie geht es dem Mann?"

    „Alles soweit in Ordnung. Bei dem Sturz hat er sich keine Verletzungen zugezogen. Allerdings hat ihn die ganze Angelegenheit ziemlich mitgenommen. Wir haben ihm etwas FloworÒ zur Beruhigung geben müssen. Jetzt schläft er."

    Man verabschiedete sich kurz, dann stapfte der Sanitäter durch den Morast hinüber zu seinem Wagen.

    Sebastians Ermittlungen hatten ergeben, dass der Mann im Rettungswagen einem Bautrupp vorstand, der am frühen Vormittag Maschinen und Fahrzeuge aus dem Depot holen wollte. Die Einfahrt war ihnen jedoch von einem schmucken Monolithen versperrt worden, den irgendjemand letzte Nacht vor Ort aus schnell härtendem Beton gegossen haben musste. Die Mitglieder des Bautrupps hatten sogleich vermutet, dass es sich um eine plumpe Retourkutsche ihrer Kollegen vom südlichen Bauabschnitt handelte, denen sie vor einer Woche aus Jux und Tollerei die Schaufeln zweier Radlader zusammengeschweißt hatten. Der Polier des nördlichen Bautrupps – ein Typ mit Oberarmen, so groß wie die Oberschenkel eines Durchschnittmanns – machte üblicherweise keine großen Worte. So auch dieses Mal. Ohne zu zögern war er auf den Quader gesprungen, hatte sich einen Presslufthammer nach oben reichen lassen und sogleich damit begonnen, das Gebilde in mittelgroben Kies zu verwandeln. Nach einigen Hammerschlägen war der Meißel aber ins Leere gestoßen, der Polier hatte den Halt verloren und war von dem Quader auf den matschigen Untergrund gestürzt. Einige seiner Kollegen hatten zunächst gelacht, dann aber bemerkt, wie größere Mengen Blut und Körpergewebe von der Spitze des Meißels herunterliefen. In böser Vorahnung, was sich in dem Betonklotz befinden könnte, hatte man die Polizei gerufen. Die hatte sich aber in diesem Moment bereits mit zwei Streifenwagen auf der Anfahrt zu der Baustelle befunden. Alarmiert durch eine junge Frau, die wenige Stunden zuvor völlig aufgelöst im Revier erschienen war. Unter Tränen und mit stotternder Stimme hatte die Zeugin von gewalttätigen Übergriffen berichtet, die sich angeblich in der Nacht dort zugetragen hätten. Irgendeine, im ersten Moment ziemlich krude anmutende Geschichte rund um Baumaschinen, Taucheranzüge und einen verlorengegangenen Prinzen.

    Als die eintreffenden Polizeieinheiten schließlich den Schlamassel vor Ort gesehen hatten, hatten sie ihre Schlüsse gezogen und das Dezernat für Gewaltdelikte informiert. Und dann war Sebastian ins Spiel gekommen.

    „Wie lang braucht ihr noch?", erkundigte er sich bei seinem Kollegen Kleinhans, dem Chef der Spurensicherung. Ein Mann, dessen Arbeitsweise von manchen im Revier als akkurat, von anderen als phlegmatisch bezeichnet wurde.

    „Sie können es ja selbst machen, wenn’s Ihnen zu langsam geht, Kollege Feininger."

    Damit wusste Sebastian Bescheid. Es würde noch ewig dauern.

    Sebastian Feininger war nicht im Entferntesten verwandt noch verschwägert mit den Künstlern Lyonel und Andreas Feininger. Dennoch umgab er sich in seinem Büro mit Repliken ihrer Arbeiten: Schwarz-Weiß-Fotografien mit Ansichten amerikanischer Großstädte aus der Mitte des letzten Jahrhunderts von Andreas und Gemälde im Stil der klassischen Moderne von dessen Vater, dem Bauhauskünstler Lyonel Feininger. Zum einen tat er dies, weil ihm die Werke gefielen, insbesondere jedoch, weil sie ihm und seinem Umfeld einen gewissen Touch verliehen. Die Wände beruflicher Sackgassen schmückten in der Regel Wimpel und Schals von Fußballmannschaften. Oder aber Poster halbnackter Frauen, deren Körper, zumindest teilweise, mit den gleichen Utensilien bedeckt waren. Für ihn kam eine solche Außendarstellung nicht infrage. Heutzutage musste man zeigen, dass man unbeirrt den Erfolg suchte. Insbesondere, wenn man schon neununddreißig war.

    Brachte tatsächlich jemand die Namen Lyonel und Andreas Feininger mit seinem in Bezug und fragte nach, ob sie denn in irgendeiner Art miteinander verwandt seien, antwortete Sebastian nur mit einem vielsagenden „Über tausend Ecken". Wer hätte das schon nachprüfen können oder vor allem wollen?

    Als besonderes Zeichen seiner gehobenen Weltanschauung zierten zudem wechselnde Zitate von berühmten Persönlichkeiten den Bereich hinter seinem Schreibtisch, gerahmt auf einem dezenten, anthrazitfarbenen Untergrund mit den Maßen ein Meter mal achtzig Zentimeter. Bis vor einem Monat hing dort eines von Nelson Mandela. Sebastian hätte nicht sicher sagen können, wer genau dieser Mandela eigentlich gewesen war oder was er mit seiner Aussage hatte erreichen wollen. Der genaue Wortlaut war ihm mittlerweile auch entfallen. Wie so oft hatte es mit Gerechtigkeit, Gleichheit oder etwas Ähnlichem zu tun. Egal wie, sein ehemaliger Vorgesetzter hatte sich mehrmals positiv dazu geäußert. Als aber ein neuer Chef im Revier der ersten Frankfurter Kriminalhauptwache Einzug gehalten hatte, hatte Sebastian den Rahmen abgehängt. Was, wenn die Aussage seinem Vorgesetzten zu politisch gewesen wäre oder er gar eine gänzlich andere Meinung vertreten hätte als dieser Mandela?

    Um kein Risiko einzugehen, prangte nun in der gleichen Größe und auf demselben dezenten Untergrund ein Zitat von einem Typen namens Laotse an der Wand. Der Verkäufer im Repliken-Atelier hatte ihm versichert, dass der Verfasser – dem Namen nach verbarg sich nach Sebastians Einschätzung ein asiatischer Philosoph dahinter – mit Politik nichts am Hut gehabt hatte. „Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt" stand darauf.

    Das hörte sich gut an: „... den ersten Schritt machen", murmelte er vor sich hin, beinahe knöcheltief im Schlamm stehend.

    Betont vertraulich beugte sich der junge Zivilbeamte zu Sebastian herüber, der ihm zu seiner Unterstützung zugeteilt worden war. „Wenn das so weitergeht, stehen wir heute Abend noch hier."

    Sebastian schaute auf das Namensschild des etwas aufdringlichen jungen Kerls, den er vor seiner Ankunft auf der Baustelle noch niemals gesehen hatte, weder im Revier noch sonst irgendwo. „Polizeimeister Jörgen, las er den Namen von dem Dienstausweis ab, den der Junge betont locker an einem Band vor der Brust trug. „Haben Sie heute vielleicht etwas Wichtigeres vor?

    „An einem Samstag im Juni? Wie kommen Sie denn darauf?"

    Unglaublich, welchen Sarkasmus sich die niederen Dienstgrade ihren Vorgesetzten gegenüber rausnahmen. Sebastian überlegte, wie alt Jörgen wohl sein mochte. Vielleicht Anfang, höchstens Mitte zwanzig? Jedenfalls deutlich jünger als er. Schon allein dieser Altersunterschied hätte dafür sorgen müssen, dass Jörgen ihm, dem einzigen Polizeikommissar vor Ort, etwas mehr Respekt entgegenbrachte. Ein weiterer beiläufiger Blick auf das Namensschild des Jungen zeigte ihm, dass es entgegen allen Gepflogenheiten keine Angaben zu dessen Dienststelle enthielt.

    Sebastian ließ die fruchtlose Konversation im Sande verlaufen und wandte sich von Jörgen ab. Stattdessen verfolgte er mit demonstrativem Interesse die Bemühungen der Spurensicherung, den Maximum Depth Tomograf oder auch MDT in die richtige Position für die Durchleuchtung des Betonklotzes zu bringen.

    Nach einigem hin und her rangieren waren der MDT und der kleine, improvisierte Leitstand neben dem Van einsatzklar. Um das Innere des Klotzes zu scannen, bedurfte es nur noch Kleinhans’ Einsatzbefehl. Dann endlich würde man wissen, ob sich die allgemeinen Befürchtungen bestätigten und tatsächlich jemand darin steckte.

    Doch Kleinhans ließ sich mit seinem „Go!" ein wenig Zeit. Er kontrollierte zunächst noch einmal den sicheren Stand des Vans auf dem glitschigen Untergrund, begutachtete die Profiltiefe der Autoreifen und vermaß mit einem Zollstock die Entfernung des Tomografen vom Betonklotz sowie dessen Durchmesser und Höhe (obwohl die nach Sebastians Meinung bei der anstehenden Messung gar keine Rolle spielte). Zu guter Letzt unterzog er noch den Meter selbst einer kritischen Untersuchung. Sein besonderes Augenmerk lag dabei auf der Kontrolle der genieteten Achsen hinsichtlich ihrer Beweglichkeit. „Los geht´s!", rief er ebenso laut wie unvermittelt, und alle Anwesenden atmeten erleichtert auf.

    Ein lautes Brummen ertönte, und im nächsten Moment erschien ein Bild des Scans auf dem Rechner des kleinen MDT-Leitstandes. Der junge Jörgen, der bis eben neben Sebastian auf das Ende der unendlichen Prozedur gewartet hatte, drängelte sich sogleich nach vorn, um einen Blick darauf zu werfen. Und noch ehe Sebastian etwas anderes auf dem Bildschirm erkennen konnte als graue Schattierungen, rief der Techniker am Steuerpult Kommissar Kleinhans mit einem Satz herbei, der in keinem Suspense-Krimi fehlen durfte: „Ich glaube, Sie sollten sich das hier mal ansehen!"

    – – –

    „Sind Sie etwa mit den Feiningers verwandt?", wollte Jörgen wissen, als er sich die Repliken in Sebastians Büro anschaute.

    „Um tausend Ecken."

    „Ach ja? Wie genau?"

    Der Junge nervte. Nicht genug damit, dass er die Bilder in Sebastians Büro den Künstlern überhaupt zuordnen konnte. Seine Fragerei brachte ihn in Verlegenheit. Was hatte Mister Klugscheißer nur bei der Polizei zu suchen, wenn er stattdessen doch Kunsthistoriker hätte werden können?

    Ein interner Anruf kündigte sich mit einem dezenten Gong auf dem Kommunikations-Screen an. Es war die Nummer von Sebastians Vorgesetztem. Schnell rückte der seine Krawatte zurecht, bevor er die Verbindung herstellte.

    „Guten Tag, Hauptkommissar Breitenbach."

    „Guten Tag, Herr Feininger. Hauptkommissar Breitenbach hatte sein gewohnt mildes Lächeln aufgelegt. „Schlimme Sache, das heute Morgen auf der Baustelle, nicht wahr?

    „Ja, sehr."

    „Bitte kommen Sie rüber in mein Büro, Feininger. So, wie es aussieht, steht uns da ein Haufen Arbeit ins Haus."

    „Ich habe Ihnen meinen vorläufigen Bericht schon geschickt", meinte Sebastian.

    „Ich weiß. Ich habe ihn gerade durchgelesen. Wie immer haben Sie sehr schnell und gründlich gearbeitet."

    Der Umstand, dass Breitenbach sich gleich nach Erhalt des Berichts bei ihm meldete, ließ für Sebastian allerdings nur den Schluss zu, dass keinesfalls alle Fragen geklärt waren. „Ich komme gleich zu Ihnen, Chef."

    Breitenbach bedankte sich höflich und verschwand vom Bildschirm.

    „Was will er denn von uns?", fragte Jörgen. Der Kerl hing an ihm wie eine Klette. Was zum Teufel suchte er überhaupt noch hier? Seines Wissens nach hatte er ihn nicht mal in sein Büro gebeten. Der Junge war ihm einfach gefolgt.

    „Ich weiß nicht, was er von mir will. Aber von Ihnen will er jedenfalls nichts, Jörgen."

    „Wir haben den Fall doch zusammen bearbeitet", protestierte der.

    Es war an der Zeit, ein wenig Psychologie ins Spiel zu bringen. So, wie er es in der Polizeischule bei den Vorträgen über Verhörtechniken gelernt hatte. Er kam Jörgen sehr nahe, bis auf eine Entfernung von wenigen Zentimetern, ohne den Blick von ihm zu lösen. Gemäß der alten „Mit Fragen führen-Technik machte er sich daran, das Gespräch in eine für ihn akzeptable Richtung zu lenken. „Sie denken also, dass wir in diesem Fall zusammenarbeiten, Jörgen?

    Der wich keinen Zentimeter zurück. „Sehen Sie das etwa anders?"

    „Völlig!"

    „Und warum? Haben Sie vergessen, dass ich Ihnen von Herrn Breitenbach persönlich zugeteilt worden bin? Wie wird der wohl reagieren, wenn Sie den Fall ohne mich weiterbearbeiten?"

    „Es wird ihm verdammt noch mal egal sein! In Sebastians Stimme schwang eine gehörige Portion Ärger mit. Insbesondere darüber, dass sich dieser junge Kerl von ihm kein bisschen beeindrucken ließ und ihn nun seinerseits mit seinen Fragen in die Enge trieb. Sebastian startete einen letzten Versuch, wieder die Oberhand zu gewinnen: „Haben Sie etwa gehört, dass Sie zu dem Gespräch mitkommen sollen?

    „Haben Sie etwa gehört, dass er das nicht will? Nun kam er sogar noch ein Stückchen näher. „Hören Sie, Kollege Feininger. Ebenso wie Sie, will ich nur meinen Job erledigen. Und ich möchte ebenso wie Sie wissen, warum die Leute gestorben sind. Dafür haben Sie doch sicher Verständnis, oder?

    Der Junge machte das wirklich gut. Sebastian fehlten die Argumente. Und hätte ihn jemand nach seiner größten charakterlichen Schwäche gefragt, er hätte schon immer geantwortet, dass er an den falschen Stellen lachen musste. Und hier war wieder so eine Situation. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, angesichts der suggestiven Gesprächstaktik des Jungen. Trotzdem ließ sich Sebastian auf keine weiteren Diskussionen ein, stürmte aus der Tür und ging allein zu Breitenbachs Büro. Auf dem Weg zog er sich gefühlte zwanzigmal die Krawatte zurecht.

    – – –

    Das Habitat war ohne Frage riesig. Es zeigte die Form eines Rades mit vier Speichen, das durch seine Rotation eine künstliche Schwerkraft erzeugte. Der Gesamtumfang lag bei etwas mehr als fünfzehn Kilometern, der Durchmesser bei 4.827 Metern, entsprechend drei englischen Landmeilen. Tatsächlich konnte man das Habitat unter guten Bedingungen mit bloßem Auge am Nachthimmel erkennen. Allerdings nur, wenn man in einem Anrainerstaat des Indischen Ozeans wohnte.

    Viele Menschen nannten das Habitat einfach nur das Rad, the wheel oder le circle, je nachdem, wo sie gerade lebten. Lediglich in diversen östlichen Staaten assoziierte man das Habitat mit etwas anderem und nannte es „говнюк, was so viel wie „Scheißkerl bedeutete. Diese Verunglimpfung war insbesondere dem Umstand geschuldet, dass dort wegen der gewaltigen Investitionen kaum noch Geld für die Versorgung der einfachen Bevölkerung mit Gas und Strom zur Verfügung stand. Das hatte sich insbesondere im Jahrhundertwinter von 2045 negativ bemerkbar gemacht und einige Millionen Menschen das Leben gekostet.

    Apropos Baukosten: Die entwickelten sich letztlich so, wie man es an einem solchen Entstehungsort auch vermuten konnte: ins Astronomische! Aber bei näherem Hinschauen hätten sie auch noch deutlich höher ausfallen können. Hätte man nämlich den Wissenschaftlern Glauben geschenkt, die der festen Ansicht waren, man sollte das erforderliche Baumaterial einfach mit einem Lift in den Orbit schicken. Tatsächlich begann man kurz darauf damit, einen solchen Lift auf dem Addu-Atoll im Archipel der Malediven zu bauen. Besser gesagt: die Bodenstation dazu. Und die ließ sich auch recht schnell realisieren. Die Station war in Rekordzeit fertig: ein Menetekel aus Stahlbeton, dem mehrere Hundert Hektar der ergiebigsten Anbauflächen des Inselstaats zum Opfer fielen und dessen Erstellung schon einen Großteil der veranschlagten Gesamtbaukosten verschlang. Die Konstrukteure des Lifts zu den Sternen, so die Eigenwerbung der Planungsfirma Triple-S, zogen indes etwas vorschnell Rückschlüsse auf den weiteren Verlauf der Baumaßnahmen. Von den drei Bauabschnitten, Bodenstation, Andockstation im Orbit und eigentlicher Lift, war nun der erste vollendet. Man musste die seitherige Bauzeit also nur mit drei multiplizieren. Dumm an dieser Rechnung war nur, dass sich die Andockstation des Lifts in einiger Entfernung zu dem Betonklotz auf dem Addu-Atoll befand. Um genau zu sein, handelte es sich um sechsunddreißigtausend Kilometer. So groß war nämlich die Distanz zu der geostationären Umlaufbahn, in der sich die zukünftige Station befinden musste, um sich in einer Balance zwischen Erdschwerkraft und Fliehkraft halten zu können.

    Voller Enthusiasmus machte man sich also an die nächste Bauphase: die Erstellung des Seils zwischen den beiden Stationen. So schwer konnte die ganze Angelegenheit schließlich nicht sein! Immerhin gab es ja schon diverse Machbarkeitsstudien, die sich mit dem Thema beschäftigt hatten. Deren Ergebnisse hielt man aber bis dato, aus welchen Gründen auch immer, unter Verschluss.

    Zeitnah begann man damit, ein entsprechendes Liftseil zu konzipieren. Die neuesten Nanotechnologien sollten dabei helfen, das eingesetzte Material so leicht wie nur irgend möglich zu machen. Drei Jahre später – es war noch kein Meter des Seils produziert worden – kam man dann zu dem Schluss, dass es nicht funktionieren konnte. Das Seil würde zu schwer sein. Und selbst wenn es um den Faktor einhundert leichter geraten wäre, als in der optimistischsten Berechnung, hätte man keine Möglichkeit gehabt, es jemals nach oben zu spannen. Man konnte weder das eine, erdferne Ende hinauffliegen noch das andere Ende nach Addu City runterwerfen. Und selbst wenn sich das Seil zwischen Erde und Habitat wie durch Zauberei von ganz allein gebildet hätte, wäre die Konstruktion schon durch die normale Windlast in der Atmosphäre unweigerlich außer Balance geraten. Die Idee mit dem Lift, die schon die Fantasie diverser Wissenschaftler und Romanautoren beflügelt hatte, entpuppte sich als Hirngespinst.

    Also musste man das Baumaterial irgendwie anders nach oben bringen. Immerhin galt es, den wahrhaft ehrgeizigen Plan von einer Weltraumkolonie in die Tat umzusetzen. Da kam die geniale Erfindung eines Ingenieurs aus dem schwedischen Uppsala zu Hilfe. Der Mann mit dem in Skandinavien gar nicht mal so untypischen Namen Doktor Jan Federson revolutionierte nämlich mit einer kühnen Idee die dahindarbende Raumfahrt. Als er seine Erfindung zum Patent anmeldete, war Jan Federson neunundfünfzig Jahre alt. Die Idee zu seinem Antrieb hatte er aber bereits drei Jahrzehnte zuvor gehabt, obwohl er nicht einmal danach gesucht hatte. Sie war ihm einfach so beim Doodle-Jump-Spielen in den Sinn gekommen. Es handelte sich um einen Weg, wie man die erzeugte Aktion eines herkömmlichen Düsentriebwerks auch in Bereichen sehr geringer Dichte bündeln und optimieren konnte. Im Endeffekt war nun jedes zivile Flugzeug nach einer entsprechenden Modifikation dazu in der Lage, in den Orbit zu fliegen. Man baute handelsübliche Ionisatoren in die Ansaugbereiche der Triebwerke ein, um deren Funktion auch in luftleerer Umgebung zu gewährleisten und installierte das FART an einen bestimmten Bereich der Treibstoffeinspritzung – fertig! FART (das Akronym stand für Federson Augmented Recoil Technology) war eine mit Blei ummantelte Metallbox, kaum größer als ein Schuhkarton, die von Seiten des Herstellers mit einem Selbstzerstörungsmechanismus der neuesten Generation ausgestattet war. Kein Mensch außer Federson selbst und ein paar seiner engsten Vertrauten kannte das Innenleben des FARTs. Niemand sonst hatte eine schlüssige Idee, wie es diese kleine Kiste schaffte, die zuvor gültigen Grenzen der Physik zu überwinden.

    Natürlich hatten die FARTs ihren Preis. Und deswegen waren anfangs nicht wenige Industriespione der Meinung, das Risiko einer nicht autorisierten Öffnung eingehen zu müssen, um an das Geheimnis der Wunderkiste zu gelangen. Die Zahl der Wagemutigen ging im Laufe der Zeit jedoch drastisch zurück. Denn dort, wo eben noch hoffnungsfrohe Tüftler mit teilweise beachtlichen technischen Fähigkeiten vor sich hin werkelten, befand sich kurze Zeit später nur noch ein metertiefer Krater.

    Zusammen mit einigen statischen Veränderungen an der äußeren Hülle und einem neuen Anstrich mit thermoisolierender Nanotechnologie-Farbe (alles Gute trug zu dieser Zeit das Präfix Nano-) machte das FART aus ausgedienten Carriern, wie den altehrwürdigen 737 von Boeing, binnen einer knappen Woche brauchbare Weltraumpendler. Private Investoren kauften alte Flugzeuge in Massen auf, rüsteten sie um und schufen eine leistungsstarke Flotte, um das Material für den Bau des Habitats in den Weltraum zu schicken. Zwar gab es immer wieder Unfälle mit den modifizierten Vehikeln, diese waren aber fast allesamt dem Umstand geschuldet, dass die Ausbildung der Piloten einfach nicht den doch ziemlich differenten Rahmenbedingungen entsprach.

    „Ein Linienpilot ist eben kein Astronaut", war üblicherweise der Kommentar, wenn mal wieder ein Flugzeug beim zu schnellen Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühte oder, was noch häufiger vorkam, sich zu weit aus dem irdischen Gravitationsbereich hinausbewegte. Diese Pendler waren dann ebenfalls verloren und trieben von da an auf ewig in den eisigen Weiten des Raumes, noch eine Zeit lang bevölkert von einer dem Tode geweihten Besatzung, der niemand auf der Erde mehr helfen konnte (oder– wegen des vielen Geldes, das eine entsprechende Rettungsaktion verschlungen hätte, nicht mehr wollte). Manche hielten noch über Monate hinweg Funkkontakt zur Erde, ohne dass dies etwas an ihrem Schicksal hätte ändern können. Auf dem Heimatplaneten bekam man dann mit, wie die guten Sitten bei deren Besatzungen schrittweise verloren gingen. Wahnsinn, blinde Zerstörungswut und – je nach Größe und Zusammensetzung der Crews – ausgelassene Partys, Sexorgien und Gruppenhysterie waren an der Tagesordnung. Ab und an fand sich eine Klatsch-Informationsplattform, die bereit war, über die Eskapaden bestimmter Crews zu berichten. Legendär blieb die letzte Fahrt der ehemaligen 767 der North-European-Airline mit Namen Haalsgraad, ein großer Tier- und Lebensmitteltransporter. Mitsamt seiner siebenköpfigen Besatzung driftete das Schiff wegen eines Aggregatsaufalls zunächst langsam, dann immer schneller aus dem irdischen Gravitationsfeld heraus. Nach wochenlangen Saufgelagen mit den mitgeführten Alkoholvorräten warf die Besatzung zunächst alle nicht verzehrten Tiere bei lebendigem Leib aus den Andockschleusen und massakrierte sich dann selbst. Und das auf besonders blutige Weise. Mehrere Hundert Millionen Menschen verfolgten auf der Erde diese letzten Tage der Haalsgraad, bis schließlich die Übertragung abbrach. Ein einziges Mitglied der Besatzung hatte bis dahin überlebt. Und der befand sich zu diesem Zeitpunkt gerade auf der Suche nach den letzten noch verbliebenen Gin- und Wermutvorräten des Schiffs.

    Ein Großteil der Zubringer kam jedoch an der Baustelle an. Gott sei Dank! Man entlud die Fracht und kehrte wieder zur Erde zurück, wo auch schon die nächste Ladung auf den Transport wartete. Emsig wie die Ameisen arbeitete die Menschheit daran, sich selbst ein technisches Denkmal zu setzen.

    Die Mengen an Material wie Metall und polymere Verbundstoffe für die äußere Konstruktion, allesamt ausreichend gegen den Beschuss von Klein-Asteroiden gesichert, aber auch natürliche Stoffe wie Mutterboden und Wasser, die benötigt wurden, um hier einen mit der Erde vergleichbaren Lebensraum zu schaffen, ließen sich kaum beziffern. Allein das Gewicht der innerhalb des Habitats zirkulierenden Luft betrug mehrere zehntausend Tonnen.

    Und so, wie viele den Bau des Habitats mit ihrem Leben bezahlten, verdienten sich andere damit eine goldene Nase. Nicht wenige der Glücklichen gehörten der Managergilde der Triple-S-HOLDING an, die eine entscheidende Rolle bei der Realisierung des Großprojekts spielte. Deren Ingenieure konzipierten nämlich nicht nur das eigentliche Habitat, man hielt obendrein auch noch die Aufsicht über alle Bau-, Installations- und späteren Wartungsarbeiten inne. Zwar war Triple-S anfangs auch in die Planungen zum Bau des Himmelslifts involviert, doch verabschiedete man sich gerade noch rechtzeitig aus diesem Vorhaben, um nicht wie viele andere Firmen des Konsortiums finanziellen Schiffbruch zu erleiden.

    Stattdessen sicherte man sich die Rechte an dem FART und profitierte so in der Entstehungsphase des Habitats doppelt und dreifach. Kein Transporter machte an dem immer mehr Kontur annehmenden Himmelsgebilde fest, ohne nicht für die Antriebshardware selbst, die notwendigen Konzessionen und die Gebühren immense Summen gezahlt zu haben. Und Doktor Jan Federson, ein einstmals wenig ambitionierter Ingenieur aus dem schwedischen Hinterland, war auf einmal Multi-Milliardär.

    Nach seiner Fertigstellung sollte das Habitat seinen Besitzern auf verschiedenste Weise einen nicht enden wollenden Geldfluss garantieren. Zwar war es offiziell eine extraterrestrische Kolonie unter Verwaltung der Vereinten Nationen, große Teile verpachtete aber die Triple-S-HOLDING als Hauptinvestor. Unter anderem plante man, kulturelle und sportliche Großveranstaltungen auf dem Habitat durchzuführen, deren Ausrichtung auf der Erde wegen der zwischenzeitlich gestiegenen Kriminalitätsrate und der Gefahr terroristischer Anschläge nicht mehr möglich erschien. Außerdem kalkulierte man mit Einnahmen in den Bereichen Tourismus, Energiegeneration und Finanzdienstleistungen. Immerhin bot das Habitat einen sehr vorteilhaften Status in puncto Bankenabgaben und Steuern.

    Leider hatte zu diesem Zeitpunkt Doktor Jan Federson eine weitere Mutation durchgemacht. Und im Gegensatz zu der vom Kleinbürger zum Milliardär, war die vom Milliardär zum Partylöwen und ungekrönten Bordellbesuchskönig der zivilisierten Welt nicht sehr erbaulich. Federson verlor binnen weniger Jahre Doktortitel, Familie, Haus und Hof. Seinen Job als leitender Angestellter

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