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Greifen und BeGreifen: Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen
Greifen und BeGreifen: Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen
Greifen und BeGreifen: Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen
eBook417 Seiten4 Stunden

Greifen und BeGreifen: Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen

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Über dieses E-Book

Lange Zeit dachte man, dass Lernstörungen bei Kindern in psychologischen Problemen oder in schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen begründet sind. Forschungen belegen jedoch, dass viele Lern- und Verhaltensstörungen körperliche Ursachen haben können: Fehlfunktionen der frühkindlichen sowie der Halte- und Stellreflexe. Basierend auf dem neuesten Forschungsstand erläutert das Buch die komplexe Materie verständlich und erklärt an Hand von anschaulichen Zeichnungen, wie man betroffene Kinder erkennen und sie unterstützen kann. Eine hilfreiche Lektüre für Lehrer, Berater und Eltern.
Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe!
SpracheDeutsch
HerausgeberVAK Verlag
Erscheinungsdatum29. Nov. 2013
ISBN9783954840953
Greifen und BeGreifen: Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen

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    Buchvorschau

    Greifen und BeGreifen - Sally Goddard Blythe

    Sally Goddard Blythe

    Greifen und Be-Greifen

    Wie Lernen und Verhalten mit

    frühkindlichen Reflexen zusammenhängen

    Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe,

    bearbeitet und teilweise neu übersetzt

    von Thake Hansen-Lauff

    VAK Verlags GmbH

    Kirchzarten bei Freiburg

    Titel der amerikanischen Originalausgabe:

    Reflexes, learning and behavior. A window into the child’s mind

    © Sally Goddard Blythe, 2002

    Erschienen bei: Fern Ridge Press, Eugene/OR, USA

    ISBN 0-9615332-8-5

    (Neufassung der Erstauflage, 1996 erschienen unter dem Titel:

    A teacher’s window into the child’s mind)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    VAK Verlags GmbH

    Eschbachstraße 5

    79199 Kirchzarten

    Deutschland

    Das gesamte Verlagsprogramm mit Leseproben finden Sie im Internet unter:

    www.vakverlag.de

    Stand 2013

    © VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 1998

    (Die 1. bis 3. Auflage erschien bei VAK unter der ISBN 3-932098-14-5.

    Die 4. und die 6. Auflage wurden aktualisiert und erweitert.)

    Übersetzung: Beate Richter, Anja von Velzen, Thake Hansen-Lauff

    Fachberatung: Anja von Velzen (1. Aufl.), Thake Hansen-Lauff (ab 2. Aufl.)

    Zeichnungen: Dan Chen

    Lektorat: Monika Radecki, Norbert Gehlen

    Umschlag: Hugo Waschkowski, Freiburg

    Herstellung: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-935767-27-9 (Paperback)

    ISBN 978-3-95484-095-3 (ePub)

    ISBN 978-3-95484-096-0 (Kindle)

    ISBN 978-3-95484-097-7 (PDF)

    Inhalt

    Danksagung

    Vorworte

    Einleitung

    Kapitel 1: Reflexe und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Versagen in der Erziehung

    Der Moro-Reflex

    Der Palmar-Reflex

    Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex

    Der Suchreflex

    Der Spinale Galantreflex

    Der Tonische Labyrinthreflex

    Der Symmetrische Tonische Nackenreflex

    Kapitel 2: Vom frühkindlichen Reflex zur Haltungskontrolle

    Das Startling-Phänomen (Schreckmuster)

    Haltungskontrolle

    Stellreaktionen

    Der Labyrinth-Kopfstellreflex

    Der Augen-Kopfstellreflex

    Der Landau-Reflex

    Der Amphibienreflex

    Die Segmentären Rollreflexe

    Gleichgewichtsreaktionen

    Kombinierte Auswirkungen unreifer Reflexe

    Reflexausreifung – ein fortschreitender Prozess

    Kapitel 3: Die Gehirnentwicklung

    Die Entwicklung einer Hierarchie

    Die Spezialisierung der Gehirnhälften

    Kapitel 4: Die Sinne

    Gleichgewicht und vestibuläres System

    Der Tastsinn

    Das Hören

    Das Sehen

    Die Propriozeption

    Das Schmecken und Riechen

    Zusammenfassung

    Kapitel 5: Reflextests

    Moro-Reflex (Standardtest)

    Moro-Reflex (Aufrechter Test; Clarke, Bennett, Rowston)

    Palmar-Reflex

    Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex (Standardtest)

    Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex (Schilder-Test)

    Suchreflex

    Saugreflex

    Spinaler Galantreflex

    Tonischer Labyrinthreflex (Aufrechter Test)

    Symmetrischer Tonischer Nackenreflex

    Landau-Reflex

    Amphibienreflex

    Segmentärer Rollreflex

    Augen-Kopfstellreflexe

    Labyrinth-Kopfstellreflexe

    Kapitel 6: Wie können wir helfen?

    Entscheiden, auf welcher Ebene wir intervenieren wollen

    Unterrichten unter Berücksichtigung der normalen kindlichen Entwicklung

    Sensorische Probleme: vestibulär, auditiv, visuell

    Bessere Lernbedingungen für Kinder mit neurologischer Entwicklungsverzögerung schaffen

    Tabelle I: Entwicklung und Transformation des Reflexsystems

    Tabelle II: Indikatoren für entwicklungsneurologische Verzögerungen

    Tabelle III: Hilfsmaßnahmen bei fortbestehenden Reflexen

    Kapitel 7: Die Entstehung einer Idee – Reflektieren über Reflexe

    Geschichte

    Klinische Forschung

    Forschungsergebnisse über die Wirkung des Reflexausreifungs- und -hemmungsprogramms

    Anhang

    Fallstudien und ausgewählte Beiträge:

    – Ergebnisse bei Jugendlichen und Erwachsenen

    – Elektiver Mutismus: Die unfreiwillige Stummheit

    – Meilensteine der Entwicklung: Handwerkszeug fürs Überleben

    – Warum purzeln und rollen Kinder umher?

    – Erfassen neurologischer Dysfunktionen bei Kindern mit schulischen Teilleistungsstörungen

    – Bewegungsübungen zur Ausreifung und Hemmung primitiver Reflexe und ihre Auswirkungen auf spezifische Leseprobleme (Legasthenie) bei Kindern

    Erläuterung der Fachbegriffe

    Nützliche Adressen

    Literaturverzeichnis

    Über die Autorin

    Dieses Buch ist meinem Vater gewidmet:

    William D. Pritchard (1913–1995)

    Ein guter Lehrer wird dich nicht auffordern,

    das Haus seiner Weisheit zu betreten; er wird dich vielmehr

    an die Schwelle deines eigenen Verstandes führen.

    (Khalil Gibran, in: Der Prophet)

    Danksagung

    Mein Dank gilt …

    … Peter Blythe, der diese Arbeit 1969 begann und 1975 das Institute for Neuro-Physiological Psychology (INPP; Institut für neurophysiologische Psychologie) gründete. Über 20 Jahre lang gab er Studenten, Fachleuten und Kollegen Anregung, Weiterbildung und Ermutigung – und er vermittelte Kindern und ihren Eltern Hoffnung. Die Techniken, die im INPP angewendet werden, haben sich mittlerweile über den ganzen Globus ausgebreitet und man redet über die Auswirkungen von Reflexen auf Lernen und Verhalten – manchmal ohne die Quelle zu kennen, woher dieses Wissen stammt. Viele andere haben daran weitergearbeitet, Techniken auf der Grundlage neuer Erkenntnisse und Forschungen zu entwickeln. Aber die führende Hand ist weiterhin die des Gründers und Leiters Peter Blythe.

    … Catherina Johannesson-Alvegard, die diese Arbeit ursprünglich in Schweden entwickelte.

    … Dr. Kjeld Johansen.

    … Dr. Lawrence Beuret, Thake Hansen-Lauff, Björn Gustaffson, Håkan Carlson, Sheila Dobie, Mary O’Connor und Joan Young.

    … Professor Birger Kaada, Universität Stavanger, der mit seiner Arbeit über den Furcht-Lähmungsreflex einen wesentlichen Aspekt beitrug, und Ernest Keeling, der das INPP als Erster auf den Furcht-Lähmungsreflex aufmerksam machte.

    … den vielen, vielen anderen Menschen, deren stille Arbeit, deren Diskussionen und Ideen zur Entwicklung dieses Buches beigetragen haben.

    … Svea Gold, deren unermüdliche Geduld bei der Suche nach Problemlösungen für Kinder, deren eigene Publikationen, deren Ermutigung und Unterstützung zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

    … meinen Kindern James, Thomas und Gabriella, die es mir ermöglicht haben, ein zweites Mal mit ihnen erwachsen zu werden.

    Vorwort zur amerikanischen Ausgabe

    Es gibt einen berühmten Kupferstich von Hogarth: Das Ei des Kolumbus. Dort wird die Szene dargestellt, wie Kolumbus, gerade von der Entdeckung „Indiens" zurückgekehrt, von seinen missgünstigen Freunden umringt ist. Die Geschichte geht so, dass sie sich über seine Leistung lustig machen und behaupten, dass seine Entdeckung ein Kinderspiel gewesen sei und sie es ohne weiteres auch hätten machen können.

    Ganz ruhig (so erzählt man sich) nahm Kolumbus daraufhin ein Ei von einem Tablett auf dem Tisch und forderte seine Herausforderer auf, das Ei auf seine Spitze zu stellen. Sie versuchten es, einer nach dem anderen, aber jedes Mal rollte das Ei auf eine Seite. Schließlich nahm Kolumbus das Ei, stieß es mit einem kurzen, scharfen Knacks auf die Tischplatte – und das Ei „stand! Seine Freunde lachten und sagten: „Verflixt! (oder wie auch immer sie sich zu der Zeit ausdrückten). „Das hätten wir auch geschafft! – „Ja, antwortete Kolumbus, „aber ich tat es!"

    Ob diese Geschichte nun wahr ist oder nur apokryph, so hatte doch jede Wissenschaft immer wieder Männer, die das Ei des Kolumbus aufschlugen und so in ihrem Betätigungsfeld ein neues Zeitalter einleiteten. Da waren Galileo, Einstein, Pasteur, die Gebrüder Wright – eine unendliche Reihe.

    1986 erhielt Rita Levi-Montalcini den Nobelpreis für ihre Arbeit über Nervenwachstumsfaktoren. Sie bewies, dass bestimmte chemische Stoffe, die gewöhnlich an der Verbindungsstelle zwischen Nerv und Muskel erzeugt werden, neue Verbindungen ermöglichen, die von der Nervenzelle ausgehen. Forschungsarbeiten an embryonalen Eiern gibt es schon seit den frühen 1920er Jahren! Dann kam Jean-Pierre Changeux und schuf sprichwörtlich das Ei des Kolumbus. Er hatte bemerkt, dass Hühnerembryos während ihrer Gestationszeit bestimmte Reflexbewegungen machen. Während sie sich noch im Ei befanden, nahm er eine sehr feine Nadel und lähmte ihre Muskeln mit Curare, so dass diese Reflexbewegungen nicht stattfinden konnten. Nachdem die Küken dann geschlüpft waren, untersuchte er ihre Gehirne, die tatsächlich Anomalitäten zeigten.

    Ich schrieb ihm daraufhin und sagte, dass seine Arbeit für Kinder und kindliche Entwicklung von Bedeutung sei. Er antwortete, dass dies das Ziel hinter seiner Forschung sei, dass es jedoch bis dahin noch einer langen Zeit bedürfe.

    Was Changeux nicht wusste war, dass sich gerade zu dieser Zeit Peter Blythe, zusammen mit David McGlown, mit Kindern beschäftigte, die Probleme in der Schule hatten – Kinder mit der Diagnose „minimale Hirnschädigung. Dabei fand er heraus, dass sich bei diesen Kindern noch in großem Ausmaß Hinweise auf frühkindliche Reflexe fanden, die längst hätten gehemmt sein müssen. Andererseits schienen Haltungsreaktionen zu fehlen, die hätten da sein müssen. Das war ein neurologisches Profil, das sich deutlich von dem bei Kindern unterschied, die keine Probleme hatten. Nun gibt es bereits seit längerer Zeit entwicklungsbezogene Therapien – etwa seit den fünfziger Jahren, würde ich sagen. Auch die kindliche Entwicklung ist seit langem Gegenstand der Forschung, vor allem seit das Gesell-Institut begann, die zu erwartenden Meilensteine der kindlichen Entwicklung zu dokumentieren. Auf der Grundlage dieses Wissens wurde die Reflextherapie bei Kindern mit Zerebralparese und bei Schlaganfallpatienten angewandt. Doch blieb es Peter Blythe und Sally Goddard vorbehalten, diese Erkenntnisse zu nutzen, um den „rätselhaften Kindern zu helfen, die allem Anschein nach normal waren. Wir warfen ihnen inakzeptables Verhalten vor oder bezeichneten sie als dumm – weil wir sie nicht verstanden.

    Am Institute for Neuro-Physiological Psychology zeigten sie, wie man die Kinder auf Reflexe hin überprüft, und kodierten die Bewertung, so dass es möglich wurde, ein genaues Bild davon zu bekommen, was das Verhalten des Kindes beeinträchtigte. Auf welche Weise genau wirkt sich jeder Reflex auf das Kind aus? Wenn ein Profil derjenigen Reflexe beim Kind entdeckt wurde, die sich nicht in der zu erwartenden Abfolge entwickelt hatten – wie konnte man diesem Kind helfen? Es handelte sich nicht um eine Forschungsmethode, die theoretisch oder im Labor durchgeführt wurde: Sie war auf eine solche Weise anwendungsbezogen, dass Eltern, Lehrer und Ärzte sie leicht nutzen konnten.

    Inzwischen nutzen Optometristen dieses Wissen, um das Training der Augenmuskelmotorik zu beschleunigen. Von Schweden bis Australien – wo auch immer Sally Goddard erstes Buch Verbreitung fand – nutzen Lehrer diese Informationen, um ein neues Verständnis dafür zu entwickeln, warum das eine Kind Erfolg hat und das andere versagt. In den Vereinigten Staaten versorgen manche Lehrer diejenigen Kinder, die nicht still sitzen können, mit „Wackelkissen, weil sie erkennen, dass diese vielleicht einen erhaltenen Spinalen Galant haben. Manche befestigen Gummibänder um die Stuhlbeine, um den Kindern dabei zu helfen, den Auswirkungen eines nicht gehemmten Symmetrisch Tonischen Nackenreflexes zu begegnen. Sie unterminieren nicht mehr Johnnys Selbstachtung, indem sie ihm vorhalten: „Du sollst nicht mit deiner Zunge schreiben! Sie wissen, dass er immer noch Anzeichen einer Babkin-Reaktion hat. Mit diesem neuen Ansatz herrscht mehr Ruhe und Frieden im Klassenzimmer und die Lehrer können tatsächlich unterrichten, anstatt mit Disziplinierungsmaßnahmen Zeit zu verschwenden. Nachdem die üblichen Methoden sich als Notbehelf erwiesen hatten, werden jetzt körperorientierte Programme eingeführt, die dem Kind dabei helfen, diejenigen Meilensteine zu erreichen, die es braucht, um Erfolg zu haben. Ich selbst habe die Techniken des Instituts in meiner Arbeit mit jugendlichen Straftätern angewandt – mit überaus großem Erfolg!

    Jean-Pierre Changeux‘ Forschung an Eiern hat sich schneller als nützlich erwiesen, als er glaubte – sie untermauert den theoretischen Hintergrund von Peter Blythes Methode zur Reflexausreifung und -hemmung. Doch es war die Arbeit des Institute for Neuro-Physiological Psychology, die das Ei auf die Spitze stellte!

    Svea Gold

    (Januar 2002)

    Vorwort zur deutschen Ausgabe

    Wer kennt es nicht: Der Wunsch und die Notwendigkeit, Kindern mit Schul- und/ oder Verhaltensproblemen zu helfen, führt häufig zu einer euphorischen Anfangsbegeisterung für neue Therapieansätze, die dann nur zu oft zu einer mehr oder weniger frustrierten Ernüchterung abflaut. Die Tatsache, dass eine ständig steigende Nachfrage bereits in kurzer Zeit zu neuen Auflagen des vorliegenden Buches geführt hat und dass auch ein wachsendes Interesse an einer Fortbildung in dem vom Institut für Neurophysiologische Psychologie (INPP) in Chester/England entwickelten Behandlungsansatz u. a. bei Pädagogen, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten zu verzeichnen ist, zeigt jedoch, dass hier ein offensichtlich hoch bedeutsamer Puzzlestein vorgelegt wurde, der nicht nur von jedem nachvollziehbare Erklärungsmuster für Kinder bereitstellt, die trotz eindeutig vorhandener Intelligenz ihre Eltern und Lehrer damit überraschen, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen zu können, sondern auch viele Lerntherapeuten die unsichtbare Bremse verstehen lässt, die manche Kinder daran hindert, trotz intensiver Bemühungen die erwünschten Fortschritte zu machen.

    Die Theorie der persistierenden frühkindlichen Reflexe mit ihren zum Teil tiefgreifenden Auswirkungen auf die weitere Entwicklung eines Kindes sowie der darauf aufbauende Behandlungsansatz, der in langjähriger Forschungsarbeit und klinischer Praxis von Peter Blythe und Sally Goddard (INPP) entwickelt wurde, hat inzwischen einer sorgfältigen Überprüfung nach standardisierten wissenschaftlichen Kriterien standgehalten. In der Februarausgabe 2000 der weltweit angesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet (Nr. 355) erschien der Bericht über eine an der Queens University in Belfast durchgeführte kontrollierte Doppeltblindstudie, in der der wissenschaftliche Nachweis über die Wirksamkeit des vom INPP (Chester) entwickelten Bewegungsprogramms zur Ausreifung und Hemmung frühkindlicher Reflexe geführt wurde. Damit liegt ein Ergebnis vor, das die Akzeptanz des im vorliegenden Buch behandelten Ansatzes weiter voranbringt – wird doch objektiv die Erfahrung bestätigt, die inzwischen viele Therapeuten weltweit in ihrer klinischen Praxis gemacht haben: dass nämlich frühkindliche Reflexe, die über den normalen Zeitpunkt ihrer Hemmung hinaus ihre Wirkung beibehalten, nicht nur zu einer pathologisch verlaufenden Bewegungsentwicklung wie z.B. bei der Zerebralparese führen, sondern auch auf subpathologischer Ebene ein „normal" erscheinendes Kind in den unterschiedlichsten Bereichen seiner Entwicklung – Bewegung, Wahrnehmung, Verhalten, Lernen – empfindlich beeinträchtigen können.

    Wir leben in einer Zeit, in der sich die Ergebnisse aus der Gehirnforschung überstürzen. Es ist zu hoffen, dass damit noch mehr Erkenntnisse und darauf aufbauende Behandlungsstrategien zur Verfügung stehen werden, die denjenigen Kindern helfen können, denen so schwer zu helfen ist. Doch bei allen Fortschritten in den wissenschaftlichen Methoden: Bewegung ist die Grundlage allen Wachstums und Lernens.

    Thake Hansen-Lauff

    (Leiterin der International School for Neurodevelopmental Training and Research in Deutschland, NDT/INPP; außerdem Übersetzerin und Bearbeiterin der Erweiterungen und Änderungen der vorliegenden Ausgabe)

    Einleitung

    Wenn ein Kind ein Problem hat, sind die Eltern gewöhnlich die Ersten, die das erkennen. Oft wissen sie nicht genau, was es ist; sie haben nur das Gefühl: „Irgendetwas stimmt bei meinem Kind nicht. Falls die Symptome nicht sehr gravierend sind, werden die Schwierigkeiten oft übersehen und den Eltern wird gesagt: „Es wächst sich zurecht! Und was fast noch schlimmer ist: Häufig werden sie dann als überängstliche oder gar neurotische Eltern verunglimpft.

    Zwar wachsen in der Tat viele Kinder aus ihren frühen Problemen heraus; auch gibt es viele individuelle Unterschiede und Variationen innerhalb der anerkannten Entwicklungsstufen. Doch gibt es eine Gruppe von Kindern, die allem äußeren Anschein nach „normal, in bestimmten Aspekten ihrer Entwicklung aber unreif sind. Wenn ihre „unreifen Muster bestehen bleiben, laufen diese Kinder Gefahr in unterschiedlichen Lebensphasen eine Reihe von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zu entwickeln.

    Forschungen im Bereich der Neuroplastizität haben gezeigt, dass das „Verdrahten des Zentralen Nervensystems veränderbar ist, besonders in den Phasen, in denen es sich am stärksten entwickelt oder ausreift. Dieses „Umdrahten hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Fähigkeiten eines Kindes, mit seiner sozialen wie auch physischen Umwelt erfolgreich zu interagieren. Nach Galaburda (2001) können Probleme im Gehirn auf zwei Ebenen entstehen: bei Verarbeitungsprozessen höherer und niedrigerer Ordnung. Es ist zwar eine allgemein akzeptierte Tatsache, dass im Verlauf des Reifungsprozesses höhere Zentren im Gehirn zunehmende Kontrolle über untere Zentren übernehmen, doch wenn untere Ebenen weiterhin einen dominierenden Einfluss auf bestimmte Funktionen ausüben, so wird dies Auswirkungen auf die Funktionstüchtigkeit eines Kindes, auf seine Lernfähigkeit und sein Verhalten haben.

    Schulunterricht und viele Förderansätze zielen zumeist darauf ab, höhere Zentren im Gehirn zu erreichen. Eine Vorgehensweise, die sich an der neurologischen Entwicklung eines Kindes orientiert, identifiziert zunächst die unterste Ebene der Dysfunktion und richtet die therapeutische Intervention dann auf diesen Bereich. Sobald die Probleme in diesem Bereich behoben sind, versucht man durch den Einsatz spezieller Stimulationstechniken Verbindungen zwischen niedrigen und höheren Zentren aufzubauen.

    Alles Lernen findet im Gehirn statt; über den Körper werden Informationen aufgenommen und er ist auch das Vehikel, über das das Wissen sich wieder ausdrückt. So betrachtet ist Bewegung der Herzschlag des Lernens. Lernen, Sprechen und Verhalten sind auf bestimmte Weise mit Funktionen des Bewegungssystems und der Bewegungskontrolle verbunden. Bevor unsere Kinder sprechen lernen, können wir sie über ihre Körpergestik, über Haltungsänderungen, Bewegungsrhythmus, Klang, Lautstärke und Höhe ihrer Stimme verstehen.

    Die Fähigkeit des Sprechens hängt vom motorischen System ab, das die notwendigen Bewegungskombinationen ermöglicht, die für die Koordination von Kehlkopf, Rachen, Zunge und Muskeln im vorderen Mundbereich erforderlich sind. Lesen wiederum hängt vor allem von okulo-motorischen Fähigkeiten wie präzisen Augenbewegungen ab, und Schreiben schließlich erfordert gute Auge-Hand-Koordination mit der Unterstützung des Haltungssystems. Erfolgreiches schulisches Lernen hängt weitestgehend davon ab, dass sich Basisfähigkeiten auf der physischen Ebene automatisieren. Wenn ein Kind keine automatische Kontrolle über sein Gleichgewicht und seine motorischen Fähigkeiten erlangt, kann dies trotz durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz des Kindes ungünstige Auswirkungen auf viele andere Lernaspekte haben.

    Körperkontrolle ist eine der Voraussetzungen für Selbstkontrolle. Eine Unreife in den Funktionen des Zentralen Nervensystems ist oft von Zeichen emotionaler Unreife begleitet, wie zum Beispiel schlechte Impulskontrolle, Schwierigkeit die Körpersprache anderer zu lesen und unbefriedigende Beziehungen zu Gleichaltrigen. Ein Vater beschrieb sein Kind so: „… äußerlich zehn Jahre und innerlich drei Jahre alt." Kein noch so großer Aufwand an Verhaltensmodifikation konnte eine Veränderung im emotionalen Verhalten seines Sohnes bewirken, bis das zugrunde liegende Problem einer entwicklungsneurologischen Verzögerung angegangen worden war.

    Wie man Kinder an das System anpasst …

    Wenn die Kinder in die Schule eintreten (in Großbritannien mit Beginn des fünften Lebensjahres), geht man gewöhnlich davon aus, dass sie in der Lage sind still zu sitzen, aufmerksam zu sein, ein Schreibgerät zu halten, und dass ihre Augen die Bewegungen ausführen können, die notwendig sind, um einer gedruckten Zeile zu folgen. Viele Kinder erwerben diese Fähigkeiten ohne Mühe; andere brauchen länger dafür, da sie mit einem eindeutigen Nachteil, der ihre neurologische Entwicklung betrifft, ihre Schulzeit beginnen. Sie verfügen dann nicht über die notwendigen physischen Fähigkeiten für erfolgreiches Lernen. In höheren Klassenstufen laufen diese Kinder Gefahr so genannte spezifische Lernschwierigkeiten zu entwickeln, nicht etwa deshalb, weil sie zu dumm sind, sondern weil die für das Lernen fundamentalen Basissysteme zur Zeit ihres Schuleintritts nicht vollständig vorhanden waren. Aufmerksamkeit, Balance und K(C)oordination sind das erste ABC, von dem alles weitere schulische Lernen abhängt.

    Das Konzept der Schulreife ist nicht neu. Schon 1947 wurde bemerkt, dass die Lesereife mit dem ersten Zahnwechsel einherzugehen scheint und dass die individuelle Abweichung zum Zeitpunkt des Zahnwechsels ein Hinweis auf weitere mit der Lesereife verbundene Aspekte neurologischer Reifung sein kann (Ames 1967). 1999 gingen Bax und Whitmore der Frage nach, ob es sinnvoll sei, in die schulärztliche Schulreifeuntersuchung eine kurze Testbatterie entwicklungsneurologischer Tests einzubeziehen. Sie fanden signifikante Korrelationen zwischen dem Grad neurologischer Ausreifung und den Ergebnissen bei den kognitiven psychologischen Tests. Obwohl eine zunehmende Zahl an Forschungsergebnissen den Wert des Überprüfens von Entwicklungsmeilensteinen zum Zeitpunkt des Schuleintritts unterstreicht, sind derartige Tests immer noch nicht in die Standardprozedur der Schulreifeuntersuchung integriert. Das chronologische Alter ist weiterhin Hauptkriterium für den Schuleintritt.

    Solch eine undifferenzierte Vorgehensweise beim Schulstart kann sich auf wenigstens zwei Gruppen sehr ungünstig auswirken: auf jene Kinder, deren Geburtstag in den Sommer fällt und die damit neun bis zwölf Monate jünger sind als ihre Klassenkameraden, und auf jene Kinder, die in bestimmten Aspekten ihrer Entwicklung in Bezug auf die automatische Kontrolle von Gleichgewicht und Koordination verzögert sind und deshalb Schwierigkeiten bei der Fokussierung und Aufrechterhaltung ihrer Aufmerksamkeit haben. Die erste Gruppe könnte ganz einfach von einer Verschiebung des Schuleintritts um einige Monate profitieren, so dass diese Kinder dann als ältere Kinder in die nächste Einschulungsklasse aufgenommen werden. Jene, die bestimmte Entwicklungsmeilensteine noch nicht erreicht haben, würden von einer verlängerten vorschulischen Phase mit einem mehr informellen Curriculum profitieren, das bevorzugt jene Aktivitäten in den Vordergrund stellt, die ihre physische und sensorische Entwicklung fördern.

    In der früheren Tschechoslowakei wurden zwei einfache Tests zur Feststellung der Schulreife angewandt: Kann das Kind einen Kreis sowohl im wie gegen den Uhrzeigersinn zeichnen? (Diese grundlegende Bewegung ist beim Schreiben von Buchstaben von Bedeutung.) Kann das Kind mit der Hand das jeweils gegenüberliegende Ohr berühren? (Dies zeigt, ob das Kind die Körpermittellinie überqueren kann – eine für das Lesen notwendige Fähigkeit.)

    Unabhängige Forschungen haben ähnliche Zusammenhänge zwischen automatischer Kontrolle des Gleichgewichts und späteren Lernschwierigkeiten ergeben. Eine Reihe von Tests wie der Wobble Test (Nicolson und Fawcett 1994) und der „Einbeinstand" (Schrager 2001) sind in umfassendere Testbatterien einbezogen worden, um diejenigen Kinder zu identifizieren, die Gefahr laufen Legasthenie oder andere spezifische Lernschwierigkeiten zu entwickeln (oder sie bereits haben).

    Während derartige Tests uns Hinweise darüber geben, was verkehrt ist, sagen sie uns nichts darüber, warum das eine Kind die Kontrolle über sein Gleichgewicht und seine Koordination gewonnen hat, das andere aber nicht.

    Es ist Absicht dieses Buches nicht nur Antworten auf die Frage nach dem Warum zu geben, sondern auch Wege aufzuzeigen, wie das gefährdete Kind identifiziert werden kann und wie die Hindernisse überwunden werden können, die das Kind daran hindern, in der Schule und im späteren Leben erfolgreich zu sein. (Fachbegriffe werden im Anhang erläutert.)

    Kapitel 1

    Reflexe und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Versagen in der Erziehung

    Wenn ein Kind geboren wird, verlässt es das weiche, schützende Polster der Gebärmutter, um in eine Welt zu kommen, in der es von einer fast überwältigenden Masse an Sinnesreizen bestürmt wird. Es kann diese Gefühlsreize, die es umschließen, nicht interpretieren. Sind sie zu stark oder zu plötzlich, wird es auf sie reagieren, aber es ist nicht in der Lage, die eigene Reaktion zu verstehen. Es hat eine Welt des Gleichgewichts gegen eine Welt des Chaos eingetauscht; es hat die Wärme verlassen und findet Hitze und Kälte vor. Das Neugeborene wird nicht mehr automatisch mit Nahrung versorgt; es muss anfangen, bei der eigenen Nahrungsversorgung mitzuwirken. Es erhält auch nicht länger Sauerstoff aus dem Blut der Mutter, also muss es jetzt selbst atmen. Es muss beginnen, die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse zu suchen und zu finden.

    Um zu überleben, ist es mit einer Anzahl frühkindlicher Reflexe ausgestattet, die die unmittelbare Reaktion auf diese neue Umgebung und die sich verändernden Bedürfnisse sicherstellen sollen. Frühkindliche Reflexe sind automatische, stereotype Bewegungen, die vom Gehirnstamm gelenkt und ohne Beteiligung des Kortex ausgeführt werden.

    Bewusstsein ist nur möglich, wenn der Kortex am Geschehen beteiligt ist.

    Die Reflexe sind grundlegend für das Überleben des Babys in den ersten Lebenswochen und bilden ein rudimentäres Training für viele spätere willensgesteuerte Fertigkeiten. Allerdings sollten die frühkindlichen Reflexe nur eine begrenzte Lebensdauer haben; sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben und dem Baby geholfen haben, die ersten riskanten Lebensmonate zu überleben, sollten

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