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Die Insel Katara
Die Insel Katara
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eBook583 Seiten7 Stunden

Die Insel Katara

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Über dieses E-Book

In Katara stehen Froschaugen gegen Fusselbirnen. Die Streitigkeiten zwischen Südlingen und Nördlingen gipfeln so manches Mal in Raufereien, denn die Städte sind seit langer Zeit zerstritten.

Obendrein treibt die Hexe Magissa ihr böses Spiel mit den Bewohnern. Wer ihre Rätsel nicht lösen kann, der - lasst uns nicht drüber reden - niemand redet darüber.

Nachdem ein weiterer Unglücklicher die falschen Worte spricht, machen sich vier Fusselbirnen auf, den Fluch zu brechen, der auf Katara lastet. Und damit fängt das Unheil auch schon an.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum27. Jan. 2021
ISBN9783753447551
Die Insel Katara
Autor

Kerstin Stefanie Rothenbächer

Kerstin Stefanie Rothenbächer wurde am 14.06.1971 in Frankfurt geboren. Seit 1990 ist sie als Versicherungskauffrau tätig. Als sie 15 Jahre alt war, wurden die ersten beiden Gedichte in einem Sammelband veröffentlicht. 2007 wurde ihr erstes Buch herausgebracht. Es folgten Lesungen und Ausstellungen mit anderen Dichtungen. Mit neuen Werken ist sie regelmäßig Gast auf der Frankfurter Buchmesse. Die Gedichte behandeln Liebe, wie sie das Leben schreibt, Tränen der Zeit, Träume und Wünsche und die Suche nach dem Menschen, der den Tag heller, die Sterne schöner und das Leben wundervoll macht. Der Glitzerseewald ist eine Fantasy-Trilogie um einen Jungen, der einer Elfe begegnet und mit ihr eine alte Schuld offenlegt, gegen zerstörte Träume kämpft und einen bösen Zauberer zu besiegen hofft. Die Insel Katara handelt von zwei zerstrittenen Städten, Nördlingen und Südlingen. Die Froschaugen und Fusselbirnen liegen sich seit langer Zeit in den Haaren. Am schlimmsten jedoch trifft die Bewohner die Angst vor der Hexe Magissa, die sie mit Rätseln quält. Doch die Katarer geben sich nicht so schnell geschlagen und so machen sich vier Fusselbirnen auf, den Fluch zu brechen. https://www.rothenbaecher.net

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    Buchvorschau

    Die Insel Katara - Kerstin Stefanie Rothenbächer

    Dieses Buch widme ich

    meinen lieben Erdmännchen

    Wenn wir es schaffen, dann gemeinsam!

    Dieses Mal hat es mich ganz schön erwischt. Nicht, dass ich je heil aus diesen Raufereien heimgekommen wäre. Aber heute habe ich neben den vielen blauen Flecken und Kratzern auch noch einen fiesen Schlag auf meine Nase gekriegt. Ich hoffe, sie ist nicht gebrochen. Ein blaues Auge macht mein Boxergesicht perfekt. Was wird Julia bloß dazu sagen?

    Ach, du weißt gar nicht, wer Julia ist. Julia ist die Chefin unserer Sippe. Sie mag es nicht leiden, wenn wir uns mit den Froschaugen prügeln. Obwohl die es echt verdient haben. Meine Freunde und ich haben uns nur verteidigt. Dabei ist Katara wirklich eine große Insel. Sollen sie doch auf ihrer Seite bleiben, dann passiert ihnen nichts!

    Wir leben nämlich im Süden und die Froschaugen im Norden. Unsere Insel wird geteilt durch einen breiten Fluss, den Diatisia. Es gibt eine Brücke zwischen unseren Städten, doch die ist brüchig und gelegentlich stürzt jemand in den Fluss. Außerdem haben Julia und Heros, das ist ihr Anführer, uns verboten, die Brücke zu überqueren. Natürlich nützt das nichts.

    Varkos hat heute Mittag gesehen, wie Luludi, die Tochter von Heros, von der letzten Brückenlatte ans südliche Ufer gesprungen ist. Nach ihr kamen die anderen Froschaugen, ihre zwei Brüder und der ganze Rest. Da hat Varkos mir Bescheid gesagt und gleich darauf sind wir zum Fischteich, Marek holen, und Mirali, seine Freundin, und so nach und nach haben wir die anderen zusammengetrommelt. Wir konnten sie gerade abpassen, bevor sie zu unserer Siedlung kamen. Die Bande schlich durch die Büsche rund um den See. Sie fühlten sich sicher, weil sie an der besonders dicht bewachsenen Seite entlanggelaufen sind. Unglaublich, dass sie uns für so blöd gehalten haben!

    Man konnte die Spuren trotzdem erkennen und das Unterholz hat so laut geknackt, wie es nur bei Froschaugenfüßen möglich ist.

    Varkos hat als Erster einen von ihnen entdeckt und in dem Moment, in dem er seine Haare zu packen bekam, waren wir alle zur Stelle.

    Der Kerl schüttelte seine Hand ab und wich ein paar Schritte zurück. Da kamen seine Freunde aus den Büschen heraus und wir sahen uns gegenseitig abschätzend an.

    Wir Südlinger waren fünfzehn, neun Jungs und sechs Mädchen, die Froschaugen kamen zu siebzehnt.

    Herausfordernd stellten wir uns gegenüber auf und Marek, unser größter und kräftigster Kämpfer, ging gleich auf Tamras, einem wahren Bullen von einem Froschauge, zu und stemmte seine Hände in die Seite.

    „Was habt ihr hier verloren?" herrschte er den anderen an und ich sah, wie Tamras’ Mundwinkel leicht zuckten.

    „Ihr habt unser Rätselbuch gestohlen."

    Seine grünen Froschaugen wurden größer und vor Wut zog sich sein Gesicht zusammen. Ich habe selten so viele Runzeln gesehen.

    Er holte tief Luft und danach bellte er den armen Marek an:

    „Vorgestern war es noch da, aber als wir heute früh nachgeschaut haben, war es weg."

    So dick und groß unser Kämpfer ist, für einen Moment wirkte er unsicher und seine Arme hingen schlaff herunter. Ein Schatten verdunkelte seine Miene. Wir alle wissen, was ihm da durch den Kopf gegangen ist. Ja, die Froschaugen sind gegen uns. Immerfort wollen sie uns übertrumpfen und werden nicht müde, uns Streiche zu spielen. Das können wir uns natürlich nicht gefallen lassen!

    Sie essen eher Fleisch statt Fisch, trinken lieber Milch statt Wasser, und ständig haben sie was zu meckern. Aber es sind Menschen wie wir.

    Nicht so wie Magissa. Magissa, die Hexe von Katara. Groß und schmal ist sie und ihre langen blonden Haare wehen um sie herum, selbst wenn kein Windhauch zu spüren ist. So schön wie sie ist, so eiskalt ist sie. Wenn man ihr sternenbesetztes Seidenkleid rascheln hört, bekommt man eine Gänsehaut. Wie ein Albtraum taucht sie irgendwo auf und stellt uns Rätsel. Niemand weiß, wo sie uns auflauern wird, niemand weiß, wen es das nächste Mal trifft. Sie wird einen Namen nennen, ihre Frage stellen und daraufhin sollte man die richtige Antwort wissen. Wenn nicht, dann…lasst uns nicht darüber reden, niemand will darüber reden.

    Wo war ich eben? Ach ja, Marek und Tamras.

    Nachdem unser Freund den Kopf wieder frei hatte, schlug er Tamras mit der Faust gegen die Brust.

    „Was sollen wir denn mit eurem Buch? Wir haben selber eins!"

    „Als könntet ihr nur eines von Magissas Rätseln lösen…"

    Da wich das Froschauge zurück und die beiden lieferten sich eine ordentliche Schlägerei.

    Wenn ich ehrlich sein soll, wir haben das Buch tatsächlich genommen. Varkos hat mit einem seiner Anglerkollegen die Brücke überquert und als er gestern Nacht heimkam, hat er mir seinen Fund gleich gezeigt. Wir haben bis in die Morgenstunden darin geblättert und waren dennoch total enttäuscht. Nur zwei Lösungen kamen zutage, die wir nicht kannten. Dabei war der Ausflug in den Norden über die kaputte Brücke nicht ungefährlich. Sei’s drum.

    Die Froschaugen hörten nicht auf, uns zu beschimpfen und wir hielten dagegen. Kurz darauf gab es den ersten Schubser und der Getroffene schlug zurück. So manche Faust flog durch die Luft und ich bekam einen heftigen Tritt in den Bauch, so dass ich die Hand meines Gegners nicht sah, die mein Auge nur knapp verfehlte. Unglücklicherweise hatte mich einer der Größeren in der Kur. Laski ist nur wenig kleiner als Marek, wenn auch nicht so kräftig. Ich biss die Zähne zusammen und hob mein Knie hoch, direkt in die Weichteile von dem Mistkerl. Er schrie mir mitten ins Gesicht, dass mir die Ohren dröhnten. Und da sah ich den Zorn in seinen grünen Augen. Ich konnte meinen Blick nicht mehr abwenden und verpasste meine Chance für den Rückzug. Kaum hatte er zu schreien aufgehört, prasselten seine Schläge auf mich ein. In den Bauch, in die Seite, die Oberarme und schließlich ins Gesicht. Ich war völlig wehrlos, so schnell schlug er zu. Als mein linkes Auge getroffen war, sah ich den Schlag in mein Gesicht nicht kommen und stürzte zu Boden. Das war das Signal, ich gab mich geschlagen.

    Im Süden der Insel Katara ist das Land besonders fruchtbar. Es gibt vier Ausläufer des Flusses Diatisia und einen großen Teich, in dem die Bewohner ihre Hauptnahrung, frischen Fisch, angeln. Die Ufer sind von dichten Büschen umrundet und nur zwei Wege führen vom Teich zur Stadt. Wer kein Angler ist, hat große Felder, auf denen Kartoffeln und Mais angebaut werden. Verschiedene Obstbäume wachsen in den Gärten der zumeist kleinen Häuser, die um den Marktplatz herum errichtet sind. Die Kieswege führen kreuz und quer und rund um die Häuser sind kleine Beete angelegt. Kein Haus gleicht dem anderen weder in der Form noch in der Farbe, so dass die Stadt von oben wie eine Blumenwiese aussieht. Hier findet man ein rotes fünfeckiges Haus mit weißen Fensterläden, dort ein blau-gelb gestreiftes mit Türmchen - ähnlich wie die Häuser im Norden. Dort sind die Häuser jedoch nach einem strengen Muster angelegt: vier Häuser längs des Weges, drei quer und in der nächsten Reihe geht es genauso weiter. Im Süden scheint es, als hätte man die Behausungen wie Würfel auf den Tisch fallen lassen.

    Im einem der kleineren Häuser wohnt Julia, die Anführerin, zusammen mit ihrem Sohn Jakri, der in Kürze seinen fünften Geburtstag feiert. Ihr Haus ist grün mit weißen Punkten und das Dach ist gewölbt, so dass es ein bisschen wie ein Pilz aussieht. Die Fensterläden gleichen Schönwetter-Wolken genau wie die Haustür, durch die sie gerade hineinkommt. Sie ist eine große Frau mit kräftigen Armen und heller Haut, die von Sommersprossen übersät ist.

    Eine Sorgenfalte zerteilt ihre Stirn und die blonden Locken hüpfen auf ihren Schultern auf und ab, so sehr schüttelt sie den Kopf.

    ‚Müssen die sich denn ständig prügeln?‘ geht es ihr durch den Kopf.

    ‚Als hätten wir keine anderen Sorgen…‘

    Julia geht in die Wohnstube, die mit einem großen Buchenschrank, einem breiten Sofa und drei Sesseln möbliert ist. Etliche Bücher sind in den Regalen zu sehen, manche gestapelt, andere liegen aufgeschlagen herum. Sie greift nach einem dicken Band, der auf der untersten Reihe liegt. Er wurde ihr von ihrer Vorgängerin Lilia feierlich überreicht, als sie zum Oberhaupt ernannt wurde.

    ‚Hätte ich nur gewusst, was es damit auf sich hat‘, klagt Julia.

    Die Anführerin der Südlinger presst ihre Lippen aufeinander, danach schlägt sie das Buch auf. Viele Namen sind dort aufgeführt, hinter jedem ist ein Datum vermerkt. Julia seufzt laut auf, wenn sie einen dieser Namen liest.

    Seit sie denken kann, fürchten sie die Hexe Magissa, wegen der dieses Buch existiert. Ihr Haus ist in der Nähe der Nördlinger und sie mischt sich nie unters Volk. Oftmals sieht man bunten Rauch aus ihrem Schornstein aufsteigen, dessen Farben die ganze Insel erleuchten. Der Weg zu ihrer Hütte ist den Menschen versperrt. Dort verwandelt sich die Erde rund ums Haus zuweilen in ein Moor, an anderen Tagen in ein Mienenfeld oder Treibsand.

    Doch wer sollte die Hexe besuchen wollen, von der ihnen nur Leid und Kummer droht? Magissa jagt jedem Katarer eine Heidenangst ein.

    Julia blättert Seite um Seite um, bis ihr Finger über einem der Namen stehenbleibt. Mit Tränen in den Augen klappt sie das Buch zu.

    In dieser Sekunde kommt Jakri heran und zupft unaufhörlich an ihrem Rock. Sie zwingt sich zu einem Lächeln und nimmt ihren Sohn hoch. Jakri hat hellblaue Augen, die viel zu häufig ernst und verschlossen vor sich hinschauen. Seine blonden Haare wellen sich an den Haarspitzen.

    ‚Mein kleiner Engel!"

    Julia sieht ihren Sohn liebevoll an und für einen Wimpernschlag sind alle ihre Sorgen vergessen. Innig drückt sie ihn an sich und dreht sich so lange, bis er vor Freude jauchzt.

    Als sie ihn absetzt, sieht sie aus dem Fenster und entdeckt einen Jungen, der mitgenommen die Straße entlangschlurft. Erschrocken verlässt Julia das Haus und läuft auf ihn zu.

    „Mika, du doch nicht etwa auch?"

    Schuldbewusst blickt der Junge zu Boden und kickt einen großen Kiesel zur Seite.

    ‚Wäre ich doch nur außen rum gelaufen‘, geht es ihm durch den Kopf.

    „Lass sehen!"

    Ungeduldig zieht Julia den Jungen zu sich und mustert ihn von oben bis unten. Er knurrt mürrisch und lässt diese Behandlung widerwillig über sich ergehen, was die Anführerin der Südlinger jedoch komplett ignoriert. Sie atmet erleichtert auf, als sie sieht, dass er nicht ernstlich verletzt ist. Nur einen kurzen Moment später ist ihre Miene verhärtet.

    „Ein blaues Auge, etliche Kratzer und Blutergüsse und was ist mit deiner Nase?"

    „Ich…" beginnt Mika, als sie ihn mit lauter Stimme unterbricht.

    „Ja, ich weiß, Marek hat mir bereits berichtet. Wann werdet ihr eigentlich vernünftig? Kannst du mir sagen, warum ihr euch ständig mit den Nördlingern streitet? Schau dir an, wie du aussiehst!"

    Der Junge kommt sich vor wie ein kleines Kind und stöhnt genervt auf. Die Anführerin kramt in ihren Taschen, ohne zu finden, wonach sie gesucht hat und wendet sich zurück zum Haus.

    „Komm mit!"

    Julia packt den Jungen grob am Arm und zieht ihn durch den Flur in ihr Badezimmer. Sie kümmert sich um Mikas Verletzungen und drückt ihm eine Packung Eis in die Hand, damit er seine Nase und sein Auge kühlen kann.

    „Ich hoffe, du ziehst eine Lehre daraus!"

    Mika versucht, eine versöhnliche Miene aufzusetzen, aber es will ihm nicht recht gelingen. Er weiß, dass die Sache damit nicht erledigt ist.

    „Ich mach jetzt was zu Essen, dann reden wir!"

    Die Küche ist der größte Raum im Haus und vollgestopft mit allen Arten von Küchengeräten. In den Hängeschränken liegt alles durcheinander und die unteren Fächer quellen über.

    An der hinteren Wand steht ein wuchtiger Baumstamm, der als Tisch dient. Die zehn kurzen Stümpfe um ihn herum sind mit Wolle umspannt und mit je einem Brett als Lehne versehen.

    Julia ist voll in ihrem Element, es klappert mal auf der einen und danach auf der anderen Seite. Nach einer Weile duftet es vorzüglich und der Geruch lockt Mika und Jakri aus der Wohnstube hervor. Sie tischt großzügig auf und nachdem sie gegessen haben, bringt sie ihren Sohn zu Bett und lässt sich in den Schaukelstuhl fallen, der in ihrem Wohnzimmer steht. Er ächzt und knarrt, als würde er gleich auseinanderbrechen.

    Mika hat währenddessen den Tisch abgeräumt und in dem Moment, in dem er das Zimmer betritt, setzt er seine reumütige Miene auf.

    „Ich will jetzt wirklich wissen, was los war!"

    Julia sieht ihren Schützling streng an, der sich sicherer fühlt, wenn er vor ihr stehen bleibt.

    „Ach, es war gar nichts", entgegnet er, ohne sie anzuschauen.

    „Das glaubst du doch selbst nicht!"

    Sie verliert rasch die Geduld, während Mika nichts mehr als ein Grummeln vorbringt.

    „Ich kann auch anders, das weißt du genau!"

    Ärgerlich verzieht er das Gesicht und zischt durch die Zähne:

    „Ich habe nichts getan."

    „So sieht das also aus, wenn du nichts tust. Eine geschwollene Nase, ein Veilchen und blaue Flecken überall."

    Mika ist fest entschlossen, sich nicht in die Enge treiben zu lassen. Er schweigt und ignoriert Julia eine ganze Weile.

    „Du hast wohl deine Manieren völlig vergessen! Ich werde mit Aidan, deinem Hausvater, sprechen. Vielleicht gebe ich dich in ein anderes Haus. Offenbar bekommt dir die Gesellschaft mit Varkos nicht. Dieser Unruhestifter war sicherlich mit von der Partie?"

    Jetzt kriegt es der Junge mit der Angst zu tun. Sofort schwirrt ihm der Kopf.

    ‚Das ist nicht fair. Ich will nicht weg von meiner Familie, nicht von Aidan, Jay, dem kleinen Nelio und schon gar nicht von Varkos!‘

    Eigentlich zweifelt er daran, dass Julia so weit gehen würde, aber er will das Risiko lieber nicht eingehen.

    Mürrisch und mit grimmiger Miene spuckt er die Worte aus.

    „Die Froschaugen sind über die Brücke gekommen und haben behauptet, dass wir ihr Buch geklaut hätten."

    Triumphierend klatscht die Anführerin in die Hände.

    „Müsst ihr sie denn „Froschaugen nennen? Was für ein Buch soll das sein?

    Mika starrt Julia nur an. Jetzt soll er seine Freunde verraten!

    „Weiter, Mika, was für ein Buch?"

    Er kostet ihn viel Kraft, sich zusammen zu nehmen, aber Julia bleibt hart und so fährt er fort.

    „Eines ihrer Rätselbücher."

    „Nein, das wäre ja…" sie stockt.

    „Sag, Mika, stimmt das etwa?"

    Der Junge presst den Mund zusammen und verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust.

    Julia steht auf und packt ihn an den Schultern.

    „Mika, sag mir, dass ihr das nicht getan habt!"

    Zwangsläufig muss er ihr nun ins Gesicht schauen, doch seine Augen blitzen vor Wut und kein Wort kommt über seine Lippen.

    „Ihr gebt es zurück, ich bestehe darauf. Wo habt ihr es versteckt?"

    Mittlerweile hat die Anführerin ihn losgelassen. Der Junge ballt seine Hände zu Fäusten und wünscht sich erneut, er hätte einen Umweg genommen.

    „Ich glaube nicht, dass du es hast. Varkos war der Übeltäter, da wette ich drauf."

    Es ist nur ein kurzes Zucken seiner Augenbrauen, das Mika nicht unterdrücken kann, doch Julia hat ihn ertappt.

    „Ja, dachte ich mir’s doch."

    Sie sieht nach Jakri und bittet ihre Nachbarin, bei ihm zu bleiben. Gleich darauf läuft sie mit energischen Schritten voraus und dem Jungen bleibt nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu trotten.

    Am anderen Ende der Insel sind in diesem Moment alle Nördlinger um Heros versammelt. Die Stadt liegt am nordöstlichen Rand von Katara nahe bei Magissas Haus, dem größten auf der Insel. Nördlingen ist ein Gebiet mit fast ausschließlich Steinen und Kakteen.

    Die Landschaft ist karg und der Versuch, das Land fruchtbar zu machen, ist vor Jahrhunderten bereits kläglich gescheitert. Einzig ein kleiner Arm des Diatisia fließt ein gutes Stück von der Stadt entfernt durch die Ebene. Um ihn herum wachsen die wenigen Blumen und Obststräucher, die es hier gibt.

    Deswegen stehen auf der Speisekarte hauptsächlich Beeren, Äpfel, Kirschen, Birnen und Ziegen- oder Hühnerfleisch. Einen Fischteich wie in Südlingen sucht man vergebens. Kurz bevor man zur eigentlichen Stadt kommt, geht es einen Hügel hinauf. Oben befindet sich ein Steinkreis, der den Nördlingern als Platz für ihre Versammlungen dient.

    Tamras, der den Kampf mit Marek recht glimpflich überstanden hat, sitzt an der Seite des Anführers und seine Augen glühen vor Eifer. Heros hat die Versammlung ausgerufen, direkt nachdem Tamras mit seinen Freunden vom Kampf heimgekehrt ist.

    „Gewiss gefällt mir nicht, dass ihr meine Anordnung missachtet habt, die Brücke nicht zu betreten."

    Seine Stimme ist tief und gewaltig, so dass alle Nördlinger sich gerade aufrichten und ihm die gesamte Aufmerksamkeit gehört. Sie sitzen auf den Steinen im Kreis und am äußersten Rand ragt die Statue der Göttin Demeter bedrohlich in die Höhe und wirft ihren Schatten über die Runde. Die Nördlinger lauschen ihrem Anführer aufmerksam und der ein oder andere schlägt demütig die Augen nieder. Sie wissen genau, Heros duldet keine Unterbrechung. Dem stattlichen und athletisch gebauten Mann sieht man sein Alter nicht an. Die grauen Schläfen verschwinden im Blond seiner Haare und in seinen grünen Augen lodert ein unruhiges Feuer.

    Nachdem Heros seine Worte eine Weile wirken lässt, mustert er jeden Einzelnen seiner Schützlinge.

    „Aber dennoch bin ich stolz auf euch. Dass ihr losgezogen seid, um unser Buch zurückzuholen, zeigt mir, wie gut wir zusammenhalten."

    Er streicht sein Kinn mit den Fingern, wie er es häufig tut, und fährt fort:

    „Nun, wie ich von Tamras erfahren habe, ist dieser Versuch misslungen. Ihr steht mit leeren Händen vor mir."

    Während der bedeutungsvollen Pause herrscht eine unangenehme Stille auf dem Platz. Da fasst sich Tamras ein Herz und steht auf.

    „So leicht geben wir uns nicht geschlagen. Die werden blöd aus der Wäsche gucken, wenn wir morgen kommen. Es geht um unser…"

    „Ruhig Blut, Tamras!"

    Heros klopft ihm beschwichtigend auf die Schulter.

    „Wir halten uns von Südlingen fern", schmettert er über den Platz.

    „So sind wir immer gut gefahren und so ist die Absprache zwischen Julia und mir, wie ihr wisst!"

    „Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen!" fällt Laski ein.

    Einer nach dem anderen stellt sich gegen Heros, nur einige wenige sind auf der Seite des Anführers.

    „Diese Fusselbirnen machen uns Ärger, seit ich denken kann", schimpft die grauhaarige Edania.

    „Auf die sind wir nicht angewiesen. Wir haben schon ein neues Buch fertig, das uns bei Magissa helfen wird."

    Heros schaut die kleine rundliche Frau mit den dicken Augenbrauen erst tadelnd und eine Sekunde später dankbar an.

    „Ganz hervorragend, Edania!"

    Der Anführer klatscht und alle fallen ein.

    „Es bleibt also dabei: keine Ausflüge mehr über den Diatisia!"

    Er legt eine kurze Pause ein, in der man ein Streichholz fallen hören könnte, so still ist es auf der Hügelkuppe.

    „So ist es gut. Möge der Mond für euch scheinen!"

    Damit löst Heros die Versammlung auf. Einer nach dem anderen kehrt in sein Haus zurück. Zum Schluss bleibt der Anführer auf dem Platz mit Luludi allein.

    Ihre Haare sind von einem so hellen Blond, das es fast durchsichtig ist, und reichen ihr weit über die Schultern.

    Mittlerweile ist es Abend geworden und die Luft kühlt bereits ab. Zudem ist eine leichte Brise aufgekommen.

    Das Mädchen wickelt sich nervös eine Strähne um ihren Finger, sie weiß, was nun kommen wird.

    „Ausgerechnet meine eigene Tochter", fährt Heros sie an.

    „Was werden die anderen Nördlinger dazu sagen? Wenn ich meinem eigenen Fleisch und Blut nicht zu befehligen weiß, wie soll ich da ein Volk führen? Kannst du mir das sagen?"

    Luludi schnaubt genervt und ihre Mundwinkel zucken.

    „Du willst mich gar nicht verstehen."

    Mit einer abschätzigen Geste wischt ihr Vater die Worte fort.

    „Es ist nicht so, als wäre es das erste Mal. Du bist immer vorneweg, wenn es darum geht, Unruhe zu stiften. Schau dich doch an!"

    Angriffslustig erwidert sie seinen Blick, in ihr brodelt es gewaltig. Trotzdem weiß sie genau, dass es besser ist, keine Widerworte zu geben.

    „Überall blaue Flecken und dein Handgelenk ist verstaucht. Wer soll jetzt den Haushalt führen, wer die Obstbäume abernten?"

    „Kann ich was dafür, dass Mutter nicht mehr da ist?

    Du kannst ruhig mit anpacken!" herrscht Luludi zurück.

    Heros geht einen weiteren Schritt auf sie zu. Das hat gesessen und er kann die Wut kaum zurückhalten, mit äußerster Kraftanstrengung zwingt er sich zur Beherrschung.

    „Kein Wort mehr, geh mir aus den Augen!"

    Luludi fühlt die Worte wie Messerstiche in ihrem Herz, die Wut ist der Enttäuschung gewichen und sie kämpft die Tränen fort.

    Der Anführer tritt einen Schritt zurück, sein Blick ist starr auf Luludi gerichtet.

    „Geh jetzt nach Hause. Ich komme später nach!"

    Auf dem Heimweg schimpft Luludi mit sich selbst.

    ‚Ich darf ihn nicht so reizen, das sollte ich mittlerweile wirklich besser wissen.‘

    Sie tritt ärgerlich nach einem der größeren Steine, der den Weg zur Stadt hinunter kullert.

    ‚Nachher muss ich es ausbaden.‘

    Der Wind hat zugenommen und fegt kleine Kiesel an ihr vorbei. Ihre Schritte werden allmählich langsamer. Da ist nichts, was sie nach Hause zieht. Die Fenster der Häuser, an denen sie vorbeigeht, sind dunkel. Es scheint, Nördlingen hat sich bereits schlafen gelegt.

    Als sie zum hellgelben Haus mit der roten Tür gelangt, in dem sie zusammen mit ihrem Vater und ihren zwei Brüdern lebt, zögert sie eine Sekunde. Ihr Herz klopft laut und schnell in ihrer Brust, trotzig geht sie ein Stück weiter. Nur drei Häuser weiter brennt Licht im Dachgeschoss.

    ‚Cilia ist wach‘, freut sich Luludi zunächst, bis sie an ihren Vater und seine mahnenden Worte denkt.

    ‚Nur ganz kurz!‘

    Sie verdrängt den Gedanken an die Moralpredigt mit aller Macht und pfeift im Rhythmus lang-lang-kurz. Keine Minute später taucht ein rundes Gesicht im Fenster auf. Die schwarzen Haare sind zu einem Bob geschnitten und unter den grünen Augen tanzen Sommersprossen.

    „Lulu, du?"

    Vor lauter Überraschung spricht Cilia lauter als gewollt und hält sich sofort die Hand vor den Mund.

    „Machst du auf?"

    „Ist gut, aber komm lieber durch die Hintertür", flüstert Cilia.

    „Edania ist schlimmer als ein Wachhund."

    Auf leisen Sohlen und mit angehaltenem Atem steigt Luludi die Treppe hinauf. Die drittletzte Stufe lässt sie aus, weiß sie doch genau, dass diese knarrt.

    Oben angelangt sieht sie, dass die Zimmertür bloß angelehnt ist. Sie schlüpft schnell hindurch und nimmt Cilia in die Arme.

    „Dein Vater?"

    Luludi löst sich nur langsam aus der Umarmung und schlägt die Augen nieder.

    „Wer sonst?"

    „Wegen unserem Ausflug?"

    Cilia lässt ihre Hand auf Luludis Arm liegen und sieht sie mitfühlend an.

    „Die alte Leier, ich – gerade als Tochter des Anführers – beachte seine Regeln nicht."

    „Und das für nichts und wieder nichts. Unser Buch haben wir nicht zurückgekriegt. Wir hätten in Zweiergruppen gehen sollen und nicht alle gemeinsam."

    „Du hattest Recht, Cilia. Aber die Jungs hören nicht auf uns."

    „Die kannst du echt vergessen", schmunzelt sie versonnen.

    „Da ist der ein oder andere der Fusselbirnen schon eher nach meinem Geschmack."

    „Lulu! Das geht gar nicht. Du wirst doch nicht mit dem Feind anbandeln?"

    „Von wegen Feind…jetzt übertreib nicht!"

    Cilia macht den Mund auf, um Luludi zu widersprechen, doch gleich darauf zieht sie die Augenbrauen hoch.

    „Sag bloß! Wer ist es denn?"

    „Ach, hör auf damit!"

    Heros‘ Tochter windet sich und zieht ihre Hand von Cilia fort.

    „Mir kannst du es doch sagen."

    „Das ist jetzt echt nicht mein Problem. Mein Vater macht mir viel mehr Sorgen!"

    „Der regt sich wieder ab."

    „Ich weiß nicht. Ich glaube, ich bin dieses Mal zu weit gegangen. Er merkt gar nicht, was ich alles tue. Nie kann ich ihm etwas Recht machen. Wenn nur meine Mutter noch da wäre…"

    „Das tut mir wirklich leid."

    „Ich kann mich nicht mehr wirklich an sie erinnern. Ihr Bild war eine Weile in meinem Kopf, nachdem sie weg war, aber jetzt ist alles verschwommen."

    Cilia nimmt Luludis Hand und tröstet sie.

    „Und jetzt verrätst du mir, was da mit dem Südlinger los ist, der dir nicht aus dem Sinn geht. Ich petze nicht, ich schwöre!"

    Feierlich hebt das Mädchen die Hand und streckt drei Finger in die Luft.

    „Hör auf mit dem Unsinn! Ich sage gar nichts mehr. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen."

    „Wie du willst. Sei mir nicht böse, ja?"

    „Nein, alles gut!"

    Cilia ist enttäuscht, dass sich Luludi ihr nicht anvertraut. Als sie die Freundin nach draußen begleitet, stupst sie sie mehrfach an und lächelt ihr zu, doch Luludi ist in sich gekehrt und nicht zum Reden zu bringen.

    „Viel Glück!" wünscht Cilia schließlich und drückt Luludi fest an sich.

    „Möge der Mond für dich scheinen, Cilia!"

    Niedergeschlagener als zuvor macht sie sich auf den Heimweg.

    Was wird Varkos wohl dazu sagen, dass ich jetzt mit Julia ankomme? Das lief gar nicht gut. Hätte ich mir echt denken können, dass sie kapiert, was los ist.

    Schöner Mist!

    Und wie sie mich von der Seite her ansieht! Sie ist stinksauer!

    In ein paar Schritten sind wir da, gleich hinter der Silberlinde steht unser Haus. Die hellblauen Fensterläden sind alle geschlossen, dabei ist es vor acht Uhr am Abend.

    Ich wohne dort mit Varkos, Nelio, Jarlin – genannt Jay – und Aidan. Mit Varkos verstehe ich mich am besten, wir ticken irgendwie gleich. Er sieht mir sogar ein bisschen ähnlich. Er hat die gleichen dunkelbraunen welligen Haare und ist sportlich gebaut. Nur seine Augen haben eine andere Farbe – graugrün -, wobei er betont, sie seien definitiv grau.

    Varkos will auf keinen Fall ein Froschauge sein! Ich dagegen habe blaue Augen.

    Nelio, unser jüngster Hausbruder, ist als Letzter zu uns gestoßen. Seine Eltern sind erst vor ein paar Monaten verschwunden. Trotzdem hält er uns irgendwie zusammen. Weil er der Jüngste ist, will jeder ihn beschützen und für ihn da sein. Wenn er uns mit seinen dunklen Augen anschaut, kann man ihm fast nichts abschlagen.

    Jarlin ist der Stillste von uns. Seine rötlichen Haare kringeln sich bis zur Schulter und die grauen Augen schauen oft ernst und verschlossen. Als kleines Kind kam er zu Aidan und war der erste in unserem Haus.

    Er hat nicht nur seine Eltern, sondern auch seine kleine Schwester verloren. Wenn er traurig ist, zupft er an der Kette, die er um den Hals trägt. Er nimmt sie nie ab. Ich glaube, seine Mutter hat sie ihm geschenkt. So dünn, wie er ist, müsste man glauben, er isst wie ein Spatz. Dabei haut er genauso rein wie wir alle, vor allem, wenn es Spaghetti gibt. Na ja, die mag ja jeder gern!

    Aidan ist unser Hausvater, ein bulliger Kerl mit rotlockiger Mähne. Ich finde, er sieht wie ein echter Kobold aus. Na ja, also nur dann, wenn man an sowas glaubt. Er kann zwar streng sein, aber im Vergleich zu den anderen Häusern haben wir es gut getroffen. Aidan ist der Jüngste unter den Hauseltern und oft schmunzelt er, wenn man eigentlich mit einer Standpauke gerechnet hat.

    Die Schlafenszeiten nimmt er selten wörtlich und sein „nur noch zehn Minuten" kann man gut dreimal verlängern.

    Dafür kann er unsere Raufereien nicht leiden und deswegen ist mir mulmig zumute, wenn ich ihn in Gedanken vor mir sehe.

    Julia sieht mich erwartungsvoll an und ich krame in meinen Hosentaschen. Doch vergeblich, ich muss meine Schlüssel heute Morgen vergessen haben.

    Sicher liegen sie auf der Kommode in einem kleinen Kästchen. Eigentlich genau da, wo sie immer liegen.

    Zugegeben, das passiert mir häufiger. Ich verziehe zerknirscht meine Miene und sehe unsere Sippenchefin mit unschuldigem Hundeblick an. Ich hoffe zumindest, dass es sie etwas milde stimmt.

    Ärgerlich schüttelt Julia den Kopf und klopft energisch an unsere Tür. Als nicht gleich geöffnet wird, schlägt sie mit der flachen Hand dagegen.

    „Aidan!"

    Ihre Stimme überschlägt sich nicht, aber man ahnt bereits, gleich wird sie schrill.

    „Aidan, mach auf!"

    Jetzt werde ich unruhig. Wenn ich Ärger kriegen soll, will ich es endlich hinter mich bringen. Wo bleibt er denn nur?

    Julia sieht mich an und ich erkenne, dass die Sorge um meinen Hausvater die Wut in ihr vertrieben hat.

    Als sie ein drittes Mal gegen die Tür schlägt, öffnet Nelio, unser jüngster Bruder. Seine Augen sind rot geweint und man kann seine Hände zittern sehen.

    „Nelio, mein Junge", kommt es von Julia so sanft, wie ich es lange nicht mehr von ihr gehört habe.

    „Was ist denn geschehen?"

    Unser schmächtiges Nesthäkchen steht vor ihr mit seinen dunklen Augen und schwarzen Locken und versucht vergeblich, sich zu beruhigen. Sobald er den Mund aufmacht, treten ihm Tränen in die Augen.

    Es muss etwas Schreckliches vorgefallen sein und ich habe schon so eine Ahnung.

    „Wo sind denn Jay und Varkos, Nelio?" versuche ich es anstelle von Julia, wobei ich die Schmerzen in meiner Nase zu ignorieren versuche, die allmählich ihren Höhepunkt erreicht haben.

    Nelio ist so erschüttert, dass er weiterhin kein Wort hervorbringt, aber er deutet mit dem Zeigefinger nach oben.

    Julia schiebt mir den Kleinen in die Arme und hastet die Treppe hinauf.

    Kummervoll drückt er sich an mich, sein Schluchzen zerreißt mir das Herz. Ich wünsche mir so sehr, dass ich mich irre.

    Nach einer Weile lässt mein kleiner Hausbruder mich los. Er sieht so fertig aus, dass ich ihn in sein Zimmer bringe, ins Bett stecke und so lange sein Lieblingslied summe, bis er eingeschlafen ist.

    Jetzt endlich kann ich nachschauen, was da oben los ist. Nur, dass es mich überhaupt nicht dahinzieht. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich wissen will, und was danach passiert. Selbst wenn ich weiß, wie feige das ist.

    Ich atme tief durch und nehme mehrere Stufen gleichzeitig. Aus Varkos’ Zimmer scheint Licht unter der Tür hindurch und ich kann sie sprechen hören.

    Als ich eintrete, sehe ich ihn und Jarlin auf dem Bett sitzen und Julia hat auf dem Schemel davor Platz genommen.

    Sie drehen sich zu mir um und obwohl ich darauf brenne, zu erfahren was los ist, tritt zunächst ein langes Schweigen ein.

    Varkos, der weltbeste Spaßvogel, hat die Augen zu Schlitzen gezogen und seine Traurigkeit wiegt schwerer als Nelios Tränen. Jarlins Miene ist starr und er spielt mit der Kette um seinen Hals, was er häufig tut, wenn er nervös ist. Überhaupt ist die Stimmung so angespannt, dass man beim kleinsten Geräusch zusammenzucken würde.

    Ich wusste es gleich, ich habe es gewusst und das macht es ungleich schlimmer. Weil wir jetzt darüber reden müssen, wir müssen etwas dagegen unternehmen.

    Und Julia, die unsere Stadt beschützen sollte, die alle bestraft, die gegen ihre Regeln verstoßen, die immer alles am besten weiß, die große Reden schwingt und keine Untat je vergisst oder verzeiht: Julia sitzt da und schlägt ihr Gesicht in ihre Hände und tut gar nichts.

    Anmutig wie eine Fee gleitet sie durch die Luft. Der Nebel, der sie umgibt, ist hellblau und bahnt sich den Weg entlang des Flusses Diatisia. Das dicke Buch, das sie in der linken Hand hält, ist kalt geworden und die Seite ist leer.

    Magissa hat ihre Hütte fast erreicht.

    ‚Heute war es ein Südlinger‘, stellt die Hexe fest.

    Sie wendet sich um zu dem Mann, der hinter ihr hergeht. Alle Farbe ist ihm aus dem Gesicht gewichen, seine Augen sind leer und wenn seine stämmigen Beine nicht dem Weg folgen würden, könnte man glauben, er sei erstarrt. Die Arme sind mit Seidenfäden an den Körper gefesselt und Magissa hält das Ende des Seils locker in ihrer rechten Hand.

    Sie weiß, dass ihr Opfer nicht fliehen wird. Das tun sie nie. Wenn sie merken, dass das Rätsel zu schwer für sie ist, zetern sie häufig und betteln um Gnade.

    ‚Aber der Südlinger – Fusselbirne sagen die Nördlinger – war erstaunlich gefasst‘, erinnert sich die Hexe.

    Der Mann kam gerade vom Fischteich, die Angel hing ihm über der Schulter. Mit der einen Hand schaukelte er einen Eimer voller Fische und die andere hielt einen kleinen Jungen, der ihn bewundernd anlächelte. Sie malten sich aus, was ihre Mitbewohner zu der großen Beute sagen würden.

    Heute Abend würde niemand hungern müssen.

    Gerade als der ältere der beiden die Lippen spitzte, um ein Lied zu pfeifen, ließ Magissa den blauen Nebel um sie herum aufsteigen. Wie eine Wolke bauschte sich der Dunst auf und schloss die Hexe und die Südlinger ein.

    Zunächst konnten der Mann und sein Schützling nichts erkennen und dennoch klopften ihre Herzen schneller. Während der Kleine die Schultern einzog und die Hand des Mannes drückte, versuchte der Ältere sich zu wappnen. Er nahm Magissa wahr, bevor sich der Nebel im Innern der Wolke völlig gelegt hatte.

    „Oh nein!"

    Der große rot gelockte Mann war starr vor Schreck.

    ‚Die Rätsel,‘ versuchte er sich zu konzentrieren. ‚Ich muss mich an die Lösungen erinnern.‘

    Doch sein Kopf war wie leergefegt. Wie sehr er sich bemühte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

    Plötzlich fuhr er zusammen.

    ‚Sie wird doch nicht Nelio befragen wollen?‘

    Mittlerweile gab der hellblaue Dunst die Sicht auf die Hexe frei, er war zur Seite gewichen und waberte weitläufig um sie herum.

    Magissa schwebte vor ihnen und ihre blonde Mähne umrahmte ihr Gesicht und ihren Körper. Ihr hellblaues Kleid schwang hin und her, obwohl kein Lufthauch zu spüren war. Überhaupt war es so stickig, dass jeder Atemzug in der Kehle brannte. Die Südlinger reckten die Hälse, um die Hexe zu betrachten, doch ihr Körper war durchscheinend und wie von einem Schleier überzogen. Magissa jedoch nahm sich Zeit, ihre Gefangenen zu mustern, und ließ sich auf den Boden gleiten.

    Sie hob beide Hände bis zu ihrer Brust und drehte sie um. Zunächst flirrte die Luft vor goldenem Glitter, allmählich ließ das Leuchten jedoch nach.

    Auf ihren Handflächen lag ein Buch. Der Goldrand war verziert mit Muscheln und Korallen. Obwohl die beiden ein Stück von der Hexe entfernt standen, fühlten sie die Wärme, die die Fibel ausstrahlte. Ohne dass Magissa einen Finger rührte, öffnete sich das Buch und die erste Seite war zu sehen.

    Aidan rief sich alle Rätsel, die er kennt, in sein Gedächtnis. Besorgt schaute er von Magissa zu Nelio und zurück.

    ‚Bitte nicht‘, flehte er innerlich.

    Im nächsten Augenblick war sie bei ihm. Das Buch lag nun direkt vor ihm und er sah es sich genauer an.

    Die aufgeschlagene Seite war leer, nichts als weißes Papier.

    Verwundert sah er der Hexe in die Augen, als diese ihm zunickte.

    Plötzlich erschienen Buchstaben auf der weißen Fläche und die rote, kursive Schrift erschien Aidan wie Blut. Für einen Moment hielt er instinktiv die Luft an.

    Wie in Trance vernahm er Magissas Flüstern:

    „Aidan, Geisel des Fluches, sei klug und sprich!"

    So oft hatte der Hausvater diesen Satz gehört, aus Erzählungen derjenigen, die dabei waren, wenn Magissa einen der ihren verschleppte. Und doch schnürte es ihm die Kehle zu. Seine Zunge fuhr nervös über die trockenen Lippen und er krallte die Finger so fest in die Handballen, dass rote Halbmonde entstanden. Vergessen war die Sorge um Nelio und vergessen der tolle Fang.

    Fasziniert betrachtete er die Korallen und Muscheln, die den goldenen Einband zierten, und konnte sich kaum davon abwenden. Als würde irgendeine geheime Macht ihn aufhalten wollen, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen, von dem sein Leben abhing.

    ‚Ich muss, ich muss, ich muss‘, waren die einzigen Worte, die ihm im Kopf herumschwirrten.

    Als Aidan sich einigermaßen gefangen hatte, studierte er die roten Buchstaben in dem Buch, das ihm die Hexe hinhielt.

    ‚Du jagst mich, ich jage dich. Du kriegst mich nicht, ich krieg' dich nicht. Unmöglich kann es geschehen, dass wir, Schwester und Bruder, uns sehen.‘

    Er las die Worte mehrere Male, doch ihm fiel nichts dazu ein.

    ‚Das ist keines der Rätsel, die wir aufgeschrieben haben‘, sinnierte er.

    Aidans Hände zitterten so sehr, dass Nelio ihn losließ. Furchtsam sah der kleine Junge den geliebten Hausvater an. Er wagte nicht, ihn anzusprechen, wusste er doch, wie wichtig es war, dass Aidan die richtige Lösung nannte.

    ‚Das könnte es sein…vielleicht…‘

    Aidan legte den Kopf schief.

    ‚Ich habe nur einen Versuch. Was haben wir nur für ein Schicksal auf Katara? Warum können wir nicht dagegen angehen?‘

    Da hielt er inne und atmete tief durch. So lange er sich auch Zeit ließ, die Hexe wartete geduldig, zuweilen blinzelte sie den Goldglitter fort, der stetig durch die Luft wirbelte.

    Aidan zögerte sehr lange, aber irgendwann rang er sich zu einer Antwort durch:

    „Ebbe und Flut!"

    Als die Hexe seufzte, wusste er, dass es um ihn geschehen war. Aidan wurde kreidebleich und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

    „Das ist nicht korrekt!"

    Ihr Lächeln schien sanftmütig zu sein, doch er sah die Häme in ihrem Gesicht, die alles und jeden verspottete, der ihren Weg kreuzte.

    „Die richtige Antwort lautet: Tag und Nacht!"

    Als Luludi zu Hause ankommt und die Haustür öffnet, hält sie kurz den Atem an und lauscht, aber im Haus ist es still. Sie läuft durch den Flur und schaut in die Küche, doch es brennt kein Licht.

    Erleichtert schleicht sie den Flur entlang und lässt zwei Türen hinter sich, um zu ihrem Zimmer zu gelangen.

    ‚Da habe ich aber Glück gehabt, Vater ist unterwegs.‘

    Sie macht sich bettfertig und legt sich nieder, aber der Schlaf will einfach nicht kommen. So viele Gedanken gehen ihr im Kopf herum.

    ‚Das geht nicht mehr lange gut mit Vater und mir, spätestens, wenn wir morgen wieder nach Süden gehen. Und doch: ich will das Buch zurückholen. Schlimm genug, dass es nötig ist. Was ist er überhaupt für ein Oberhaupt, wenn er Magissa nicht Einhalt gebieten kann? Oder zumindest versucht, dagegen vorzugehen?‘

    Luludi setzt sich auf und reibt sich die Augen.

    ‚Die Südlinger stehen genauso mit dem Rücken zur Wand und sie können sich ebenso wenig wehren. Wir sollten uns zusammentun!‘

    Bei diesem Gedanken grinst sie spöttisch.

    ‚Wenn ich das laut sagen würde, das gäbe vielleicht einen Aufruhr! Die alte Fehde muss um jeden Preis erhalten werden. Niemand weiß, warum wir verfeindet sind. Da kommen sie mir mit der alten Geschichte und dabei weiß selbst die alte Edania nicht, ob sie stimmt. Ich wüsste zu gern, wie diese Fabel im Süden erzählt wird.‘

    Ihr Vater Heros hat ihr die Geschichte der Feindschaft zwischen Südlingen und Nördlingen erzählt, als sie ein kleines Mädchen war. Sie hatte Südlinger bemerkt, die die verbotene Brücke überquert hatten, und neugierig gefragt, wer das war.

    „Sie sehen doch aus wie wir, warum dürfen wir nicht mit ihnen reden?"

    „Meine liebe Lu", begann Heros mit seinem Kosenamen für sie. „Ich werde dir die Geschichte nur ein einziges Mal erzählen. Sie ist ungeheuerlich und beängstigend, aber es ist wichtig,

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