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Ein Grund zum Bleiben
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eBook151 Seiten2 Stunden

Ein Grund zum Bleiben

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Über dieses E-Book

Ein Mann kommt mit dem Auto von der Strasse ab und verunglückt dabei schwer. Nach Monaten der Bewusstlosigkeit wird er schliesslich aus dem Krankenhaus entlassen. Gelähmt, stumm und hilflos, ist er auf Hilfe angewiesen. Drei Frauen kümmern sich innig um ihn: Seine Ehefrau, seine Freundin und die Geliebten. Trotz unkonventioneller Beziehungskonstellation finden die drei Frauen einen Weg um miteinander zurecht zu kommen. – Ein rührender und tiefgründig erzählter Roman.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum12. Aug. 2019
ISBN9788711512647
Ein Grund zum Bleiben

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    Buchvorschau

    Ein Grund zum Bleiben - Peter Seeberg

    www.egmont.com

    Laubhütte

    Als Leo Gray an jenem frühen Februarmorgen aus Tauben hinausfuhr, fragte er sich, weshalb er überhaupt fortgefahren sei, wo es doch so gute Gründe zum Bleiben gab. Er war betrübt, er war glücklich gewesen. Er fuhr allein. Er war mit jemandem zusammengewesen, den er mochte, den er stets mögen würde. Aber nicht dauernd um sich haben. Das Glück nagt Wunden, die im Verborgenen heilen müssen.

    Die Vorortstraßen waren miserabel, das alte Kopfsteinpflaster schaute durch unzählige Löcher durch. Schaukelnd und spritzend ging es durch Pfützen, einzelne Motorradfahrer bildeten eine ständige Gefahr, wenn sie im dunklen Regenumhang aus den Lücken in den Hecken bogen und die Fahrbahn überquerten, auf dem Weg zur Stadt, zur Arbeit.

    Die Milchwagen hielten vor den Molkereien, in den halbdunklen Bäckereien legten Frauen Brote auf die Regale und ins Fenster; die Busse jagten von Haltestelle zu Haltestelle, halb besetzt mit Menschen, die aussahen, als wären sie auf Holz gemalt, aufrecht, leidend, ohne Morgenzeitung.

    Endlich schob die Autobahn einen breiten, schwarzen Zubringer in die Stadt hinein, und er konnte sich durch ein paar Kurven zum zukünftigen Weltwunder dieser Gegend hinaufschrauben, das später einmal eine Reihe von Industriezentren miteinander verbinden sollte. Dort draußen wurde die gelbe Vorortbeleuchtung von der Dunkelheit des frühen Morgens und von den Nebelfetzen abgelöst, die wie aneinandergereihte gotische Gewölbe auf das Fahrzeug zurollten, später, bei höherer Geschwindigkeit, wie die berühmten bandgeometrischen Figuren. Er versuchte, dem Phänomen mit den Scheinwerfern beizukommen, aber das nützte nichts. Er mußte langsamer fahren. Er mußte versuchen, ruhig zu bleiben.

    Ab und zu wurde er von selbstsicheren Fahrern überholt, die den Blick starr geradeaus in den Nebel gerichtet hielten, in der Gewißheit, so vor Überraschungen gefeit zu sein.

    Leo dachte an die Zukunft. Sie war nicht lang. Sie umfaßte, was ihn betraf, höchstens vierundzwanzig Stunden, im besten Fall zwei Tage. Darüber hinaus schien ihm die Zukunft eine Reihe von Stationen, zu denen man eine Verbindung herstellen mußte, solange man noch nicht in ihrer Nähe trieb. Er würde sich erst einmal krank melden, sobald er nach Hause kam, dann würde er im Kamin Feuer machen und sich den Morgenrock anziehen, schließlich würde er sich aufs Sofa legen und dem Glück auf die Spur kommen. Er würde sich das Vergnügen gönnen, die kleine Geschichte vom Tambour zu Arcole zu lesen – wieder einmal –, wo der Junge mitten in der Schlacht mit seiner Trommel durch den Fluß schwimmt, die Österreicher umgeht und dann lostrommelt, so daß sie glauben müssen, die Franzosen seien nicht nur vor, sondern auch hinter ihnen, und flüchten. Eine gute Idee, einfach eine gute Idee. Sein ganzes Leben lang erzählte der Tambour diese Geschichte, jedesmal mit ein wenig veränderten Einzelheiten.

    Später würde er Rosa anrufen und sich entschuldigen. Er könne heute nicht kommen und seinen Zahn behandeln lassen. Er bitte sie, statt dessen ihn zu besuchen. Er vermisse sie. Doch sie sollte nur kurze Zeit bleiben, denn er wollte einmal einen Abend allein verbringen. Und wenn Viola plötzlich nach Hause kam? Dann mußte er eben die nächste Gelegenheit abwarten.

    Leo dachte an die Vergangenheit. Die ließ sich genau umreißen. Sie war kurz, aber reich, und sie hatte ganz sicher vor zwei Tagen begonnen. Alles, was davor lag, waren Voraussetzungen.

    Vorgestern, dachte er, das war dieser Februartag, an dem sich die Sonne wie eine Schußwunde am Himmel gezeigt hatte, höchstens eine halbe Stunde. Er war im Dunkeln aufgestanden, hatte das Kaminfeuer angezündet, den Frühstückskaffee gekocht, sich in die Stube gesetzt und angefangen, ein Buch zu lesen. Um diese Zeit konnte er unbegrenzt und unsichtbar mit den Menschen verkehren. Dachte er morgens an eine Frau, würde sich ihr Mann nicht einmal im Bett umdrehen, doch um den Mund der Frau würde ein hübsches Lächeln spielen. Er sprach auch mit seinen alten, fernen Freunden – alle Freunde sind fern. Morgens fiel es ihnen plötzlich leichter, sich zu vertragen. Es war, als eilten sie durch eine Stadt über die ein Ausgangsverbot verhängt war, und hätten keine Zeit zu verlieren.

    Die Morgenstunde war vorgerückt. Er hatte die Glut im Kamin zusammengeschoben und seinen Kaffee getrunken, er hatte gelesen, mit vielen Unterbrechungen, wenn ihn ein Gedanke gefangennahm. Als es dämmerte, hatte sich der Himmel ein wenig aufgehellt. Es war kälter geworden, und die Nebelfetzen hatten sich zusammengezogen wie eine zornige Augenbraue. Die Sonne war hervorgekrochen, ohne daß er es bemerkte. Sie hatte plötzlich über der Fernsehantenne von Matthäus gestanden und so fremd ausgesehen, daß er hinaus auf die Terrasse gegangen war, um sie zu betrachten. Je höher sie stieg, desto dichter wurde der Nebel. Das hatte er deutlich feststellen können. Eine halbe Stunde lang war es möglich gewesen, das Wohnviertel zu betrachten. Die Autos rollten mit gezogener Starterklappe davon, und die Mütter mit dem Kleinsten auf dem Arm winkten dem wegfahrenden Erzeuger von der Treppe aus nach. Die Hochhäuser am südlichen Höhenzug standen horchend einander zugeneigt da. Die Altstadt unten im Tal mit den Schloten der unrentablen Maschinen- und Textilindustrie sah roter aus als sonst.

    Dann war die Sonne in ihrem eigenen Dunst erstickt, im Hafen draußen hatten die Nebelhörner losgebrüllt, die Abblendlichter der Autos schlichen auf den Straßen dahin. Nach dem ersten Husten war er hineingegangen.

    Viola war inzwischen aufgestanden. Er hatte für sie Tee aufgegossen, Brot getoastet, Eier gekocht und eine Grapefruit halbiert, er hatte die Zeitung geholt und hingelegt und sich dann fertiggemacht; er wollte gehen, sobald sie auftauchte. Da sie auf sich warten ließ, hatten sie durch einen Spalt in der Badezimmertür vereinbart, sich am Nachmittag bei einem Autohändler in der Stadt zu treffen. Viola hatte sich dort ein neues Auto gekauft, einen hellblauen Sportwagen, obwohl sie lange den großen Caravan umkreist hatte – weil er so praktisch war.

    Er hatte seinen Tag begonnen. In der Toreinfahrt des Altersheims, wo er seinen Wagen geparkt hatte, standen Männer, die sich die Mäntel zuknöpften, bevor sie in Richtung Stadt davongingen; andere standen einfach da und sahen sich um. Er war an der Mauer mit den zerrissenen Wahlplakaten und den großen Kreideaufrufen entlanggegangen, am Bäcker mit den Pyramiden von Frühstücksbrötchen vorbei, am Blumengeschäft mit den grünen Kränzen und am Begräbnisunternehmen mit den stilvollen Urnen, am orthopädischen Schuhmacher mit seinem Kellerfenster voller Pornographica vorbei und am Kolonialwarengeschäft mit dem billigsten Kirschwasser- und Kaffeeangebot der ganzen Stadt. Dann war der kleine Park gekommen mit seinem dichten Rasen und den Hängebirken im Nebel, dann der gelbe Block mit den Rentnerwohnungen und den Wellblechbalkons, wo die Weihnachtsbäume, die keine Müllabfuhr holen wollte, mit den Spitzen über den Rand schauten, bis sich eine Gelegenheit ergab, sie mit aufs Land oder in einen Garten zu nehmen.

    Im obersten Stockwerk links hatte er geläutet, und in der Wohnung hatte ein Mann laut: «Herein» gerufen.

    «Sind Sie es, Herr . . .» hatte der Mann gesagt, Leo die Hand gereicht und ihn gemustert. Er trug eine schwarze Brille; in dem einen Glas war eine starke Lupe eingeschliffen, die es ihm ermöglichen sollte, sich durch das Buch, das vor ihm lag, zu buchstabieren, wenn er es im richtigen Abstand hielt.

    «Jaja, Herr Belinsky», hatte Leo geantwortet. «Sie haben Unannehmlichkeiten gehabt mit unseren Leuten, wenn ich das richtig verstanden habe?»

    «Ach, ich weiß nicht», sagte Belinsky. «Sie wollen ja alle mein Bestes, besonders nach dem Tod meiner Frau, und ganz besonders diese Dame von Ihnen: ‹Warum ziehen Sie nicht um, Belinsky? Sie würden es viel besser haben. Sie kommen alleine nicht zurecht !› Ich kann diesen Leuten einfach nicht klarmachen, daß ich mein Privatleben behalten will.

    Viele glauben nicht, daß man so etwas überhaupt hat. Wenn man lange auf einer Bank sitzt, in einem Park oder auf einem Hinterhof, weil man müde ist oder bloß, um nachzudenken oder weil die Sonne scheint und wenn man nicht gut sieht, dann ist man ein Opfer. Dann setzt sich jemand auf die Bank, sag’ ich Ihnen, und aus Mitleid reden sie mit einem, und es gibt viele, die selbst schon ein bißchen ins Alter gekommen sind, die gerne etwas für einen tun. Glauben Sie bloß nicht, daß wir völlig fertig sind. Die können leicht Hilfe anbieten, weil sie die Stärkeren sind, das ist nett von ihnen, man ist der Schwächere, und man hat überhaupt nichts dagegen, wenn so eine Dame einen mit sanfter Hand am Arm nehmen und ein Stück begleiten will. Das kann leicht Folgen haben, sehr leicht.» Belinsky räusperte sich. «Es ist ja ein großes Elend, wenn man damit ganz allein ist.» Er sah sich im Zimmer um und summte dabei vor sich hin. «Gehen Sie mal in die Küche», sagte er dann.

    In der Küche hatte Leo eine kleine, alternde Frau angetroffen, die eine geblümte Schürze trug und Kartoffeln schalte. Sie warf Leo einen scheuen Blick zu und trat leicht hinkend zur Seite.

    «Oh», sagte Leo, «so steht es also. Aber das ist doch ausgezeichnet.»

    «Ja, das ist ausgezeichnet.» Sie errötete.

    Belinsky rief herüber: «Verstehen Sie nun das Ganze?»

    «Nicht das Ganze», antwortete Leo und nickte der Frau zu. Er ging in die Stube zurück und wiederholte: «Nicht das Ganze.»

    «Die Dame, die Sie sahen, wohnt bei mir. Wir wollen heiraten, aber das wird noch zwei, drei Monate dauern. Sie wohnt in einer anderen Wohnung des Blocks, weiter drüben und weiter unten, weil sie nicht so gut Treppen steigen kann. Nun ist es so, daß ihr Mann noch nicht gestorben ist, er liegt im Krankenhaus. Es zieht sich lange hin, aber es ist völlig hoffnungslos. Es geht mit ihm bloß so langsam. Der Arme. Und deshalb können wir noch nicht gleich heiraten, aber welche Wohnung können wir sofort bekommen? Ich kann hier als Alleinstehender nicht wohnen bleiben, heißt es.»

    «Das Einfachste wäre, wenn Sie zu der Dame hinunterziehen», sagte Leo.

    «Das wäre wohl nicht gerade das Richtige. Dem Mann gegenüber», sagte Belinsky. «Doch für uns? Wir leben ja auch nicht ewig, und wir mögen einander. Aber die Nachbarn haben gedroht, sie würden es dem Mann erzählen.»

    «Ziehen Sie hinunter, und dann warten wir ab, was geschieht», schlug Leo vor.

    «Man hätte ja gern etwas Sicheres gewußt, so daß man sich danach richten kann», hatte Belinsky gesagt.

    Leo war aufgestanden und hatte sich verabschiedet. Als er hinausgegangen war, hatte Belinsky die Hand zu einem Gruß erhoben, eine Geste, die nicht zu beantworten war.

    Das war überstanden, und er war wegen der Wurzelbehandlung zu Rosa gegangen; danach ins Büro, um den Bericht über die Belinsky-Sache zu diktieren, der bei einer Abteilungskonferenz vorgelegt werden sollte, damit man in Zukunft etwas beweglicher vorgehen konnte. Danach hatte er mit

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