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Tagebuch aus Washington 2
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eBook305 Seiten4 Stunden

Tagebuch aus Washington 2

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Über dieses E-Book

In dem zweiten Teil dieser Reihe setzt Thilo Koch seine Erzählung im Jahre 1962 fort. Dies war sowohl sein zweites Jahr in Washington, als auch Kennedys zweites Jahr als Präsident. Aus der Sicht des deutschen Reporters, lernt der Leser die Zeit der Kuba-Krise in Beziehung zu Kochs Heimatsland Deutschland kennen. Dabei versucht der Reporter das Gleichgewicht zwischen Distanz und Verständnis zu finden, was ihm in diesem Buch sehr gut gelingt und einen detaillierten Einblick in die Politik jenen Jahres erlaubt.Die Ära Kennedy hatte Thilo Koch vollständig als Journalist begleitet, da er für den ARD Korrespondent in Washington war. In dieser Reihe erzählt Koch über diese Ära aus der Sicht eines deutschen Journalisten. Der Autor bleibt stets sachlich bei seiner Berichtserstattung, jedoch ist gleichzeitig seine eigene Einstellung zu den Geschehnissen in den USA deutlich, was der Buchreihe ihren ganz eigenen Charme verpasst. Der Journalist lädt den Leser ein, in die damalige Zeit einzutauchen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum19. Aug. 2019
ISBN9788711836101
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    Buchvorschau

    Tagebuch aus Washington 2 - Thilo Koch

    Koch

    2. Januar 1962

    Das Beste, was man über das alte Jahr sagen kann, ist: Wir überlebten. Diese einleuchtende Summe zog, wie man hier in Washington hört, ein führender amerikanischer Diplomat zum Jahresende in Moskau. Möglicherweise war es Botschafter Llewellyn Thompson selbst, der das neue Jahr schon heute mit einer ersten amerikanischrussischen Besprechung über Berlin begann. Das Weiße Haus und das amerikanische Außenministerium werden zur Stunde schon einiges wissen über den Verlauf dieses ersten Ost-West-Kontaktes im Jahre 1962. Wir brauchen nicht sehr besorgt darüber zu sein, daß uns der diplomatische Meinungsaustausch zunächst noch verborgen sein wird. Es sind keine dramatischen, grundstürzenden Ereignisse für Mitteleuropa zu erwarten. Beide Seiten haben sich in Berlin so festgebissen, daß nur sehr allmählich und über Umwege eine Lösung denkbar erscheint.

    Gerade die Politik des Präsidenten John Kennedy hat sich auf diesen Charakter der Weltsituation eingestellt. Zum Jahreswechsel verlautete einiges aus Palm Beach in Florida, wo Kennedy mit seiner Familie und in der Nähe seines kranken Vaters die Feiertage verbrachte – einiges über die Art, wie John Kennedy das abgelaufene Jahr beurteilt. Er sieht sich bestätigt in seiner Erwartung, daß weder schnelle Siege noch überraschende Niederlagen in den Sternen stehen. Kennedy glaubt auf Grund der umfassenden Informationen, die ihm – und wohl nur ihm – zur Verfügung stehen, daß der Westen wirtschaftlich und militärisch noch immer dem Osten überlegen ist. Aber doch nicht so, daß der Westen auf der Welt tun könnte, was er will. Das Geheimnis des Gleichgewichts der Kräfte liegt nach Auffassung des amerikanischen Präsidenten darin, daß die Machtblöcke ihre vitalen Interessen gegenseitig respektieren. Dazu gehört, daß sie die andere Seite über die genaue Beschaffenheit und auch Lokalisierung dieser vitalen Interessen nicht im un-klaren lassen. Es war infolgedessen das Bestreben Kennedys, die Russen vor allem erst einmal davon zu überzeugen, daß West-Berlin zu der vitalen Interessensphäre der Vereinigten Staaten gehört. Kennedy kam aus Wien von seiner ersten Begegnung mit Chruschtschow verhältnismäßig deprimiert zurück, weil er plötzlich sehr persönlich die Schwierigkeit dieser Aufgabe erkannt hatte. Ein gutes halbes Jahr nach Wien glauben sich aber die führenden Politiker in Washington zu der Annahme berechtigt, daß Moskau inzwischen besser verstanden hat, wie ernst die Vereinigten Staaten ihre vitalen Interessen zu verteidigen bereit sind. Mehr als 150 000 amerikanische Reservisten wurden einberufen, und mehr als 40 000 amerikanische Soldaten verstärkten die NATO-Truppen in Europa. Der amerikanische Steuerzahler mußte im laufenden Haushaltsjahr zusätzliche Verteidigungslasten in Höhe von sechs Milliarden Dollar übernehmen. Das sind 24 Milliarden DM, etwa doppelt soviel, wie die Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Jahr überhaupt für Verteidigung aufbrachte. Die gesamten Verteidigungsausgaben der Vereinigten Staaten erreichten die unvorstellbare Größenordnung von 50 Milliarden Dollar, also 200 Milliarden DM, etwa viermal soviel, wie der gesamte Haushalt der Bundesrepublik ausmacht.

    Die innenpolitische Kritik am jungen Präsidenten gipfelte im vergangenen Jahr in dem Satz: »Er spricht wie Churchill, aber er handelt wie Chamberlain.« John Kennedy liest aufmerksam die Zeitungen und reagiert auf öffentliche Kritik mehr, als nach außen sichtbar wird, empfänglich und manchmal sogar empfindlich. Der Vergleich mit jenem englischen Premierminister, der Hitler gegenüber diplomatisch kapitulierte, hat ihn – wie man hört – getroffen. Er ist auch ungerecht. Gewiß, der 44jährige Präsident hatte im ersten Jahr bittere Lehren einzustecken. Die Affäre Kuba steht an der Spitze. Es berührt sympathisch, daß Kennedy auch bei seinen Meditationen über das Jahr 1961 sein persönliches Versagen in der Entscheidung über die Kubainvasion nicht beschönigt. Aber tatsächlich kamen viele unglückliche Faktoren zusammen, und auch ein Präsident mit mehr Erfahrung hätte vielleicht der überwiegend falschen Beurteilung der Lage durch die Militärs, die politischen Berater und den Chef des Geheimdienstes nicht kräftig genug widersprochen. Daß die Vereinigten Staaten und mit ihnen die gesamte NATO am Ende des vergangenen Jahres militärisch zweifellos stärker und auch entschlossener den Herausforderungen überall in der Welt gegenüberstehen, ist Kennedys Verdienst und der beste Beweis dafür, daß er weit davon entfernt ist, etwa aus Berlin ein zweites München zu machen.

    Vielleicht hatte Chruschtschow das gehofft, und in Washington hält man es für möglich, daß die allgemeine Verschlechterung der Beziehungen zu Moskau teilweise auf die Enttäuschung des sowjetischen Premierministers über den neuen amerikanischen Präsidenten zurückgeführt werden könne. Präsident Kennedy ist zweifellos keine aggressive Natur; an Zähigkeit und an Vorsicht bei der Anwendung extremer Macht wird er nicht so leicht von einem anderen regierenden Staatsmann dieser Jahre übertroffen werden können. Chruschtschow scheint den Mann an der Spitze der Gegenseite heute richtiger einzuschätzen als vor einem Jahr. Es ist bemerkenswert, daß die Grußbotschaften, die Kennedy und Chruschtschow austauschten, höflich und hoffnungsvoll gehalten sind. Es gibt hier auch Stimmen, die es für wahrscheinlich halten, daß Kennedy in diesem Jahre Chruschtschow in Moskau besuchen wird. Das Interview, das Kennedy dem Chefredakteur der sowjetischen Zeitung Iswestija gab, war ein großer Erfolg in der Sowjetunion. Es läge ganz in der Natur des Präsidenten, wenn er diesen Erfolg durch persönliche Wirkung in der Sowjetunion selber fortsetzen und vergrößern möchte. Er würde damit nachholen, was Chruschtschow dem Präsidenten Eisenhower im Zusammenhang mit der U-2-Affäre 1960 verweigerte.

    Zum Schluß möchte ich einen Punkt aus den Jahresrückblick-Betrachtungen Kennedys herausgreifen, der uns in Deutschland und besonders die Berliner angeht. Der Präsident soll über die Mauer folgendes denken: Der Westen war am 13. August praktisch nicht in der Lage, die Abriegelung des Sowjetsektors gegen die Westsektoren zu verhindern. Es wäre wahrscheinlich möglich gewesen, durch Einsatz von Panzern den ersten Stacheldraht der Volkspolizei niederzuwalzen. Das Risiko einer ernsthaften militärischen Verwicklung mit sowjeti-schen Truppen lag auf der Hand. Selbst aber, wenn der Westen dieses Risiko auf sich genommen hätte, wäre die Abriegelung nicht zu vermeiden gewesen; denn die Kommunisten hätten dann ihren Wall nur hundert Meter weiter zurück, innerhalb des Sowjetsektors, zu errichten brauchen. Der Versuch indessen einer Aufrechterhaltung des Viermächtestatus in der Form des Eindringens westlicher Truppen in den Sowjetsektor hätte Krieg bedeutet. Kennedy glaubt, daß die Mauer vor aller Welt ein Eingeständnis kommunistischer Unfähigkeit ist. Sie ist zum sichtbarsten Ausdruck geworden der Absurdität totalitaristischer Herrschaftsform.

    3.Januar 1962

    Der Golf von Mexiko, die Karibische See liegen für die Vereinigten Staaten so nahe wie die Nordsee für Deutschland. Allein diese geographische Überlegung zeigt schon, wie wichtig politische Vorgänge an dieser Südflanke der USA für Washington sind. Präsident Kennedy gab heute bekannt, daß er demnächst Mexiko besuchen wird, nachdem er schon Venezuela und Kolumbien kurz vor Weihnachten persönlich aufsuchte. Fidel Castros gestrige Erklärungen und die Forderungen des mittelamerikanischen Staates Guatemala auf das britische Gebiet Honduras gehören in diesen Problemkreis.

    Am 22. Januar werden die Außenminister der Organisation der Amerikanischen Staaten Zusammentreffen, um über die Bedrohung der ganzen amerikanischen Hemisphäre durch den Kommunismus, repräsentiert durch das Kuba Castros, zu beraten. Dr. Castro ist darüber empört und kündigte eine Massenversammlung an als Protest gegen den US-Imperialismus und dessen Lakaien, wie er sich ausdrückte. Castro war ursprünglich kein Kommunist, erklärte aber vor kurzem öffentlich, daß er sich nunmehr zum Marxismus-Leninismus bekenne, und die Sprache, die er spricht, bedient sich seither mehr und mehr sowjetischer Wendungen. Castro übt seit dem Sieg seiner Volkserhebung vor drei Jahren eine gewisse Anziehungskraft auf Volksbewegungen des mittel- und südamerikanischen Festlandes aus. Diese Anziehungskraft hat sich durch sein demonstratives Bekenntnis zur Moskauhörigkeit vermindert. Das ist der Hintergrund für seine neuen Propagandatiraden.

    Castros Rede gestern in Havanna war begleitet von einer Militärparade. Sowjetische MIG-Düsenjäger, Stalinorgeln und viele andere Waffen aus dem Ostblock wurden gezeigt. Castro soll zur Zeit über eine Armee von 300 000 Mann verfügen. Das wäre nahezu die Stärke der deutschen Bundeswehr. Fidel Castro versicherte gestern auch, daß jeder Angreifer künftig bis zum letzten Mann ausgerottet werden würde. Er soll sich zunehmender Sabotageaktionen auf seiner Insel gegenübersehen. Infolgedessen will er Kuba, wie er sagte, bis an die Zähne bewaffnen.

    Tatsächlich führte Castro die Kubaner in große wirtschaftliche Schwierigkeiten hinein. Der Abbruch der Beziehungen mit den Vereinigten Staaten war eine gefährliche Operation. Die Sowjetunion nimmt seither zwar das kubanische Nationalprodukt, den Zucker, ab und liefert dafür hauptsächlich Öl, aber die kubanische Wirtschaft braucht von der Außenwelt mehr als nur Öl. Die Industrie ist mit amerikanischer Ausrüstung aufgebaut worden. Ersatzteile, Verbesserungen und Erweiterungen auf dieser Basis könnten nur aus den benachbarten Vereinigten Staaten kommen. Selbst wenn der Ostblock bereit wäre, große Opfer für Kuba zu bringen, was nicht einmal der Fall ist, würde es viele Jahre dauern, bis die kubanische Wirtschaft so an die kommunistischen Hilfsquellen angeschlossen wäre, wie das heutzutage etwa für ein Land wie Rumänien zutrifft.

    Zwischen der Hoffnung, daß Kuba für den Westen zurückgewonnen werden kann, und der Sorge, daß andere karibische Inseln und schließlich kleinere und größere Staaten des lateinamerikanischen Festlandes den Weg Kubas gehen könnten, bewegt sich die Politik Washingtons hinsichtlich der gesamtamerikanischen Probleme. Die Kennedy-Regierung nimmt Lateinamerika ernst. Sie hat mit der Kuba-Invasion einen schlimmen Fehler gerade auf diesem Gebiet begangen. Um so mehr ist der Präsident bestrebt, die problematische Vergangenheit der amerikanischen Nord-Süd-Spannungen hinter sich zu lassen. Kennedy wird im kommenden Jahr keine Anstrengung scheuen, diese Spannungen zu vermindern. Dabei dient ihm Castro als Ansporn.

    4. Januar 1962

    Die amerikanisch-sowjetischen Berlingespräche in Moskau finden in Washington eine sehr aufmerksame Interpretation. Charles Bohlen, der Spezialist des amerikanischen Außenamtes für sowjetische Angelegenheiten, unterrichtete gestern die Botschafter Großbritanniens, Frankreichs und den Vertreter des deutschen Botschafters in Washington über die geheimen Berichte, die der amerikanische Botschafter in Moskau, Llewellyn Thompson, über seinen ersten Kontakt mit Sowjetaußenminister Gromyko übermittelte. Aus derselben Quelle kommen vermutlich ausführliche Berichte und Spekulationen heute in den großen amerikanischen Zeitungen. Danach ergibt sich folgendes Bild.

    An eine eigentliche Lösung des Berlinproblems sei im Augenblick nicht zu denken. Es gehe mehr darum, daß man einen Modus vivendi, einen Zustand des »Lebens und Lebenlassens« für Berlin aufrechterhalte. Diese Situation ließe es möglich und vielleicht zweckmäßig erscheinen, daß die beiden hauptsächlich in Berlin engagierten Großmächte, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, ein zweiseitiges Arrangement träfen. Es würde sich dabei nicht um einen Vertrag oder um die Formulierung eines neuen Status für Berlin handeln, sondern mehr um ein zweiseitiges Abgrenzen der vitalen Interessen. Die USA würden bei einem solchen Arrangement dem sowjetischen Interesse nach der Stabilisierung, der De-facto-Anerkennung ihres ostdeutschen Satelliten, der DDR, Rechnung tragen. Die Sowjetunion würde sich stillschweigend verpflichten, Westberlin und den Zugang nach Westberlin nicht anzutasten. Das wäre praktisch der Status quo – nur daß in den Stromkreis der Berlinspannungen eine Sicherung eingebaut wird, die den Kurzschluß verhindern würde, den beide Großmächte ernstlich zu fürchten haben: den Ausbruch militärischer Verwicklungen in Mitteleuropa, mit der zwangsläufigen Folge eines Atomkrieges auf Leben und Tod.

    Es ist ganz und gar nicht ausgemacht, daß die Dinge diesen Lauf nehmen. Ich würde sagen, die Amerikaner hätten wahrscheinlich nicht viel dagegen einzuwenden. Sie haben so komplizierte Sorgen im Lande, in Südamerika, in Afrika und Asien, daß ein Einfrieren der gefährlichsten Unruhe, eben der Krise in Berlin, sie erleichtern müßte. Das darf niemand verwechseln mit einem Disengagement, mit einem Abrücken von übernommenen Verpflichtungen. Aber der derzeitige amerikanische Präsident hat es oft genug und deutlich genug ausgesprochen, daß er die Existenz der amerikanischen Nation zwar mit der Freiheit der Westberliner identifiziert, nicht aber mit dem Ringen um die Wiedervereinigung Deutschlands. Zweifellos wäre auch dem Präsidenten die Ideallösung »Berlin, Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschlands« am liebsten. Da sie zur Zeit unerreichbar ist, hätte er sicherlich einen Vertrag über einen neuen, klaren Status für Berlin vorgezogen gegenüber jener stillschweigenden Nichtangriffsvereinbarung, die im Augenblick das einzige zu sein scheint, was erreichbar wäre.

    Erreichbar auch nur dann, wenn die Russen mitspielen. Wir müssen einfach abermals abwarten, ob die gegenwärtig praktizierte Geheimdiplomatie weiterführt. Daß die Botschaftergespräche eines Tages zur Außenministerkonferenz führen, ist auch durchaus nicht sicher. Und die immer wieder auftauchende Möglichkeit einer zweiten Begegnung Kennedy-Chruschtschow? Sie ist trotz der Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Großmächten im vergangenen Jahr nicht unwahrscheinlich. Beide Regierungschefs haben eine recht positive Vorstellung von der Kraft ihrer persönlichen Wirkung. In Washington hörte man zum Jahreswechsel viel über die inneren Schwierigkeiten, denen sich der Führer der Sowjetunion gegenübersehe. Die Fortschritte in der wirtschaftlichen und auch politischen Einigung Europas, die Stärkung der NATO-Streitkräfte seien ernste außenpolitische Sorgen Moskaus. Infolgedessen sei auch Chruschtschow an einem Arrangement mit Kennedy interessiert.

    Für unser Berlin bedeutet das alles: Es ist keine grundlegende Verbesserung der Situation in Sicht. Gerade das vergangene Jahr aber und auch die neuesten Ost-West-Gespräche erweisen, daß es andererseits zu keiner grundstürzenden Verschlechterung kommen kann. Berlin bleibt also in der Schwebe, und gerade hier in Washington fragt man sich mit wachsender Besorgnis, ob die Stadt, für die man politisch und militärisch einsteht und die wirtschaftlich durch die

    Bundesrepublik garantiert wird, unter all diesen Umständen psychologisch gehalten werden kann.

    9. Januar 1962

    »Er sieht aus wie der Wohlstand persönlich« – dieses Wort über den deutschen Bundeswirtschaftsminister wird heute in der amerikanischen Presse zitiert. Professor Ludwig Erhard findet bei seiner Anwesenheit dieser Tage in Washington eine betont freundliche Aufnahme. In einem Porträt der New York Times wird hervorgehoben, daß Erhard während der Hitlerjahre sich weigerte, in die NS-Arbeitsfront einzutreten, und seine Stellung verlor. Diese kleine Anmerkung zeigt, wie aufmerksam die Amerikaner stets die politische Vergangenheit deutscher Politiker im Auge behalten – auch wenn das offiziell nicht hervortritt.

    Gestern abend hat Minister Erhard den amerikanischen Präsidenten ausführlicher gesprochen, als es vorgesehen war. Ursprünglich stand keine offizielle Begegnung auf dem Plan. Tatsächlich unterhielt sich Kennedy mit Professor Erhard etwa anderthalb Stunden. Das ist viel, gemessen an der sehr knappen und präzisen Zeiteinteilung des Weißen Hauses. Der Bundeswirtschaftsminister berichtete uns gestern abend, daß er während der siebzehn Jahre, die er jetzt in der Politik arbeite, selten einen Regierungschef getroffen habe, der so genau über wirtschaftspolitische Zusammenhänge informiert gewesen sei wie der derzeitige amerikanische Präsident. Kennedy habe ihm wohlüberlegte, präzise Fragen gestellt, und er, Erhard, hätte den Präsidenten nur ermuntern können, die geplante neue handelspolitische Aktivität zu entfalten.

    Dabei handelt es sich natürlich vor allem um die von Kennedy beabsichtigte Senkung der amerikanischen Einfuhrzölle. Professor Erhard weiß, daß Kennedy seine neue Zollpolitik dem amerikanischen Parlament, dem Kongreß, vorlegen muß. Der deutsche Wirtschaftsminister als das Symbol des deutschen Erfolges mit einer freien Marktwirtschaft wurde nach Washington gebeten, weil die Kennedy-Regierung die Zustimmung und Unterstützung eines führenden europäischen Fachmannes gerade in den kommenden Auseinandersetzungen mit dem Parlament gut gebrauchen kann.

    Professor Erhard sieht in einer Senkung des Außentarifs für die Länder des gemeinsamen europäischen Marktes eine der Möglichkeiten, von Europa her den liberalen wirtschaftspolitischen Kurs der amerikanischen Demokraten zu unterstützen. Erhard ist führender Politiker der deutschen Rechtspartei CDU, und die Demokraten sind die amerikanische Linkspartei. Die wirtschaftspolitische Übereinstimmung einer gemäßigten europäischen Rechten und einer liberalen amerikanischen Linken zeigt, wie wenig wir heutzutage noch mit alten politischen Begriffen anfangen können. Minister Erhard liebt es, die ökonomische Praxis in historisch-politische und philosophische Perspektiven zu rücken. So sagte er gestern in Washington, er sei gegen eine europäische Inzucht. So wie 1948 der Marshall-Plan Europa wirtschaftlich wiederbelebte, so sei heute der richtige Zeitpunkt für größere weltpolitische Entwicklungen. Erhard würde sicherlich einen transatlantisch gemeinsamen Markt für das Richtigste halten, obwohl er das hier nicht ausdrücklich sagte. Er weiß, daß selbst die fortschrittlichsten Kennedy-Berater noch nicht so weit gehen. Professor Heller zum Beispiel, der Spezialist des Weißen Hauses für wirtschaftspolitische Planung, oder George Ball, ein Wirtschaftspolitiker, der seit kurzem stellvertretender amerikanischer Außenminister ist, sind in diesen Tagen die wichtigsten Gesprächspartner des deutschen Bundesministers. Sie werden ihm sagen, daß das amerikanische Volk, daß der Kongreß für wirtschaftspolitische Perspektiven dieser Art nicht oder noch nicht zugänglich sind.

    Walter Lippmann, dessen Gedanken einen großen Einfluß ausüben, schreibt heute, daß zweierlei für die Vereinigten Staaten außenpolitisch neu und im Grunde in diesem Lande noch unbegriffen sei: die Tatsache, daß man es bei der Sowjetunion zum erstenmal in der Geschichte Amerikas mit einem wahrscheinlich ebenbürtigen Gegner zu tun hat, der imstande ist, das amerikanische Festland selbst anzugreifen – und zweitens, daß ein vereinigtes Westeuropa in wenigen Jahren eine wirtschaftliche Macht sein wird, die auf allen Gebieten den Vergleich mit der bis dahin einsamen Spitzenposition der amerikanischen Wirtschaft aushalten werde. Lippmann glaubt, daß die Kennedy-Regierung diese grundsätzlich neue Lage erkannt habe, daß aber das Volk und der Kongreß psychologisch noch längst nicht darauf vorbereitet seien, eine Welt zu akzeptieren, in der der absolute amerikanische Führungsanspruch auf allen Gebieten nicht länger gerechtfertigt ist.

    Minister Erhard ist hier auch danach gefragt worden, ob in den neuesten sowjetrussischen Hinweisen auf die Möglichkeiten eines stärkeren deutschen Osthandels für die Bundesrepublik eine Versuchung liegen könnte. Erhard sagte, daß vom gesamten Außenhandel der Bundesrepublik nur 4 Prozent auf den kommunistischen Ostblock entfallen, während 96 Prozent in die Länder des Westens oder in neutrale Länder gehen. Weniger präzis äußerte sich Erhard über Größenordnungen bei der Entwicklungshilfe. Er betonte, daß er persönlich in der Entwicklungshilfe eines der wichtigsten Ziele des westlichen, besonders aber des deutschen Wirtschaftspotentials sehe. Ludwig Erhard hatte dafür auch eine völkerpsychologische Erkenntnis bereit, indem er sagte, es müsse den Deutschen etwas gegeben werden, über das sie, abgesehen von ihrem eigenen Wohlergehen, nachdenken könnten, denn die Deutschen seien nicht glücklich und könnten gefährlich werden, wenn sie nicht irgendeine Art von Abenteuer im Auge haben dürften, das sie beschäftige. Anscheinend sieht Professor Erhard in der Entwicklungshilfe eine positive Spielart von Abenteuer. Auf die Zahl von einem Prozent des Sozialprodukts für Entwicklungshilfe wollte er sich aber nicht festlegen lassen. Natürlich kam auch Berlin zur Sprache. Aus dem Munde des Bundeswirtschaftsministers mögen die Amerikaner besonders gern gehört haben, daß es kein wirtschaftliches Problem sei, Westberlin zu halten. Die Vereinigten Staaten haben zur Zeit rund vier Millionen Arbeitslose. In Westberlin, sagte Erhard, sehen wir uns einem fühlbaren Arbeitskräftemangel gegenüber. Vor allem muß Berlin moralisch geholfen werden, betonte Erhard, aber es wurde nicht bekannt, ob er dafür entweder konkrete Vorschläge machen oder von amerikanischer Seite hören würde.

    Um Berlin ging es ausschließlich in einigen anderen Gesprächen der letzten Tage hier in Washington. General Lucius D. Clay kam herübergeflogen und sprach hier am Sonntag den Präsidenten, nachdem er mit dem Außenminister und anderen Persönlichkeiten geredet hatte. Es sieht von hier aus betrachtet so aus, als ob die kurze Reise Clays in Deutschland überbewertet wurde. Clay ist, wie man seit den Zeiten der Luftbrücke weiß, ein selbständiger Kopf und ist gewiß nicht nach Berlin gegangen, um seinen direkten Draht zu Kennedy nicht zu benutzen. Es muß notwendigerweise einem militärisch denkenden Mann unheimlich Vorkommen, wenn er täglich praktisch sieht, wie verschlungen die Wege der Information und der Konsultation und selbst der Befehlsübermittlung im Felde zwischen Sektorengrenze in Berlin und Washington, London, Paris, Bonn sind. Es kann nur nützlich sein, wenn ein Mann wie Clay Gespräche darüber führt, wie die Entscheidungsgewalt etwa des amerikanischen Stadtkommandanten in Berlin, des amerikanischen Botschafters in Bonn, des politischen Leiters der amerikanischen Mission in Berlin gegeneinander vernünftig abgegrenzt und in eine funktionierende Beziehung zur Zentrale in Washington gestellt werden können. Bei der manchmal explosiven Situation in Berlin spielt unter Umständen sogar eine so banale Tatsache wie der Zeitunterschied von sechs Stunden zwischen Berlin und Washington eine Rolle. Denn wenn morgens um acht an der Mauer etwas passiert, ist es hier bei uns zwei Uhr nachts, und die Männer, die weittragende Entscheidungen fällen sollen, müssen erst geweckt werden. Washington ist zum Treffpunkt für Unterhandlungen geworden, von denen Schritt für Schritt die Zukunft der westlichen Welt abhängt. Das gilt auch für die beiden interessanten Besuche dieser Tage: die Besprechungen Bundesminister Erhards und General Clays in der amerikanischen Hauptstadt.

    12. Januar

    Winnetou, wenn er heute lebte, könnte reich werden. Mehr und mehr Indianer führen Prozesse, in denen sie den amerikanischen Staat verklagen auf Schadenersatz oder Abgeltung für Land, das ihnen genommen wurde. 596 solcher Prozesse sind gegenwärtig anhängig und in 28 Fällen, die bisher abgeschlossen wurden, bekamen die Kläger, also die Indianer, bereits die stattliche Summe von 37 127 116 Dollar zugesprochen.

    Winnetou, lebte er heute, könnte seinen Prozeß anstrengen auf Grund der Tatsache, daß er American Citizen, amerikanischer Bürger wäre. Seit 1924 nämlich genießen auch die Indianer in den Vereinigten Staaten dieses stolze Vorrecht. Sie sind trotzdem weit von einer Integration ins bürgerliche Leben der Vereinigten Staaten entfernt. Trotz der Summe von 37 Millionen Dollar sind die meisten Indianer arm. Sie leben in den Reservationen des immer noch wilden amerikanischen Westens, sprechen zumeist ihre eigene Sprache, ohne Englisch zu können oder zu lernen.

    Das soll nun alles anders werden. Die Kennedy-Regierung scheint entschlossen zu sein, mit den Bürgerrechten für Neger und auch für Indianer Ernst zu machen. Das geht natürlich nur Schritt für Schritt. Die erfolgreichen Prozesse der Indianer sind solche Schritte. Im Innenministerium hier in Washington gibt es eine Abteilung für indianische Angelegenheiten. Dort werden die Ansprüche der Indianer geprüft. Es ist einigermaßen verblüffend, daß die Regierung ihnen grundsätzlich ein Recht zugesteht auf das Land des amerikanischen Kontinents. Im Grunde könnten die rund 500 000 Indianer, die in den Vereinigten Staaten leben, also Entschädigungen verlangen für das ganze riesige Gebiet, auf dem heute mehr als 180 Mill. Menschen leben.

    Ganz so ist es natürlich nicht. Der einzelne indianische Kläger muß nachweisen können, daß seine Vorfahren und deren Stamm ein bestimmtes Gebiet bewohnt haben. Meistens liegt das westlich des Mississippi. Die großen Indianerreservationen befinden sich in den Staaten Oklahoma, Arizona, Neu-Mexiko, in den großen Wüsten- und Berggebieten der Vereinigten Staaten.

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