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Der Sonderling
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eBook489 Seiten6 Stunden

Der Sonderling

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Über dieses E-Book

Nachdem Karl Simpel am Ende seines ersten Abenteuers in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde, schreibt er dort einen Bericht über seine Zeit in der Anstalt und seine Flucht aus dieser. Diese Zeit von 1948 bis 1955 ist eine abenteuerliche und beinhaltet Aufenthalte auf Bauernhöfen, weitere Fluchten und Gefängnisaufenthalte. Und all das, obwohl er noch ein Teenager ist. Wie Karl all dies geschafft hat? Nun, das steht in seinem Bericht.Wie der Name schon verrät, ist die Hauptperson dieser Trilogie Karl Simpel. Als eine Art schwäbischer Till Eulenspiegel sieht er die Welt durch seine ganz eigenen Augen und muss daher immer wieder lernen mit den Situationen umzugehen, die sich ihm präsentieren. Insbesondere die politischen Phasen, wie den Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands, erlauben ihm immer wieder zu lernen und zu wachsen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum22. Juli 2019
ISBN9788711731390
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    Buchvorschau

    Der Sonderling - Wilhelm König

    www.egmont.com

    Drei Hirten berieten sich, denn die Herden waren ihnen in weite, dunkle Täler geflüchtet.

    Da kamen am Abend drei Wanderer des Weges: Der Weise, der Narr und der Starke.

    Der eine lobte den Himmel, der andere pries sein Fressen, und der letzte prahlte mit seinen Muskeln.

    Als die Hirten sie fragten, was sie tun sollten, flüsterte der Weise: »Locke sie mit Salz herbei!« Der Narr rief: »Hetze ihnen die Hunde nach! Mach ein Geschrei!« Der Starke schrie: »Schlage das eine tot; dann folgen dir die andern willig!«

    Nun, was taten sie? Welche Worte haben die drei Hirten wirklich gehört?

    Gefundene-erfundene Fabel aus den »Notizen« des Karl Simpel

    »Wir stecken seit einigen Tagen in feuchtem Herbstnebel. Wenn ich in der Früh in Königstein zum Omnibus gehe, ist um mich her ein Trippeln von lauter Vogelfußen. Es sind die fallenden Blätter. Manchmal schaue ich mich um, weil ich meine, jemanden hinter mir gehört zu haben. Es ist dann aber niemand da.«

    Peter Suhrkamp, aus: Hermann Hesse / Peter Suhrkamp, »Briefwechsel«

    Vorwort des Herausgebers

    Als Schriftsteller und als Großneffe des verstorbenen Kriminalhauptkommissars Rudolf Maier mit der Verwaltung seines literarischen Nachlasses betraut, stieß ich bei der Sichtung seiner Unterlagen zum »Fall Karl Simpel« auf ein Manuskript, das uns in den weiteren Lebensweg jenes bemerkenswerten, inzwischen verschollenen schwäbischen Dorfdackels namens Karl Simpel führt, der 1948, im Alter von 14 Jahren, zwei ehemalige Nazis, den Bürgermeister und den Ortsgruppenleiter der NSDAP seines Heimatdorfes am Fuße der Schwäbischen Alb, erschossen hat und dann in eine Heil- und Pflegeanstalt (Zwiefalten auf der Schwäbischen Alb) eingewiesen wurde.

    Der Verfasser des nachfolgenden Berichts ist Karl Simpel selbst. Er hat in Zwiefalten und später im Gefängnis lesen und schreiben gelernt. Das Manuskript ist durch Simpels Mutter in unsere Hände gelangt. Sie schickte alles, zusammen mit einem verteidigenden Begleitbrief – »zu Händen Herrn Kommissars Maier, hier« – an die Stuttgarter Kriminalpolizei, bei der Maier zuletzt tätig war und wo er den behinderten Buben verhörte. Die Polizei leitete das Päckchen schließlich an Herrn Maier weiter, der es aber nicht mehr beachtete.

    Simpels Bericht umfaßt in etwa den Zeitraum von 1948 bis 1955, also die Zeit von seiner Einweisung nach Zwiefalten, über seine Flucht von dort durch die ganze Bundesrepublik bis zu seiner vorläufigen Heimkehr in das Dorf im Februar 1955. Dazwischen liegen weitere Fluchten und Aufenthalte auf Bauernhöfen, in Gefängnissen und Heimen.

    Mit dem Niederschreiben seiner Erlebnisse geschieht auch Verarbeitung, Bewußtwerdung. Simpel zeichnet seine Entwicklung vom unzurechnungsfähigen geistig Behinderten zu einer bewußten Person nach, doch zugleich wird auch seine Auseinandersetzung mit Deutschland, mit dem Deutschland der fünfziger Jahre, mit dem Nachkrieg und der unbewältigt verdrängten Vergangenheit deutlich. Das macht dieses Buch wichtig für uns: Aufarbeitung des Nachkriegs, der Jahre, die unsere ganze Existenz als Bundesrepublik Deutschland (und als DDR) entscheidend prägten, tut uns allemal not. Hier sehen wir die heute oft nostalgisch verklärten und modisch vermarkteten fünfziger Jahre aus einem völlig anderen Blickwinkel. Es geht hier nicht um Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, um Rock’n Roll und Petticoats, um Nylonhemden und Bikinis: Simpels Geschichte spielt sich gewissermaßen auf dem Hinterhof Deutschlands ab, in den Bereichen des Lebens, die die Mehrzahl der Nachkriegsdeutschen verdrängt hat. Er lebt auf der Schattenseite, ein Behinderter und Sonderling unter Aufstrebenden, Erfolgreichen; einer, der sich der Wahrheit stellen muß, wo andere vergessen wollen.

    Das letzte Heim im Allgäu, in das er vom Gefängnis aus »zur Bewährung« eingewiesen wird, und aus dem er sich vorzeitig absetzt, stellt ein Panoptikum geschundener, verwaister und verkrüppelter Menschen aus dem ganzen großen, zerbrochenen Deutschen Reich dar. Hier treffen sie sich alle: Versehrte, Arm- und Beinamputierte; Epileptiker – im günstigsten Fall kommen sie zur Umschulung in einen neuen Beruf, weil der alte Beruf, eben aus gesundheitlichen Gründen, nicht mehr ausgeübt werden kann.

    So wie zuvor schon in den verschiedenen Verwahranstalten findet Karl in dem Heim alle möglichen Muster früheren oder künftigen Lebens. Paul zum Beispiel, Kriegsteilnehmer wie die meisten, armamputiert, Heimat Ostpreußen, abgebrochenes Studium; die Familie bis auf Reste verschollen oder versprengt.

    Oder der Doktor: Bürgermeister einer Gemeinde in Thüringen; im Krieg verschüttet, danach wieder ganz »Kind« – ein weiterer Sonderling!

    Doch gerade diese beiden werden Simpels wichtigste Gesprächspartner, und es ist besonders Paul, der durch alle Wirren hindurch eine gewisse Haltung – wenn auch nicht gerade verbindlich – bewahrt hat, die Karl nicht entwickeln konnte und die er nun braucht. Doch die Annahme dieses Vorbilds, dieser Vorbilder – positiv wie negative –, geschieht nicht ohne Widerspruch.

    Genauso anwesend und lebendig in Karl Simpels Bericht sind – wie in seinem bisherigen Leben – die Namen Maier und Hofer. Der letztere ist ein ehemaliger Lehrer in dem Dorf, der zuerst Berufsverbot erhielt, dann vermutlich von den Nazis beseitigt wurde — wie so viele Freunde, Lehrer und Vorbilder während der Naziherrschaft.

    Zum »Fall Karl Simpel« habe ich nichts Neues beizutragen. Die Tat, der Mord an den beiden Nazis in einem Tal des württembergisch-schwäbischen Voralblands, wurde zwar nicht restlos aufgeklärt, ist aber abgeschlossen. Meiner Ansicht nach kann der Fall nie restlos aufgeklärt werden. Das liegt an der Person oder an der Persönlichkeit des Mörders – nehmen wir weiterhin an, daß es Simpel allein war. Er ist selber ein Opfer: ein Opfer der Zeit und der Umstände; ein Opfer aber auch der Unfähigkeit anderer, »normaler« Menschen, mit der Zeit, mit den wirklichen Massenmördern und ihren Helfershelfern abzurechnen – in Stadt und Land, Hauptstadt und schwäbischem Land.

    Da wird diesem Kind eines Tages ein Gewehr in die Hand gedrückt — von irgendwoher. Von einem andern – von der Eingebung; von der Vorsehung; vom Schicksal! Wie friedlich hätte er doch dahinleben können; hätte seine harmlosen Streiche und Dummheiten weiter treiben können, und die Umwelt, die Dorfgemeinschaft hätte ihn gewähren lassen. Sie hätte seine Narreteien, seine nutzlosen und im Grunde niemand schadenden Spiele gebraucht als Gegenstück zu ihren, tatsächlich viel gefährlicheren, Normalitäten – zu ihrem wirklich nutzlosen Ernst.

    Zum Dackel ist Karl Simpel durch einen Schlittenunfall geworden, der ihn für die Volksschule untauglich machte. So mußte er nicht gerade zum Feldschütz in die Schule gehen, aber beim Zufall. Und ist dieses neue Leben als Schreibender nicht irgendwie ebenfalls Unfall und Zufall? Karl Simpel muß anders als wir frei werden von seiner Vergangenheit. Doch oft hat man den Eindruck, als befände er sich weiterhin in der Kanalisationsröhre, von der er Maier erzählt. Er ist damals zwar selber hineingestiegen in seiner Dummheit — oder in einem Moment geistiger Klarheit, die ihn andern, normalen Kindern imponieren hieß? Und er kriecht immer weiter in der dunklen Höhle voran, bis es heller wird. Er steht unter einem Schacht. Aber darüber warten schon die Kinder, lachen und verspotten ihn – »scheißen und saichen« auf ihn herab, wie Karl berichtet.

    Sein Schreiben ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg von der Dunkelheit und Dumpfheit – ist es nicht die Dunkelheit und Dumpfheit seiner Umwelt, die an ihm offenbar geworden ist? – zur wachsenden Bewußtwerdung. Auch Karls Sprache wird zunehmend klarer und politischer. Sein Schreiben ist ein Innehalten vor dem nächsten großen Schritt – einem Schritt hinaus aus der Heimat, einer politischen und geographischen Grenzüberschreitung.

    I

    Träume oder Der Blick zurück

    Seit ich wieder zu Hause bin, seit Frühjahr 1955, träume ich sehr viel, und ich kann oft gar nicht genau unterscheiden zwischen dem, was ich wirklich erlebt habe und dem, was ich nur träume. Jedenfalls ist das meiste vergangen, was ich hier erzähle. Ich blicke zurück – blicke zurück auf Wahres und Geträumtes. Alles kommt nun von sehr weit hinten auf mich zu wie eine große Welle, und ich weiß, daß sie mich verschlingen könnte. Und die Welle rollt auf mich zu, reitet über das Meer, über die See, schwillt immer mehr an: kurz vor meinen Füßen bricht sie zusammen. Das hilft mir aber nicht viel. Die Welle kommt immer wieder, und ich stehe dieselbe Angst immer wieder von neuem aus. Es ist die Angst vor mir selber: die Angst vor meinem Leben, jetzt und zuvor; in Zwiefalten und nach Zwiefalten. Wie in dieser Angst bestehen, gar weiterleben und womöglich ohne Angst? Vielleicht durch Schreiben? Im Augenblick sehe ich keine andere Möglichkeit. Zu sehr bin ich auf mich allein gestellt.

    Wenn ich das äußere Bild meines Schreibens beschreiben sollte, so würde ich sagen: Rückwärts gehend und gebückt komme ich aus meiner Geschichte heraus. Dabei schreibe ich auf den Boden, male Zeichen, die die Gespenster – die Geister, die Hexen – nicht überschreiten können.

    Tragen oder ertragen muß ich schon wieder viel. Nicht daß man mich verspottet; daß mir die Kinder nachlaufen oder nachschreien – schwätzen werden sie über mich, vor allem die Erwachsenen. Aber das meine ich nicht mit Ertragen. Ich meine das Ganze – das Dorf an sich; die Zeit. Alles geht weiter, als ob nichts geschehen wäre. Keiner hat etwas gesehen und gehört – und etwas Unrechtes getan oder geduldet hat gleich gar keiner von denen. Und am wenigsten hatten unsere Gefangenen, die jetzt nach Hause kommen, mit den Nazis etwas zu tun. Das will ich ja noch glauben. Sie wurden in der Hauptsache eingezogen, und wenn sie da, im Ausland oder fern im Reich etwas Böses angestellt hätten, dann hätten sie die Russen oder Amerikaner noch länger behalten. Also, was will man?

    Und die, die den Krieg in der Heimat verbracht haben? Auch nichts! Da hat keiner eine Uniform getragen, eine Fahne geschwenkt oder Heil Hitler gebrüllt – alle nur »Grüß Gott«, »Grüß Gott«: »Jo, wennen sieh«, soviel hat einer allenfalls noch riskiert.

    Überhaupt: wo sind die vielen Uniformen und Fahnen alle hingekommen? Zerschnitten, umgearbeitet zu bunten Sommerkleidern und Säcken – so muß ich mir das vorstellen. Und ich muß mir weiter vorstellen, daß ich mit meiner »Tat« 1948 zwischen allen Stühlen sitze und zwischen allen Lagern stehe: zwischen denen, die vergessen wollen und denen, die nicht vergessen können sowie zwischen denen, die vergessen haben und denen, die sich wieder erinnern wollen. Ich will mich ja auch wieder erinnern – doch zugleich möchte ich vergessen, freilich möchte ich erst dann vergessen, wenn ich verstanden habe. Bei allen andern kommt das zum Leben oder zum Glück dazu: bei mir ist es aber das Leben – und das Glück!

    Wörter oder Schreiben und lesen können

    Ob das Schreiben-und-lesen-Können nun ein Fluch oder ein Segen ist, das wird sich weisen, hätte mein Ahne, der Vater meiner Mutter in dem kleinen Dorf über dem Tal gesagt – und das sage ich jetzt auch! Auch Xaver, der in der Hütte bei Zwiefalten wohnte und vielleicht noch wohnt, von dem ich viel gelernt habe, war dieser Meinung. Xaver hat mir vor allem viel erzählt: von der Welt draußen, vom Krieg und von Abenteuern. Xaver sagte: »Es hat Kulturen gegeben in der Menschheitsgeschichte, die haben keine Schrift gekannt – die Indianer zum Beispiel, und es hat hohe Kulturen gegeben, die haben eine sehr hochentwickelte und komplizierte Schrift gehabt – die Azteken und andere: Alle sind sie untergegangen oder können jederzeit untergehen.«

    »Auch Deutschland?« fragte ich dann. »Deutschland?« fragte er zurück. »Das ist doch schon untergegangen; es schwimmt nur noch über Wasser. Und an diesem Untergang sind wir selber schuld. Wir hätten uns niemals mit den Italienern und so Feiglingen einlassen dürfen, dann wäre der Krieg anders ausgegangen!« Xaver war Soldat, und er hat damals den Duce, den Führer der Italiener, zusammen mit anderen aus seiner Gefangenschaft befreit. Das waren schon starke Stücke, die konnte nicht jeder vorweisen in Zwiefalten. »Aber egal, ob Deutschland untergegangen ist oder nicht«, fuhr er fort: »Solange du noch etwas von ihm auf dem Wasser schwimmen siehst, ist es besser, du lernst lesen und schreiben – damit du vom Untergang auch etwas mitbekommst.«

    »So ist das?«

    »Was?«

    »Ha, das: Schreiben und lesen lernt man hauptsächlich, daß man vom Untergang der Welt –«

    »– vom Untergang Deutschlands!«

    »Daß man vom Untergang Deutschlands etwas mitbekommt?«

    »So ist es!«

    »Das werde ich mir merken.«

    »Hoffentlich!«

    Xaver hatte im ganzen zwei Bücher, mit denen er mich traktierte, sobald er gemerkt hatte, daß ich noch nicht lesen und schreiben konnte und damit in der Anstalt, wo sie es mir auch mit Gewalt beibringen wollten, nicht genügend Fortschritte machte. Das erste Buch hieß: »Die Geschäftspraxis in Handel und Gewerbe« und hatte ein Kapitel über Schönschreiben und Rechtschreibung und eine große Zinstabelle am Schluß. Das zweite Buch hieß: »Württembergisches Realienbuch. Große Ausgabe. Bearbeitet auf Grund des Lehrplans für die württembergischen Volksschulen, Stuttgart 1912.« Ich habe ihn nie gefragt, woher er die Bücher hatte. Er hatte sie halt, und mehr brauchte er scheints auch nicht.

    Daß er ein Buch von Württemberg hatte, das wunderte mich schon: Denn er war ja nicht aus Württemberg, sondern von Bayern. Das sagte schon der Name Xaver. Xaver – so hat mein Ähne immer von einem gesagt, den er nicht leiden konnte oder der nicht gerade viel vorstellte in der Gesellschaft. Und dann war er sowieso katholisch – bei dem Namen kein Wunder!

    Zwiefalten – ich bin ja da nicht in einem »grauen Omnibus« hingekommen, also in einem jener Fahrzeuge, in denen während des Krieges die Dackel und Geisteskranken dort eintrafen. Sondern im gleichen schwarzen Auto – oder auch nur in einem ähnlichen, ich kann das heute nicht mehr so genau sagen –, in dem ich mit dem Kommissar und seinen Polizisten zum Ortstermin in das Dorf fuhr.

    Daran erinnere ich mich seltsamerweise heute noch genau. Wir fuhren durch ein großes Tor. Wir stiegen aus und kamen in ein großes Haus. Dort wurde ich von Männern und Frauen in weißen Kitteln in Empfang genommen. Sie waren alle sehr freundlich. Einer der weißbekittelten Männer zeigte mir mein Bett in dem Zimmer, in dem noch andere Better standen, und dann sagte er, ich solle mich ausziehen. Ich müßte oder dürfte zum Baden. Au ja, sagte ich: gegen das Baden hatte ich nichts. Ich hatte Wasser, warmes Wasser, gern. Vorher würden mir noch die Haare geschnitten, sagte der Mann; ich brauchte keine Angst zu haben. Nein, nein; ich hätte keine Angst, sagte ich. Und auch der Frisör war sehr freundlich; er fragte mich, woher ich komme und wie ich heiße. Und ich erzählte ihm alles, und der Frisör lachte und sagte immer nur ja, ja – ja, ja! Und ich sagte zuletzt auch nur ja, ja – ja, ja! In diesen Worten steckte viel und nichts.

    Und man sagte mir noch, ich brauche keine Angst zu haben; meine Mutter wüßte, wo ich sei, und sie würde mich auch bald besuchen. Das beruhigte mich wirklich. Und so schlief ich auch sehr tief in dieser Nacht.

    Am anderen Morgen wurde ich früh geweckt und in das Zimmer eines ebenfalls weißbekittelten Mannes gebracht. Aber der mußte etwas Höheres sein; denn die anderen verhielten sich ihm gegenüber sehr ehrerbietig. Auch dieser Mann war freundlich zu mir; fragte mich, wie es mir gehe und wie ich mir die Zukunft vorstelle.

    »Ha?« fragte ich.

    »Na, ja!« Der Mann wurde verlegen: »Ich meine, hast du schon mal einen Wunsch gehabt?«

    »Ein Fliegerabzeichen«, rief ich.

    »Nein, das meine ich nicht. Hast du dir schon mal einen Beruf gewünscht?«

    »Schreiner!«

    »Schreiner? Na bitte; das ist doch schon etwas. Und möchtest du alles lernen – rechnen, lesen, schreiben?«

    »Alles!« schrie ich.

    »Das ist fein. Dann werden wir dich in die Schreinerei geben und anschließend und zwischendurch kommst du immer wieder in die Schule.«

    »Zu Herrn Hofer?« fragte ich.

    »Wer ist Herr Hofer?«

    »Ein Lehrer.«

    »Nein, wir haben hier keinen Lehrer Hofer. Aber wir haben andere Lehrer, die dir das Nötige beibringen werden.«

    »Fein; kann ich gleich hin?« erkundigte ich mich.

    »Sofort«, rief der Mann. »Herr Schneider?«

    Ein weiterer Weißbekittelter stürzte herein: »Bringen Sie den Buben zu Meister Kranz. Er soll ihn sich ansehen und sagen, ob er ihn in der Schreinerei gebrauchen kann.«

    »Jawoll«, sagte der andere.

    »Also, mein lieber Simpel ... ich hoffe, es gefallt dir hier?«

    »Ja, das hoffe ich auch, Herr Professor.«

    »Direktor bitte! Aber wenn du willst – auch Professor!«

    »Jawoll, Herr Führer!«

    »Führer?« Der Direktor drohte mir mit dem Finger – »ich habe deine Geschichte gelesen: komme mir nicht auf diese Tour!«

    Der Meister Kranz war ebenfalls nicht ohne. Er war bis jetzt der einzige, der keinen weißen Kittel trug – vielmehr eine blaue Schürze, so wie es sich für einen Schreiner gehörte. Er fragte nicht viel, schaute mich nur an, wies auf eine Hobelbank und sagte: »Da!«

    »Ha?« fragte ich wieder.

    »Nimm den Hobel in die Hand.«

    »Was für einen Hobel?«

    »Der da über dir in dem Kasten hängt.«

    »Aber da hängen mehrere ...«

    »Dann nimm einen – Simpel!«

    »Gut! Und jetzt?« fragte ich, sah mich auch um, wer mich da noch beobachtete.

    »Nimm das Brett, spanne es ein und hoble.«

    »Sie verlangen aber Sachen, Herr Kranz.«

    »Willst du Schreiner werden oder nicht?«

    »Ich will!«

    »Na also! Dann spann ein und hoble.«

    Einspannen – und hobeln! Au – Ich rutschte mit dem Hobel ab. Das Brett stürzte zu Boden. Herr Kranz und der andere lachten.

    »Komm«, hatte der Meister schließlich Mitleid, »ich will dir das Brett einspannen. Aber hobeln und den Hobel halten mußt du allein.«

    »So«, sagte der Meister wieder: »Und jetzt komm da rüber.«

    »Was ist da?« fragte ich.

    »Maul halten, ich erkläre es dir sofort! Das ist der Leimofen. Da sind die Leimhäfen und darunter hängen die Zylinder, die mußt du jeden Morgen mit Hobelspänen vollstopfen.«

    »Mache ich glatt!« sagte ich.

    »Und jetzt da rüber«, zog mich der Meister fort. Der andere folgte, als sei er an mich angebunden. Wir standen vor einer Maschine: »Was steht da?« fragte der Meister.

    »Wo?« grinste ich.

    Herr Kranz schaute den anderen an, antwortete dann, nachdem dieser mit den Schultern zuckte, sich selber: »Ach so, kann nicht lesen. Das gehört natürlich dazu, Herr Menk. Das ist Ihre Aufgabe. Schreiben natürlich auch.«

    Herr Menk, so hieß er also, der andere, nickte eifrig mit dem Kopf. Der Meister fuhr fort: »Du mußt über alles einen Bericht führen: das ist Pflicht – für die Prüfung!«

    »Pflicht? Prüfung?« fragte ich und schaute von einem zum andern.

    »Das wär’s ja wohl für das erste«, erklärte Herr Kranz und drehte sich einfach weg. Ich war mit Herrn Menk allein. Er führte mich wieder in den Hof und sagte: »Geh ein wenig spazieren; um zwölf wird gegessen.«

    »Jawoll«, sagte ich. War er mir nun böse? Was hatte ich gemacht? Ich wollte doch Schreiner werden. Und ich wollte alles lernen – lesen und schreiben.

    Ich wurde dann auch untersucht, vorn und hinten abgeklopft, kam unter eine Maschine, die meine inneren Bewegungen registrierte, und ich traf nur auf zufriedene Gesichter. Ich war gesund, hieß es; das dauerte nur einige Jahre, bis ich völlig gesund war, war damit gemeint.

    Dieser Meister Kranz kostete mich dann schon Kraft. Er war ein Dickkopf. Und ich auch. Wir waren nicht die einzigen in der Schreinerei. Außer uns waren noch andere von der Anstalt und Gesellen von draußen da.

    Aber alle bleiben blaß. Bis auf den Meister. Er dirigierte mich an den Leimofen, wies mir die Hobelbank an und hieß mich zinken. Und ich zinkte zunächst ohne Sinn, dann aber Schubladen. Und er schaute sie sich an – zufällig vor dem Leimofen – und schüttelte den Kopf.

    »Was ist das?« fragte er.

    »Was?« fragte ich zurück.

    »Das soll halten?« sagte er.

    »Das hält«, sagte ich.

    »Das hält nicht«, schrie der Meister, warf die Schublade, die ich einige Tage lang mühsam zusammengezinkt hatte, zu Boden und rannte weg.

    Im gleichen Augenblick – Gesellen und andere Lehrlinge schauten zu – stürzte ich mich auf die Schublade, ergriff sie und warf sie dem Meister hintendrein. Dazu noch eine Schraubzwinge, die gerade daneben lag. Nichts traf. Zum Glück, sage ich heute. Trotzdem wurde ich von Wärtern ergriffen und in eine Zelle gebracht. »Es ist nichts«, wehrte ich mich.

    »Es ist nichts«, sagte auch der Direktor. Ich wollte es nie mehr tun, versprach ich. Und das war mir ernst. So schnell wie möglich lernen, sagte ich mir; so schnell wie möglich gesund werden – und so schnell wie möglich raus, egal wie! Das hier war nicht meine Welt; vielleicht hatte ich mal dazugehört – nun aber nicht mehr. Nun wollte ich auch nicht mehr.

    Und im Laufe der Zeit sind immer mehr Leute von draußen gekommen, und ich habe gelernt, zu unterscheiden zwischen Leuten von draußen und drinnen, und ich wollte raus, ich wollte aber auch von drinnen so viel wie möglich mit herausnehmen. Da kamen Leute zu Besuch, zur Besichtigung, starrten uns an, nahmen die Parade ab, und ich wurde immer ärgerlich. Warum bin ich hier? Warum starren die mich so an? Was habe ich getan? Warum wirft man mir das immer noch vor? Und ich wurde befragt und weiterhin abgetastet, und ich gab Auskunft und schwieg. Und ich lernte, das war es vor allem: ich suchte nach Leuten, die mir helfen konnten. Und weil ich mich so gut benahm, nicht auffiel, nicht störte, durfte ich raus – hatte freien Auslauf wie ein Schaf, wie eine Kuh, wie ein Pferd. Und ich wollte das nicht ausnützen – oder doch ausnützen: ich wollte zeigen, daß ich es verdiente.

    Dann bekam ich auch Besuch von meiner Mutter. Sie hatte mir zu essen mitgebracht, gerauchte Schinkenwurst und Brot; Äpfel und Schokolade –

    »Kriegst du auch genug zu essen, Bua«, fragte sie.

    »Jo, Mamma«, anwortete ich.

    »Läßt man dich auch raus?«

    »Jo! Jeda Daag.«

    »Ond wo gohscht noo?«

    »Ich gang spaziera. Oder bsuach da Xaver.«

    »Wen?«

    »Xaver! Des ischt a Einsiedler em Wald. Der verzehlt mir sehr viel.«

    »Glaub et älles, waanr sait, Bua. Du woischtjo, wia se schwätzet, dia verzehlat so viel: aber wenn de nooguggescht, no ischt ällas verstonka ond verloga.«

    »Der hot a Hütte em Wald.«

    »Wissat des dia Herra en dr Anstalt?«

    »Dia wissat des.«

    »Ond duldats?«

    »Ond duldats – sagat sogar, des ischt guat.«

    »No willi ao niggs saaga. Do, i hao dr äbbes mitbroocht. Des mogscht doch: grauchta Schenkawurscht ...«

    »Ha jo! Nadierlich moge des. Danke, Mamma!«

    Xaver oder Ich, du, er, sie, es

    Bis ich dahinter kam, daß er auch einer von uns war und in die Anstalt gehörte, da verging einige Zeit. Mehrmals hatte ich ihn schon vor seiner Hütte im Wald am Ortsrand schaffen sehen: er beigte Holz, hängte Wäsche auf und reparierte grad ein Fahrrad, mit dem er scheints seine Ausflüge machte. Ich traute mich nicht sofort zu ihm hin, sondern verschlupfte hinter einer Holzbeige und beobachtete ihn. Das sah alles ganz normal aus; wenn er keinen Besuch bekam, dann war das auch nichts besonderes.

    Vielleicht wollte er von den Leuten nichts wissen, so wie ich: ich verließ die Anstalt so oft es mir erlaubt war und streifte lieber durch die Wälder, als mir ständig die anderen Dackel anzusehen.

    Dann aber faßte ich mir doch ein Herz und stellte mich vor ihn hin: »Ich heiße Karl, und wie heißt du?«

    »Xaver!«

    »Xaver? Woher kommst du?«

    »Woher kommst du, das sollte ich dich erst fragen!«

    »Ich frage aber dich, weil ich komme aus der Anstalt.«

    »Ich komme aus Bayern.«

    »Bayern?«

    »Kennst du das nicht?«

    »Nein. Woher soll ich das auch kennen? Was ist das?«

    »Das ist ein Land, so wie Württemberg – aber viel schöner!«

    »Viel schöner?«

    »Ja – zum Donnerwetter!«

    »Wie kommst du dann hierher?«

    »Durch den Krieg, du Simpel!«

    »Simpel? Woher kennst du meinen Nachnamen? Ich habe dir doch nur den Vornamen gesagt?«

    »Simpel – so sagt man doch hier! Jetzt aber red nicht so viel; komm rein. Gleich beginnt die Vorstellung!«

    »Was für eine Vorstellung? Hast du denn ein Kino in deiner Hütte?«

    »Red nicht, sage ich – komm!« Xaver zog mich fast gewaltsam in seine Hütte. Mensch, hatte der einen Griff – ich wollte geschwind schreien, denn es tat mir weh. Ich unterdrückte den Schmerz aber nochmal. Denn was ich nun sah, das beschäftigte mich mehr: Die Hütte war innen eingerichtet wie ein kleines Wohnzimmer mit einem Bett, einem Tisch, einer Lampe unter der Decke und einem kleinen Ofen gleich neben der Tür.

    »Da, setz dich hin«, sagte Xaver und deutete auf das Bett unter dem Fenster.

    Ich hockte mich brav hin. Xaver ging zur gegenüberliegenden Wand und zog ein Leintuch mit einem Ruck auf die Seite. Dahinter kam nun eine Landschaft zum Vorschein: sie zeigte eine grüne Wiese mit einem blauen Himmel darüber, und in dem blauen Himmel schwammen zwei winzige weiße Wölkchen. Das Bild war auf die Bretterwand gemalt; vielleicht hatte Xaver das selber gemacht. Er band das Leintuch mit einer Schnur an einen Nagel, damit es nicht vorzeitig wieder über das schöne Bild fiel, und setzte sich neben mich.

    »Und jetzt?« fragte ich.

    »Staad! Halt dei Gosch; gleich geht’s los. Siehst?«

    »Noi? Wo?«

    »Da! Dort hinten; gleich kommt der erste Panzer über den Berg ... und da ist schon das erste Flugzeug!«

    »Ja, ja – du hast recht, Xaver! Jetzt seh ich es auch. Dees kommt aber tief!«

    »Tiefflieger!« stöhnte Xaver.

    »Panzer! Ond do, die Häuser ... Wo kommet denn zmal die viele Leut her? Ond jetzt brennts! Om Gottas willa — dia Leit! Xaver, dia Leit – die send älle verlora!«

    »Dadada! Peng! Huh! ... Sirenen! Geh in Deckung, Simpel!« Xaver hatte sich richtig in die wahre oder eingebildete Situation hineingesteigert. Er schnaufte wieder und sagte: »Jetzt kannst du wieder aufstehen! Sie sind alle weg.«

    »Schad om die Wiesa ond Beem; älles hee vo dene verreckte Panzer ond Bomba«, sagte ich.

    »Aber wir haben gewonnen!« entgegnete Xaver.

    »Alle die Schoof; die viele Gäul – ond die Menscha: Sag mol, Xaver, goht dees jedes Mol von dem Bild weg?«

    »Da siehst du nachher nichts mehr. So als wenn nichts gewesen wär: Schwamm drüber und weg, verstehst du, ganz wie im Leben. Aber ich will dich nicht anlügen: die Putzarbeit machen andere für mich.«

    »Wer?« wollte ich ernsthaft wissen.

    »Das sage ich dir ein andermal. Jetzt aber – Vorhang zu und die Frage: hast du Durst?«

    »Ja, und wie! I han scho a ganz babbiga Zong!«

    »I hob aber nur Moscht ...?«

    »I mog Moscht! Brauchscht aber koine Gläser: i trenk ausem Krug, so wie mei Vadder!«

    »Dei Vadder – wo ist der?«

    »Gfalla!«

    »Gefallen? Das ist doch eine Ehre, für das Vaterland – für Führer, Volk und –«

    »– Vaterland zu fallen! Ich weiß, so hat es geheißen! Mei Mutter hot dees aber et so gsäha.«

    »Es hat im Krieg oft mehr Feinde hinter der Front gegeben, an der sogenannten Heimatfront, wie davor.«

    »So eine aber war meine Mutter nicht, ist sie auch heute noch nicht: Sie ist keine Verräterin!«

    »So meine ich das nicht, Simpel! Mein Vater lebt noch. Aber mit dem kann i über so äbbes ao net schwätza.«

    »Kannscht du ao schwäbisch?«

    »A bißerl!«

    »Aber net viel.«

    »Vielleicht lerne ichs noch. Man kann alles lernen, wenn man nur will.«

    »Auch lesen und schreiben?«

    Xaver stellte sich direkt vor mich hin und schaute mich von oben herab an: »Willst du damit sagen, du kannst noch nicht lesen und schreiben?«

    »Nein! Das heißt ja. Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Ich habe es nie gelernt ...«

    »Das muß aber sofort aufhören.«

    »Die en dr Anstalt moenet dees ao.«

    »Anstalt?«

    Xaver drehte sich herum, machte einen Schritt auf einen kleinen Kasten an der Wand zu, öffnete ihn und entnahm ihm einen offenbar vollen Mostkrug. Und in dieser Bewegung wiederholte er, fast spöttisch: »Anstalt? Kenne ich nicht. Also dann trinken wir erst einmal. Prost, Karl!«

    Xaver setzte an, und der Adamsapfel hüpfte an seinem Hals auf und ab. »Jetzt du«, sagte er und streckte mir den Krug hin – er war nicht so schwer wie der damals vom Schäfer. Aber vielleicht täuschte ich mich. Vielleicht war ich inzwischen nur stärker geworden.

    Und an den Schäfer mußte ich jetzt denken: der wohnte damals in seinem Karren nicht so bequem wie jetzt der Xaver. Und natürlich fiel mir auch der Hund ein: der tät zur Hütte und zum Wald passen.

    »Prost, Xaver«, sagte ich.

    »Also saufen kannst – vielleicht auch Bier?«

    »Auch Bier, wenns sein muß. Aber nicht so viel.«

    »Bevor ich da her kommen bin, habe ich ja nur Bier getrunken. Und ab und zu Zigorekaffee.«

    »Zigorekaffee?« hakte ich ein: »Den hat meine Mutter auch gemacht. Der schmeckt aber nicht so gut. Sag mal, Xaver, habt ihr in Bayern denn keinen Most – dann brauchtet ihr nicht so viel Bier trinken?«

    »Ich weiß nicht – vielleicht im schwäbischen Bayern. Im Allgäu und im Donauried.«

    »Habt ihr auch keine Äpfel?«

    »Freilich haben wir Äpfel. Wir haben doch Bäume – da werden wir doch auch Äpfel haben, Simpel!«

    »Und was macht ihr dann mit den übrigen Äpfeln?«

    »Essen, du Simpel! Apfelkuchen backen und Apfelbrei ...«

    »Das machen wir auch – Apfelkuchen und Apfelbrei! Aber man kann doch nicht von allen Äpfeln Apfelkuchen backen – Apfelbrei vielleicht, wenn man genug Zucker hineintut. Aber da gibts Apfel- und Birnensorten bei uns, da kannst du nur Most machen!«

    »Bei uns nicht! Oder – ach, ich weiß nicht! Jetzt aber bist ruhig von deinem Most, von deinen Äpfeln und Birnen, und trinkst! Gib her: ich bin wieder dran!« Xaver machte eine Pause; er schien zu überlegen. Dann fuhr er fort, immer noch hoch über mir, denn ich war beim Trinken sitzen geblieben:

    »Wenn du brav bist, erzähle ich dir nachher auch noch etwas. Ich bin ja viel rumgekommen in meinem Leben –« Jetzt drehte er sich doch weg, schlurfte zur Filmwand hin und ließ das Leintuch drüberfallen. Das Bild war die ganze Zeit geblieben, doch keiner hatte mehr hingeschaut. Auch jetzt interessierte es mich nicht mehr. Ich lauschte gespannt dem, was Xaver mir jetzt weiter erzählen wollte.

    Er lehnte sich gegen die Wand und schaute mit den Augen irgendwohin: » ... rumgekommen! Viel! Nicht nur in Bayern und Württemberg. Ich war in Italien – bei diesen Zigeunern! Ich war in Rußland, Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei ...«

    »Tschechoslowakei?« murmelte ich ehrfürchtig. Xaver trat unruhig auf der Stelle, schien jemand anders zu sehen und zu hören. Das gab mir Gelegenheit, den Mann näher zu betrachten. Er war nicht jung und nicht alt – ehrlich gesagt, hatte ich bis dahin keine Vorstellung von Jugend und Alter, was wohl wiederum in meinem Fall normal ist.

    Aber soviel nahm ich wahr: Er hatte graue Locken auf dem Kopf – Rollen, wie wir sagen! Er hatte sich nicht rasiert; er hatte aber auch keinen Bart: die Haare im Gesicht waren wohl schon immer so lang. Und nicht nur beim Trinken, auch beim Reden und Denken – so wie jetzt – sprang sein Gurgelknopf an ihm hinauf und hinunter: wie ein Hund – wie Harras ... Aber so groß ist er doch nicht. Xaver machte ein paar Schritte, blieb stehen, sah mich an, machte das Maul auf und wollte etwas sagen. Aber es kam nicht heraus. Dann fiel mir nichts anderes ein als ihn zu fragen:

    »Sag mal, Xaver, bist du katholisch?«

    »Ob ich katholisch bin?«

    »Du hast so ein silbernes Kettchen mit einem Kreuz um den Hals.«

    »Ach so, das? Ja, ja, ich bin katholisch. Warum fragst du?«

    »Ich frag halt. Ich bin evangelisch, hat meine Mutter gesagt – und haben meine Ahna und mein Ahne gesagt, und so sagt der Pfarrer.«

    »Dann wirds stimmen! So«, änderte Xaver seinen Ton, ergriff den nun leeren Mostkrug und stellte ihn wieder in das Kästchen hinein: »Dann haben wir das auch geklärt. Noch etwas?« fragte er.

    »Nein! Oder doch – i muaß hoim! Sonscht suachat die mi. I komm aber wieder, gell?«

    »Mit Bleistift und Papier«, grinste er. »Das ist wegen der Nachricht, die du mir an der Tür hinterlassen mußt, wenn ich nicht da bin. Und ich bin öfters nicht da; muß weg, muß raus – in den Wald!«

    »Gut! Wenn du an dem einen Tag nicht da bist, dann komme ich am nächsten Tag.«

    »Dann kommst am nächsten Tag. So machst es, Simpel!«

    »Ade«, sagte ich.

    »Servus«, hörte ich ihn noch antworten und setzte mich in großen Sprüngen Richtung Anstalt ab.

    Die Grundrechte jedes Deutschen oder Schwierigkeiten beim Schreiben

    Beim Schreibenlernen hatte ich natürlich meine Schwierigkeiten, vorher schon in Zwiefalten und nachher noch im Gefängnis, in der »Burg«. Die Lehrlinge mußten alle in die Berufsschule. Das waren zwei Räume neben der Verwaltung beim Tor. Zweimal in der Woche kamen wir hier zusammen: Die Schreiner, die Sattler, die Schlosser, die Schuhmacher. Und von draußen herein kamen die Lehrer und übten mit uns den Stoff. Eine Anstrengung war es auch für die Lehrer: die mußten auch. Aber wenn einer nur muß und nicht will, und der andere will nur, kann aber nicht – weil der andere nicht so richtig mitmacht –, dann ist es auch nichts!

    Es war aber auch manchmal zum Verzweifeln. Es gibt Wörter und Buchstaben, die liegen mir wie Steine im Maul; sie kommen erst gar nicht in meinen Magen, wo sie ihr Gewicht nur vergrößern würden. Sie bleiben mir im Maul, aber ich kann sie nicht ausspucken oder beißen. Lange Zeit konnte ich nicht einmal richtig Württemberg mit »m« schreiben; ich habe immer Württenberg mit »n« geschrieben. Das konnte mir der Lehrer hundertmal ankreuzen – ich habs einfach nicht gefressen! Das Schlimme war, der Lehrer stammte nicht einmal von Württemberg – aber er wußte, wie man es richtig schreibt.

    Und dann war da noch das Wort Alb wie Schwäbische Alb. Daß es auch Alpen gibt und daß die nicht mit einem weichen, sondern mit einem harten »p« geschrieben werden, das habe ich lange nicht gewußt. Dabei seien die noch viel höher wie die Schwäbische Alb, und Schnee hätte es da das ganze Jahr; vielleicht komme ich in meinem Leben noch da hin, dann

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